ADHS im Alltag – Teil 1 – Neurobiologie

In dieser Artikelreihe möchte ich meine Erkenntnisse aus einem Tagesseminar zum Thema “ADHS im Alltag” zusammenfassen.

Im ersten Teil geht es um die Neurobiologie, Unterschiede im Gehirn bei #ADHS und die Auswirkungen. Die folgenden Teilen sollen sich dann noch mehr mit den praktischen Herausforderungen im Alltag und möglichen Lösungsstrategien beschäftigen.

Also, starten wir den Exkurs ins Gehirn.

Gehirn Seitenansicht (Quelle: NEUROtiker, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)

1. Vorderes Aufmerksamkeitssystem – Frontallapen

Hier sitzt unser Arbeitsspeicher, bzw. das Kurzzeitgedächtnis. Hier werden auch die Sinneseindrücke verarbeitet, also das was im Moment passiert und wahrgenommen wird.

Bei Menschen mit ADHS zeigt sich in diesem Bereich ein geringeres Volumen, verminderte Durchblutung, sowie ein reduzierter Glukosemetabolismus und verminderte Dopa-Decarboxylase-Aktivität. Im Gegenzug dazu hat der Okzipitallappen eine vermehrte Durchblutung.

Die Aufnahme von Sinneseindrücken im Arbeitsspeicher ist dadurch unvollständiger und fehleranfälliger. Was wiederum folgende Herausforderungen mit sich bringen kann:

2. Belohnungs- und Motivationssystem – Nucleus Accumbens

Des Weiteren sitzt im Frontallappen das Belohnungs- und Motivationssystem, der Nukleus Accumbens.

Dieser Bereich wird stärker angesteuert, was dazu führt, dass Menschen mit ADHS eher interessensgetrieben handeln.

Im Alltag bedeutet das, dass etwas Neues wach hält und Routine eher einschläfert. Deshalb haben viele Menschen mit ADHS auch eine starke Aversion gegen Routinen und brauchen möglichst viel Abwechslung. Außerdem rührt daher die Schwierigkeit, den Fokus auf Sachen zu halten, die einen nicht interessieren, sowie die höhere Ablenkbarkeit.

Alles, was #Dopamin liefert, ist recht. Dies können starke Reize sein, z.B. sehr süßes oder saures Essen, Sport, laute Musik, oder auch große Temperaturunterschiede durch Sauna oder eine kalte Dusche. Aber natürlich auch der Konsum von Nachrichten und Social Media.

Ein Problem ist allerdings, das hierdurch leider auch ein größeres Suchtpotential entsteht, wenn für die Erfüllung des Bedürfnisses nach Dopamin keine konstruktiveren Wege gefunden werden.

Und genau an diesem Punkt, also der Dopamin-Regulation, setzen auch die üblichen ADHS-Medikamente an.

3. Amygdala – Mandelkern

Die Amygdala sitzt im Temporallappen und gehört zum limbischen System:

Gehirn Seitenansicht (Quelle: BruceBlaus. When using this image in external sources it can be cited as:Blausen.com staff (2014). "Medical gallery of Blausen Medical 2014". WikiJournal of Medicine 1 (2). DOI:10.15347/wjm/2014.010. ISSN 2002-4436.Derivative work by Geo-Science-International, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons)

Beim limbischen System handelt es sich um ein autonomes Zentrum, das heißt, es ist nicht bewusst steuerbar.

Die Amygdala ist für die emotionale Bewertung zuständig. Sie entscheidet über “mag ich / mag ich nicht”. Diese Bewertung wird dann als Erinnerung mit abgespeichert. Als Erwachsener kann man sich oft nicht mehr an den initialen Auslöser einer Bewertung erinnern, aber das Abrufen und die Verknüpfung mit neuen Reizen und Sinneseindrücken passiert schnell und automatisch.

Der Unterschied bei ADHS ist allerdings die Zusammenarbeit der Amygdala mit Cingulatum und Hippocampus.

4. Cingulatum – Gefühlsbremse

Das Cingulatum oder auch Gürtelwindung ist die Gefühlsbremse des Gehirns und dient der emotionalen Regulation.

