Im Schatten der Kolosse
Warum Videospiele noch immer keine Kunst sind
Das Foto zeigt den Titel 'The Art of Video Games' in Großbuchstaben auf einer grünen Wand in der gleichnamigen Ausstellung. Zuerst veröffentlicht von Ryan Quick unter CC BY 2.0
Trotz enormer finanzieller Erfolge brauchen Videospiele auch heutzutage noch gesellschaftliche Rechtfertigungen. Warum ist es okay, wenn ich zwei bis vier Stunden meiner kostbaren Tageszeit mit Knöpfedrücken verschwende? Einfach zocken zur Erholung ist nicht drin. Mir fallen daher auf Anhieb drei Rechtfertigungen ein, die mehr oder weniger populär sind:
- Das Lern-Argument: Ich trainiere meine Reflexe, wenn ich Egoshooter spiele. Oder ich lerne Mathematik mit Minecraft. In einer auf Selbstverbesserung ausgelegten Gesellschaft kommt es jedefalls gut an, die verschwendete Zeit als Training oder (Weiter-)Bildung umzudeuten.
- Das soziale Argument: Videospiele sind soziale Events. Ich socialize sozusagen in der Counterstrike-Lobby oder besuche meine Freund:innen in Animal Crossing. Dieses Argument ist eher selten vertreten, gewann aber während der Pandemie etwas an Anerkennung.
- Das Kunst-Argument: Videospiele sind Kunst. Demnach ist Zocken mittlerweile wahlweise vergleichbar mit dem Lesen eines guten Buchs, dem Anschauen eines guten Films, oder mit einem Galeriebesuch.
In diesem Text möchte ich das dritte Argument kritisch untersuchen. Denn ich habe die These, dass Videospiele zum Großteil keine Kunst sind – und das ist in Ordnung.
Spiele sind Spiele
Es mag banal klingen, aber Spiele sind in erster Linie Spiele. Eine eigene Form, zu der es Theorie und Geschichte gibt. Wikipedia definiert Spiele als “(...) eine Tätigkeit, die zum Vergnügen, zur Entspannung, allein aus Freude an ihrer Ausübung, aber auch als Beruf allgemein meist unter Beachtung von Spielregeln ausgeübt werden kann. Spiele enden oft mit einem Sieger, der gegebenenfalls einen Preis erhält.” Der Wunsch nach Unterhaltung ist ein Antrieb, der im Spiel vielleicht stärker ausgeprägt ist als in den Künsten. Das sehen wir beispielsweise in der Literatur daran, dass es überhaupt eine (fragwürdige) Unterscheidung gibt in Kategorien wie Unterhaltungs- oder Trivialliteratur auf der einen und “anspruchsvoller” Literatur auf der anderen Seite.
Überschneidungen zu Kunst sind sicherlich möglich, aber weder zwingend noch naheliegend. Auch ist Kunst mehr als eine Abwesenheit von Unterhaltung. Entgegen der Ansichten mancher deutscher Väter vertrete ich zb. die Position, dass Fußball zwar ein langweiliges Spiel ist, aber nur weil etwas nicht schafft, mich zu unterhalten, ist es nicht automatisch Kunst. Kunst kann selbstverständlich auch mit Spielelementen aufwarten, etwa wenn Aktionskunst von seinem Publikum ein Verhalten gemäß einer Reihe von Regeln einfordert.
Videospiele sind (Massen-)Medien, aber wann sind Medien Kunst? 1932, als der Tonfilm sich zu etablieren begann, veröffentlichte Rudolf Arnheim sein Buch Film als Kunst. Der Text argumentiert unter anderem, dass der Film eine Kunst sei, da er nicht nur bereits Vorhandenes reproduziere. So könnten Filmschaffende sich entscheiden, ob sie einen Gegenstand mehr oder weniger charakteristisch darstellen wollen, ob sie also Sehgewohnheiten und vom Publikum erworbenes Wissen bestätigen oder unterlaufen wollen. Diesen gestalterischen Spielraum, gewöhnliches ungewöhnlich erscheinen zu lassen, neue Perspektiven zu entfalten, halte ich für eine ziemlich charakteristische Eigenschaft von Kunst. Daher werde ich in diesem Text hin und wieder darauf zurück kommen.
