(DE) Der Wolfsmensch vom Harzgebirge

Eine Fallstudie über eine lokale moderne Legende

Ein Blick auf die Stadt Blankenburg am Harz von der Teufelmauer aus gesehenIn den Wäldern bei Blankenburg häufen sich seltsame Ereignisse. (Foto: privat)

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Intro

Es war eine dunkle Nacht, den fernen Lichtern der Stadt gelang es kaum, den Nebel zu durchdringen, der sich um den dichten Blankenburger Nadelwald gelegt hatte. Willi pflegte hier zu spazieren, um den Kopf freizubekommen. Es ging ihm alles andere als gut – sein Lieferjob für das örtliche Chinarestaurant hatte sich als sehr viel anstrengender herausgestellt als erwartet. Zudem konnte ihm der Wald heute Nacht nicht wie üblich Trost spenden. Er bekam das Gefühl, nicht alleine zu sein in der Harzer Wildnis. Es könnte sich um ein Gespenst seiner Einbildung handeln, verbunden mit der Plage einer viel zu langen Spätschicht, doch vielleicht lag es auch am großen menschengemachten Lagerfeuer und der Hütte direkt vor ihm. Willi stand unter Schock, nicht in der Lage, sich zu bewegen. Was für eine Schattengestalt würde an so einem Ort ihr Unwesen treiben? Plötzlich öffnete sich die behelfsmäßig montierte Tür der Hütte, und Willi wurde klar, in was für einer unmittelbaren Gefahr er sich befand. Der Wolfsmensch vom Harzgebirge hatte hier sein Lager aufgeschlagen, bereit, die unschuldigen Seelen von Blankenburg an sich zu reißen!

 

Einige Fakten

Beginnen wir unsere Studie mit einer Runde Geographie. Blankenburg ist eine ruhige, friedliche Kleinstadt (19.000 Einwohner:innen im Jahr 2023) in der Harzregion. Glaubt mir, es ist der Himmel auf Erden hier, abgesehen von der heftigen Drogenszene, der gelegentlichen Hells Angels / Bandidos Schlägerei oder der gespenstisch leeren Innenstadt. Ich selbst bin in der Nähe aufgewachsen und habe als Kind öfter in Blankenburg Däumchen gedreht, da meine Mama hier gearbeitet hat. Die Straßen mögen hart sein, doch keine:r kann die Schönheit der umliegenden Natur leugnen, ebenso wenig wie die umfangreiche Auswahl an lokalen Fleischspezialitäten in der mittlerweile geschlossenen Real-Filiale. Backpacker mit Harzlust können sich in Blankenburg eine günstige Unterkunft buchen, falls die bonzigen Hotels in Wernigerode das Budget sprengen. Ich erinnere mich an Wanderungen mit Familie auf der Teufelsmauer, einer nahegelegenen Felsformation mit ihrer eigenen Essay-würdigen Legende (es ist nur keine moderne).

Blankenburg ist klein, und Legenden und Gerüchte verbreiten sich hier ziemlich schnell, erst recht in einer Zeit, wo selbst meine hinterwäldlerischsten Verwandten ein Facebook-Konto besitzen. Die (stark!) dramatisierte Sichtung aus dem Intro fand am Morgen des 25. März 2023 statt. Während einige Artikel von angeblich jahrelanger Wolfsmenschen-Aktivität schreiben, begann die eigentliche Berichterstattung in der Lokalpresse erst etwa um diese Zeit. Der Vorfall spielte sich bei den Sandhöhlen im Heers ab, einem Wald- und Naturschutzgebiet nahe Blankenburg. Bei der örtlichen Polizeistation ging ein Notruf ein, mit dem die anrufende Personen vor einer Stichflamme und einem “Wolfsmenschen” warnte. Einsatzkräfte, darunter eine Feuerwehrstaffel, rückten ins Waldgebiet aus und trafen auf eine Person, die von einer kleinen Feuerstelle wegrannte und schließlich im Geäst verschwand. Das Feuer wurde gelöscht, die fliehende Person entkam den Behörden, und viel mehr geschah nicht an diesem Samstagmorgen. All das mag nicht gerade spannend klingen, aber für die zunehmend trockenen Gebiete im Harz stellen Waldbrände eine ernstzunehmende Gefahr dar.