Bei ADHS ist dieser Bereich weniger operativ bis nahezu stumm.

Im Alltag kann das dazu führen, dass auch ein winziger Reiz eine maximale Reaktion auslöst. Im Zusammenspiel mit der Amygdala können emotionale Bewertungen daher als sehr intensiv abgespeichert werden, weshalb bei ADHS emotionale Ausbrüche eher üblich sind. Andererseits kann dies z.B. bei Reizen, die Angst auslösen, auch die Entstehung von Phobien fördern.

Das heißt nicht, dass eine emotionale Regulation nicht möglich ist, aber diese ist für Menschen mit ADHS viel anstrengender und erzeugt auch mehr Stress. Als Beispiel sei hier das Schulkind genannt, dass den ganzen Tag still sitzen muss, und dann zu Hause erst mal die Türen zuknallt, um sich zu entladen.

5. Hippocampus – Das Tor zum Gehirn

Der Hippocampus ist ebenfalls Teil des limbischen Systems und der Altspeicher-Koordinator, d.h. er verbindet Kurz- und Langzeitgedächtnis.

Im Zusammenspiel mit der Amygdala und dem Cingulatum führt das bei ADHS nun dazu, dass z.B. Schreck-Erfahrungen leichter als traumatische Erfahrung abgespeichert werden. Menschen mit ADHS haben ohnehin ein höheres Angstpotential.

Wenn nun erneut eine Situation oder ein Reiz auftritt, der diese Erinnerungen durch die Amygdala reaktiviert, kann das dazu führen, dass die Festplatte, also das Langzeitgedächtnis vom Hippocampus abgekoppelt werden. Ein Beispiel hierfür wäre der Blackout bei Prüfungsangst, aber auch wenn man als Kind in der Schule unerwartet aufgerufen wird und dann einfach keine Antwort geben kann.

Das bedeutet für den Alltag, dass ein wertschätzendes und respektvolles Umfeld, indem man sich sicher fühlt, für Menschen mit ADHS noch einmal deutlich wichtiger ist, um funktionieren zu können.

6. Kleinhirn

Das Kleinhirn ist einerseits stimmungsstabilisierend und andererseits zuständig für die audiovisuelle Motorik, bzw. die Auge-Hand-Koordination.

Bei ADHS fehlt allerdings der obere Teil des Kleinhirns oder ist etwas kleiner.

Im Alltag kann dies zu häufigeren Missgeschicken führen. Zum Beispiel, dass man daneben greift, öfter etwas herunterfällt, oder man sich blaue Flecken holt und nicht weiß, woher man die hat.

Eltern von Kindern mit ADHS sind daher ggf. öfter mit dem Vorwurf konfrontiert, ihre Kinder zu schlagen...

7. Gyrus präcentralis

Der Gyrus präcentralis oder auch primärer motorischer Cortex ist zuständig für die Kraftdosierung.

Manche feinmotorischen Tätigkeiten fallen Menschen mit ADHS schwerer. Im Alltag haben Kinder daher z.B. Probleme beim Schönschreiben oder beim Essen mit Besteck, weil eher zuviel Kraft beim Festhalten ausgeübt wird.

Ein Hilfsmittel kann hier sein, auch die zweite Hand zu beschäftigen, sei es das Festhalten am Stuhl oder einen zweiten Gegenstand in die Hand zu nehmen.

Eine unterschiedliche Häufung bzgl. links oder rechts als dominante Hand ist bei ADHS aber nicht zu beobachten.

8. Fazit

So viel zur neurobiologischen Theorie. Durch die obigen Punkte wird dann auch deutlich, dass ADHS keine Entwicklungsstörung ist, oder durch schlechte Erziehung o.ä. verursacht ist, sondern von den Eltern vererbt wird.

Die Erkenntnisse aus diesem Artikel können dann auch dabei helfen, Lösungsstrategien für praktische Alltagsprobleme zu finden, die an der Ursache wie z.B. dem Dopamin-Haushalt ansetzen, anstatt sich an den vermeintlichen Symptomen wie zuwenig Disziplin abzuarbeiten. Aber dazu dann mehr in den folgenden Teilen.

Eine Möglichkeit zur Diskussion gibt es hier in diesem Thread.


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