Der gestalterische Spielraum ist auch bei Videospielen vorhanden. Betrachten wir einmal Dialoge in Spielen, so können wir uns an den eher zweckmäßigen bis schlechten Beispielen aus Bethesda-Rollenspielen wie Fallout oder The Elder Scrolls abarbeiten. Das sind trotzdem ganz klar unterhaltsame und aufwändig produzierte Spielereihen, aber wenn wir erleben wollen, was mit Dialogsystemen in Spielen alles möglich ist, müssen wir Indie-Titel wie Disco Elysium oder Night In The Woods betrachten. In erstgenanntem wird über klassische Rollenspiel-Dialogbäume das Innenleben des Protagonisten auf eine Weise offengelegt, die ich bisher nur aus der Literatur kannte und die dennoch etwas komplett eigenständiges ist. In Night In The Woods gibt es eine Szene, in der unsere Spielfigur betrunken ist und ein emotional heikles Gespräch führen muss. Wir können Dialogoptionen wählen, die bei der Auswahl auf dem Bildschirm völlig verständlich erscheinen, doch im Anschluss kommen aus der Figur nur gelallte Wortfetzen heraus. Eine bewusste Störung zwischen Input und Output sozusagen, und somit ein künstlerisches Mittel, was sich auf diese Art nur in einem Videospiel umsetzen lässt.
Künstlerische Ansätze in Videospielen gibt es also – dass wir nicht genug von ihnen erleben, liegt an einem gegenläufigen Trend, den ich derzeit als sehr charakteristisch für die Spieleindustrie empfinde.
Servicementalität
Es gibt nämlich eine Haltung in Entwicklung und Vermarktung von Videospielen sowie im Videospielejournalismus und in Reviews von Kund:innen, die ich als service-bezogen beschreiben würde. Diese Haltung steht einer Kunst-Werdung von Videospielen im Weg. Mit Servicementalität meine ich nicht nur Monetarisierungsmodelle wie Games as a Service, die mitunter eine Plage sind. Ich verstehe darunter die grundlegende Haltung, dass ein 'gutes' Spiel in erster Linie die Bedürfnisse seines Publikums befriedigen soll. Auf allen Ebenen der Entstehungs-, Vermarktungs- und Bewertungsprozesse werden Fragen gestellt wie:
- Bietet das Spiel eine angemessene Herausforderung für die Spielenden?
- Bietet das Spiel den Spielenden Abwechslung?
- Kann das Spiel die Aufmerksamkeit der Spielenden lange genug halten?
- Ist das Spiel sein Geld wert?
Die Konsumierenden und die Konsumierbarkeit von Videospielen stehen im Mittelpunkt des Diskurses. Sie bestimmen die Produktion der großen, sogenannten AAA-Spiele. Fragen wie die folgenden spielen dagegen leider kaum eine Rolle:
- Was soll das Spiel erzählen?
- Was lässt sich darstellen, was sich so mit keinem anderen Medium darstellen lässt?
- Wie kann das Spiel die Gegenwart kritisch kommentieren?
Die Gründe für die eher konservative Haltung im Spiele-Diskurs scheinen mir ökonomische zu sein. Videospiele sind teuer in der Produktion und oft auch teuer für die Kund:innen. Der Zwang nach größtmöglichem Profit erzeugt risikoscheues Verhalten. Einerseits ist es gut, nicht komplett an der Zielgruppe vorbei zu entwickeln, aber eine zu dogmatische Serviceorientierung ist eine wirkungsvolle Barriere, die künstlerisch anspruchsvollere Projekte verhindern kann.