Was im Sommerloch der nächsten Monate folgte, war ein kleiner Pressehype, an dem sich die meisten nationalen und sogar einige internationale Boulevardmedien beteiligten. Zum Großteil bestanden diese Artikel aus Nacherzählungen des oben geschilderten Vorfalls und einiger Gerüchte. Lokalmedien drehten vor Ort Videos, von denen einige ganz unterhaltsam waren (“Triff die ulkigen Einheimischen!”). Zudem scheint sich eine kleine Fangemeinde gebildet zu haben, die mit dem Wolfsmenschen sympathisiert und die Behörden und Hobbyforschende in den Kommentarbereichen dazu auffordert, ihn gefälligst alleine zu lassen. Der mit Abstand interessanteste Scoop war ein seltsames Foto von einem hockenden Wesen, was im Gebiet der Sandhöhlen entstanden zu sein scheint. Angenommen, dass es sich nicht um eine Fälschung handelt, ähnelt das Wesen einem nackten, erwachsenen Menschen mit Haut, Fell oder Körperbemalung in gräulicher Färbung, ausgestattet nur mit einem Holzstab. Die zuständige Polizei verlautbarte gegenüber den Medien, dass man von Menschen wisse, die im Wald zu leben scheinen und regelmäßig selbstgebaute Behausungen und Feuerstellen fände. Die wahre Identität des Blankenburger Wolfsmenschen bleibt der Öffentlichkeit jedoch bis heute ein Rätsel.

 

Einige Legenden

Der Heers ist bekannt für seine menschengemachten Höhlensysteme, die bis in die Frühgeschichte zurückgehen. Heute wird davon ausgegangen, dass die Sandhöhlen einmal eine Thingstätte waren, ein zentrales Element der frühgermanischen Stammesgesellschaft, das eine Art Mischung aus Gemeinderat, Regierungskörper und Handelsplatz darstellte. Während die altertümlichen Thingstätten heute als ein frühes Beispiel demokratischer Mitbestimmung diskutiert werden, erfuhr der Begriff selbstverständlich eine Aneignung durch die Nazis und wurde so zum Ort eines völkischen Freilichtspektakels. Romantisierte Vorstellungen vom Paganismus waren jedoch schon ab der frühen Moderne ein Ding und boten seitdem eine Blaupause zur Legendenbildung. Wenn die offensichtlichen weltlichen Aspekte der heidnischen Gesellschaften vernachlässigt werden, können Orte wie die Sandhöhlen bei Blankenburg mit allen möglichen mystischen Ritualen in Verbindung gebracht werden.

Ein Holzstich von Lucas Cranach dem Älteren, ca. 1512, der einen Werwolf darstellt.Mit ihnen ist nicht zu spaßen: Werwölfe

Als ein begeisterter Leser viktorianischer Schauerliteratur erinnert mich die Legende selbstverständlich auch an Frederick Marryats Kurzgeschichte “The White Wolf of the Hartz Mountains”. 1839 zunächst erschienen als Kapitel eines größeren Romans und später eigenständig veröffentlicht, erzählt sie von einer Begegnung mit einem Werwolf im Harzgebirge. Dabei baut die Geschichte stark auf dem Märchentopos der bösen Stiefmutter auf, die sich in diesem Fall auch als der titelgebende weiße Wolf herausstellt. Neben einer krassen Frauenfeindlichkeit und der etwas plumpen Hinführung fällt Marryats Text auch durch die Einführung der Idee von Naturgeistern im Harz auf. Diese nehmen in der Geschichte die Gestalt von Menschen und Tieren an, um jene grausam zu bestrafen, die sich einen Mord haben zu schulde kommen lassen. In meiner Recherche bin ich auf weitere Literatur gestoßen, die den Harz mit Werwölfen in Verbindung bringt: So bietet der edwardianische Geisterjäger und Autor Elliott O'Donnell eine blumige Beschreibung eines ähnlichen Falls in der Region in seinem 1912 erschienenen Sachbuch(!) “Werewolves”.

All diese Narrative haben gemeinsam, dass sie den Harz als ein altes Reich darstellen, das noch nicht vom Christentum oder von der Moderne erobert wurde, bevölkert von mystischen Naturkräften. Die moderne Sage um den Blankenburger Wolfsmenschen kann zu diesem Bild beitragen, da es weder den Behörden noch Hobbyforschenden zu gelingen scheint, eine eindeutige Antwort auf das Rätsel seiner Identität zu liefern. Wir haben hier einen starken Kontrast zur Realität im Großteil des Harzes: Jede:r, der:die in den letzten Jahren da war, konnte die zunehmende touristische Erschließung der Region beobachten. Ich wette meine bronzene Harzer Wandernadel, dass wir schon bald Postkarten mit dem Wolfsmensch-Foto in jeder Tourist Trap von Schierke bis Thale finden werden. Diese paradoxe Situation macht die Erzählung einer sich in den Harzer Wäldern versteckenden Person noch attraktiver, da so ein Teil der Mystik des Seltsamen und Unbekannten in die Region zurückkehrt.

