Die Sichtbarkeit der Not

In den Innenstädten öffnen die Weihnachtsmärkte und bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt sitzen Obdachlose und Bettler, Männer wie Frauen, an den Bahnhöfen und viel besuchten Straßenecken.

Ich war heute in der Stadt, und habe dem ersten Bettler am Bahnhof, dessen Gesicht zwischen der Mütze und Decke kaum zu sehen war, etwas Kleingeld in den Becher gegeben. Eine Krücke lag neben ihm und er war sichtlich am frieren.

Aber sein Gesicht ist mir bekannt. Es sind oft die gleichen Gesichter, die da sitzen. Im Lauf der Jahre kommen neue Gesichter dazu, andere tauchen irgendwann nicht mehr auf, und ich frage mich, was aus ihnen geworden ist. Das Beste hoffen, und das Schlimmste befürchten.

200 Meter weiter auf der anderen Seite des Bahnhofs, sitzt eine Frau an einer Hauswand, die den vorbeieilenden Menschen mit eindringlichem Blick einen Becher hinhält. Ich sehe sie und nicke ihr leicht zu, aber gehe weiter.

In mir streiten sich die inneren Stimmen. Die eine, die helfen will, die andere, die sagt, ich kann nicht jeden retten. Eine dritte will mich nochmal an den Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl erinnern.

Als ich später auf dem Rückweg bin, mittlerweile selber gut durchgefroren, sitzt der erste Obdachlose immer noch an derselben Stelle am Bahnhof und ich frage mich, was so ein Kältebus eigentlich pro Tag kostet. Wohlwissend, dass die auch nur Symptombekämpfung sind.

Während in anderen Ländern “Housing First”-Konzepte nachweislich der sinnvollste Ansatz sind, sind in meiner Stadt im Sommer bei der Einrichtung einer neuen Obdachlosenunterkunft die Anwohner auf die Barrikaden gegangen... Aber das nur am Rande.

Der eigentliche Auslöser zum Schreiben dieses Artikels war aber der Gedanke, dass Obdachlosigkeit die Not mancher Menschen einfach nur sichtbar macht, und ziemlich sicher nur die Spitze des Eisbergs ist. Wenn man sich in der Öffentlichkeit bewegt, wird man ja unweigerlich damit konfrontiert, und ist dann gezwungen, sich mit den eigenen unangenehmen Gefühlen auseinanderzusetzen, die das eventuell heraufbeschwört.

All die anderen Menschen, die Monat für Monat kaum wissen, wie sie ihre Miete, Lebensmittel oder die Heizung bezahlen sollen, die werden gar nicht gesehen, bzw. nur wenn entsprechende Hilfsorganisationen Öffentlichkeitsarbeit machen. Aber das ist trotzdem abstrakter und keine so unmittelbare Erfahrung, wie einem frierenden Obdachlosen direkt in die Augen zu schauen. Wie auch immer man darauf dann reagieren mag.

Hier noch ein paar Links zum Thema. Die aufgelisteten Organisationen freuen sich bestimmt über Unterstützung:


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