Erdrandbewohner

Inhaber einer Siegerurkunde der Bundesjugendspiele 1985

Jaaaa, ich weiß: Ihr denkt jetzt, der Erdrandbewohnner meint aus irgendeinem Grund, mit einer reißerischen Überschrift Clickbait betreiben zu müssen.

Nö.

Okay. Aber vielleicht nur ein bisschen

Lasst mich erzählen. Also. Ich war gestern auf einer kleinen Familienfeier. Jemand hatte Geburtstag, und da es nix Rundes war und wir Mittwoch hatten, lud uns das Geburtstagskind zur gemütlichen Völlerei am Mittags-Buffet im vielleicht besten chinesischen Restaurant der Stadt ein.

Dort saßen wir nun, am runden Tisch, mitten drin in den dann doch recht gut besuchten Räumlichkeiten. Während wir mampften und erzählten, checkte meine undiagnostizierte ADHS-Schwester (ich bin mir sowas von sicher, schließlich entstammen wir einer traditionsreichen neurodivergenten Familie mit vielen diagnostizieren und nicht diagnostizierten ADHSler:innen und Autist:innen) ihre Nachrichten. Sie war wegen der Lautstärke und den Tischgesprächen wohl nicht ganz bei der Sache und tippte so nervös wie versehentlich auf ein Video.

“AHH! AH! AH! GIBTS MIR! JA, TIEFER! AHHH! SEHR GUT! ICH KOMME! JAAAA! AHHHHH! AHHHHH!”

Nun, ich wusste gar nicht, dass ihr Smartphone so gute, klare und durchdringende Lautsprecher hat. Ich muss sie bei Gelegenheit mal nach dem Hersteller fragen.

Während das Gehirn meiner Schwester noch versuchte, diese Ungeheuerlichkeit zu begreifen, reagierten die anderen Gäste um uns herum praktisch sofort und schauten sich suchend und grinsend nach der Quelle der anstößigen Geräusche um.

Endlich erfasste auch das Hirn meiner Schwester die Situation und handelte sofort: Sie bekam knallrote Ohren. Und mit etwas Verzögerung entschlüpften ihrem Mund empörte Worte: “Ey! Ey! Jetzt aber!!!”

“FICK MICH! FICK MICH! JA, JA, JA!!!!!”

So langsam sah meine Schwester ein, dass sie diese sozial unpassende Situation besser beenden sollte und versuchte deshalb abwechselnd durch wildes Tippen auf den Bildschirm und durch unkoordiniertes Drücken auf den Lautstärketasten wieder eine gewisse Normalität herzustellen.

Als ihr dann auch noch das Gerät aus den Händen glitt, sie aus lauter Hektik fast ihre Apfelsaftschorle umwarf, machte es offenbar “Klick” in ihrem feuerroten Kopf und sie wurde plötzlich ganz ruhig.

“Ich war das nicht!”, rief sie halblaut, traf mit ihrem Finger endlich das Pausen-Icon, richtete ihre Haare und verlor über diesen Vorfall kein einziges Wort mehr.

Ja, es dauert immer ein bisschen, aber dann ist meine Schwester eine coole Sau. ;–)

Das Kaninchenloch

Erste Rückblende:

2012, irgendwann zu Jahresbeginn: Ich sitze auf dem Sofa im Arbeitszimmer und sehe ein Video mit Christopher Lauer, damals Vorsitzender der Piratenpartei, in dem er erklärt, dass er ADHS hat und Medikinet als Medikament gegen einige der Symptome nimmt. Ich bin irgendwas zwischen elektrisiert und paralysiert, denn ich erkenne mich in sehr vielen von Christopher Lauer genannten Eigenschaften wieder.

Mir ging es zu dieser Zeit nicht gut. Ich war völlig erschöpft und sehr frustriert, fühlte mich auf so vielen Ebenen unfähig. Und obwohl es von außen betrachtet nicht stimmte, fühlte ich mich am Leben gescheitert. Das war mein Lebensgefühl, dass ich so oder so ähnlich seit meiner Kindheit her kannte.

Zweite Rückblende:

2012, vermutlich irgendwann im Frühsommer. Ich sitze in einem funktional-schlichten, weißen Arztzimmer meiner Psychiaterin gegenüber. “Ich will es gar nicht spannend machen, Herr Erdrandbewohner. Ich habe jetzt die ADHS-Testungen ausgewertet und ich sehe bei Ihnen ganz klar eine Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung. Bei Ihnen liegt die Gewichtung eher auf der Unaufmerksamkeit, aber sie haben auch nach innen gerichtete hyperaktive Anteile...”. Während sie mir das (und noch mehr) erklärt, fühle ich eine tiefe Erleichterung. Es gibt jetzt eine Erklärung. Das Kind hat einen Namen. Ich bin es nicht Schuld und ich habe mein Leben nicht in den Sand gesetzt. Ich habe „nur“ ADHS. Und von dem Blickwinkel aus betrachtet, habe ich unmenschliches in meinem Leben geleistet... Kurze Zeit nach der Diagnose habe ich meine Psychiaterin gefragt, ob denn klar sei, dass es ADHS sei. Denn beim Autismus gäbe es ja ähnliche Symptome. Sie meinte, dass sie bei mir deutliche autistische Anteile sieht. Aber ich solle erst einmal mit meiner ADHS-Diagnose klarkommen. Eine Autismusdiagnose könne ich später anstreben. Sie würde das nicht durchführen. Das sei sehr komplex und sie sei keine Expertin auf diesem Gebiet.