 

Einige Theorien

Wir beenden unsere Studie mit einer Handvoll Theorien hinsichtlich der Identität des Wolfsmenschen, die ich selbst aufgestellt habe oder auf die ich während meiner Recherche gestoßen bin. Ich halte es für gut möglich, dass mehrere unzusammenhängende Dinge Anlass gaben für die Bildung dieser noch sehr jungen Sage. Daher schließen sich die hier vorgestellten Theorien nicht aus und können durchaus alle wahr sein (oder keine von ihnen).

Ein Prospekt aus dem 18. Jahrhundert, dass die Nutzung der Harzregion im Bergbau illustriertWelche Geheimnisse verbergen sich in den Wäldern des Harzes?

Theorie #1: Obdachlose und / oder anderweitig marginalisierte Menschen Einige Artikel spielen mit der Idee, dass Menschen wohlmöglich unfreiwillig im Wald bei Blankenburg leben, sei es aus Obdachlosigkeit oder einer anderen existenziellen Bedrohung heraus. Wenn wir uns die Nachlässigkeit der Lokalpolitik vergegenwärtigen, mit der Menschen ohne Wohnsitz in der Region bisweilen behandelt werden, erscheint diese Theorie durchaus sinnvoll. Hinzu kommt die eher schlechte wirtschaftliche Situation in Städten und Kommunen wie Blankenburg. Eine Unterkunft existiert derzeit nur in einer größeren Nachbarstadt, was es Menschen ohne Ressourcen wohlmöglich erschwert, sich Hilfe zu holen. Dieses Narrativ hat das Potential, die Handlungsfähigkeit marginalisierter Menschen sowohl zu unter- als auch zu überschätzen, und sollte daher nicht leichtfertig verbreitet werden. Ich halte es zwar für eine Möglichkeit, bin jedoch der Ansicht, dass es auch um Blankenburg herum geeignetere Orte für selbstorganisierten Obdach gibt – wie ich bereits geschrieben habe, lässt sich die Hälfte des Ortes als Geisterstadt bestimmen.

Theorie #2: Neopagane Outdoor-Enthusiasten In einem der Videos erwähnt der Geschäftsführer der Harzer Wandernadel, dass Menschen in allen möglichen Cosplays, meist neuheidnisch oder mittelalterlich beeinflusst, die Sandhöhlen besuchen. Ich denke, das ist die wahrscheinlichste Erklärung für das oben beschriebene Foto. Die Verbindung des Ortes zur Frühgeschichte und die existierenden Höhlen könnten Menschen mit so einem Interesse auch dazu inspirieren, mal für eine Woche oder so zu versuchen, dort autark zu leben – genug Zeit, um ein bisschen Buzz zu generieren in einer Stadt, wo nicht viel los ist.

Theorie #3: Ein waschechter Werwolf Es gibt einen weniger alltäglichen Grund, sich im Wald zu verstecken: Man ist ein Werwolf. Vielleicht hat die anrufende Person am 25. März ein Exemplar mitten in der Verwandlung erwischt, welches den Behörden später als fliehender Mensch erschienen ist. Anscheinend gab es keinen Vollmond in dieser Nacht, aber warum sollte man sich auf den Mond verlassen? Der Harz kann offiziell zur Werwolfhochburg von Deutschland erklärt werden. Das würde auch den Tourismus interessanter machen: Wandern ist so viel spannender, wenn man beschäftigt ist, den silbernen Kugeln der Werwolfjäger:innen auszuweichen.

 

Einige abschließende Worte

Ich hoffe, dieser Essay konnte dem geneigten Lesenden etwas Einsicht in die moderne Legende bieten, die als der Blankenburger Wolfsmensch bekannt ist. Meine Recherche entstand zum Großteil auf der Grundlage von Artikeln, die online mit Suchbegriffen wie 'Wolfsmensch Blankenburg' zu finden sind.

Die Zeit wird zeigen, ob der Wolfsmensch sich dauerhaft als eine moderne Sage im Harz etablieren kann. Ich hoffe es sehr.

 

Dieser Text wurde unter der CC BY-ND 4.0 Lizenz veröffentlicht.