Dritte Rückblende:

12 Jahre später. 2024, im Frühjahr. Meine Liebste hatte Ende 2023 für sich den Verdacht auf Autismus. Seither fährt sie Achterbahn in Dauerschleife. In der Folge beschäftige ich mich erneut mit dem Thema. Obwohl ich seit über 10 Jahren mit Autist*innen arbeite, hinterfrage ich erstmals alle meine oberflächlichen Vorstellungen von Autismus und blicke völlig anders auf das Thema – und auf mich. ADHS und Autismus gleichzeitig? Ja, das gibt es.

Unter mir tut sich der Boden auf und ich falle in ein tiefes, tiefes Kaninchenloch…

Jetzt, in der Gegenwart:

Dieses Kaninchenloch, meine lieben Elfen und Feen, Gnome und Füchse, war nur der Eingang zu einer völlig anderen Welt. Ich schritt durch einen Torbogen, auf dem mich in glitzernden Buchstaben das Wort „Autismus“ begrüßte. In dieser seltsamen Welt macht sowohl plötzlich als auch nach und nach alles, aber auch wirklich ALLES in meinem Leben einen Sinn. Es ist so überwältigend, dass ich nicht nur den Boden unter den Füßen verliere, sondern auch fast all meine alten Überzeugungen und Sichtweisen. Vor allem aber zerbröselt mir meine Vorstellung von mir selber. Während mein altes Ich sich in einer rasenden Geschwindigkeit unter Schmerzen auflöst, setze ich mich an anderen Stellen neu zusammen. Und dieses Neu ist richtig. Es passt. Es fühlt sich zum ersten Mal in meinem Leben an, als könne ich mich wirklich sehen. Und ich habe zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl des Ankommens in meinem wirklichen Zuhause. In mir zu Hause zu sein, zu wissen, wer und was ich bin – das kannte ich bisher nicht. Über 50 Jahre lang lebte ich in einer mir feindlichen Welt, in der ich nur mit einem wahnsinnigen Kraftakt, mit besonderen Tricks und viel Glück überleben konnte. Wie so ein Außerirdischer, der auf einem Planeten mit giftiger Atmosphäre gestrandet ist und bei der Notlandung einen Gedächtnisverlust erlitt.

Natürlich bin ich ein Außerirdischer nur im übertragenen Sinn. Ich bin ein zutiefst neurodivergenter Mensch, der in der NT-Welt, der Welt der neurotypischen Menschen, leben und klarkommen muss. Das muss ich auch weiterhin. Nur mit dem Unterschied, dass ich jetzt mein wirkliches Zuhause kenne und mich bestenfalls entscheiden kann, wie viel Zeit und Kraft ich dieser NT-Welt widmen will.

Also, meine lieben Elfen und Feen, Gnome und Füchse, begleitet mich dabei, wie ich meine wirkliche Heimat erkunde, mich darin einrichte. Lest, wie ich weiterhin zerbrösele und mich neu zusammensetze. Lasst euch berichten, wie ich als neurodivergenter Mensch mit dieser völlig bekloppten Welt umgehe. Es ist alles sehr spannend und ich bin noch ganz am Anfang…

Als ich mich bei Mastodon vorläufig verabschiedete, schrieb ich, dass ich mich aus den sozialen Medien gänzlich verabschiede und nur noch meinen Pixelfed-Account hin und wieder mit Fotos bestücken werde.

Nun, das war, wie sich gerade herausstellt, eine Lüge. Okay, ich habe nicht wirklich gelogen, denn als ich es schrieb, war ich davon überzeugt. Aus irgendeinem Grund verlinkte ich ein Lied von Ton Steine Scherben: “Ich geh weg”. Darin heißt es:

“Ich geh weg, ich geh weg Ich geh weg und such was Neues

Denk an mich, denk an mich Ich komm zurück zu dir” (...)

Jetzt habe ich was Neues. Diesen Blog. Und ich bin zurück. Im Fediversum. Nur anders.

Ich will dem Internet vorerst nicht mehr zuhören, ich möchte gerade nichts mehr von den realen oder den geglaubten Katastrophen wissen, will mich nicht mit Meinungen von Leuten aus dem Netz beschäftigen, und ich ertrage das schrille Aufmerksamkeitsgeheische in den Nachrichten und anderswo nicht mehr. Alles schreit, alles kreischt, alles, was im Netz passiert, ist eine einzige Kakophonie.

Ich käme ja damit klar, wenn mir nicht auch im RL die Rübe fast explodieren würde. Denn meine Identität zerfällt gerade im laufenden Betrieb und setzt sich gleichzeitig neu zusammen. Und ja, es ist so dermaßen anstrengend und verwirrend wie es sich anhört. Wenn ich jetzt jemanden zuhören möchte, dann mir selber.

Klingt kryptisch? Ja. Aber ich werde später darüber schreiben.

Jedenfalls freue ich mich darauf, meine Gedanken hier sortieren zu können. Übrigens: Diese Blogsoftware ist toll, denn ich sehe keine Kommentare, keine Sterne oder Herzen. Es ist fast so, als würde ich auf einer einsamen Nachtwanderung zum Wald reden, und nur Elfen, Feen, Gnome und vielleicht ein Fuchs hören mir zu. Eine schöne Vorstellung.

Bis zum nächsten Eintrag, ihr Elfen, Feen, Gnome und Füchse!

Ich habe eine erste Followerin auf diesem neuen Blog. Es ist, wer erahnt es, meine Liebste @Thalestria. ;–)