Überall Perlen
Fumito Ueda (rechts, Chef-Designer) und Kaido Kenji (links, Produzent) auf einer Präsentation ihres Spiels 'Shadow Of The Colossus'. Hinter ihnen werden Spielszenen auf einer Leinwand gezeigt. Zuerst veröffentlicht von Javier Candeira unter CC BY-SA 2.0
Dabei gab und gibt es künstlerisch anspruchsvolle Videospiele im AAA-Bereich. Seinerzeit bescherte Shadow Of The Colossus dem Sony-Konzern ein Ausnahmespiel für seine Playstation-2-Konsole. In dem unter der gestalterischen Leitung von Fumito Ueda entstandenen Spiel durchqueren wir eine schöne und verlassene Welt auf der Suche nach Kolossen, von deren Tötung unsere Spielfigur sich die Wiederbelebung einer geliebten Person verspricht. Die Handlung ist minimalistisch, aber nicht simpel, und sie wird nicht genretypisch verlaufen. Einerseits ist der Spielinhalt ein gewöhnliche Quest, doch er wird auf eine Art künstlerisch bearbeitet, der uns ganz anders auf ihn blicken lässt. Die besondere Melancholie und leichte Unheimlichkeit des Spiels entsteht dabei auch aus den zeittypischen Einschränkungen der Hardware. Das Tal, in dem das Spiel startet, erinnert im Original an Liminal Spaces (das Remaster hat diesen Effekt durch naturalistische Grafik etwas abgemildert). Ich glaube, dass Shadow Of The Colossus eines der wenigen AAA-Spiele ist, die man an die Wand einer Kunstgalerie projezieren könnte und damit durchkäme. Ein wenig stelle ich mir die Entscheidungen von Sony Computer Entertainment, die zur Entstehung dieses Spiels geführt habe, wie die eines klassischen Filmstudios vor: “Wir haben zwei oder drei sichere Hits, die beim Publikum gut ankommen, jetzt brauchen wir noch etwas, was die Kritik überzeugen kann. Lasst uns Geld in das Projekt dieses Autorenfilmers stecken, dessen Arbeit wir nicht verstehen!”
Vor ein paar Jahren kam Death Stranding heraus, und meiner Meinung ist es das AAA-Spiel der jüngeren Zeit, das Shadow Of The Colossus hinsichtlich seiner künstlerischen Ambitionen am nächsten kommt. Es entstand unter der Leitung des Metal-Gear-Erfinders Hideo Kojima und stellt die Spielenden vor die Aufgabe, in einer lebensfeindlichen Umgebung Pakete auszuliefern und Stadtstaaten zu verbinden. Obwohl es früh Bedrohungen gibt, erhält die Spielfigur erst relativ spät Zugang zu (nicht-tödlichen) Waffen. Das ist inhaltlich konsequent, denn im Gegensatz zu Metal Gear arbeitet die Figur für eine zivile Organisation und hat keinen militärischen Hintergrund. Hinzu kommt ein kooperativer, asynchroner Multiplayer-Ansatz. Wir sehen keine anderen Spielenden, können einander aber Ausrüstung, Materialien oder Bauwerke hinterlassen, und uns das Spiel damit wesentlich erleichtern. Diese Gleichzeitigkeit von Kooperation und Isolation gewann kurz nach dem Erscheinen des Spiels im November 2019 eine zusätzliche Bedeutung, als die Covid-19-Pandemie begann. Menschen mussten sich zum gegenseitigen Schutz voneinander isolieren, zeitweise nur für lebensnotwendige Besorgungen das Haus verlassen, während Forschende auf der ganzen Welt daran gearbeitet haben, ein Mittel gegen das Virus zu finden. Die Spielerfahrung, die Death Stranding bietet, erwieß sich als treffender Kommentar dieser Gegenwart.
Neben vielen positiven Kritiken fanden sich auch Spuren der Servicementalität in den Reviews – so wurden die ersten Spielstunden als zu langsam oder das Gameplay als nicht abwechslungsreich genug kritisiert. Death Stranding wurde ein Erfolg, obwohl es kein Teil eines bestehenden Franchises war und auch spielerisch neue Wege beschritten hat. Wobei, vielleicht hat Hideo Kojima selbst als Marke fungiert, dessen Name gut bekannt und auch deutlich auf den meisten Werbematerialien zum Spiel erkennbar ist.
Es gibt einen Ausdruck in der Berichterstattung über solche Spiele, der in mir besondere Abscheu auslöst, und das ist der der Perle oder gerne auch Indie-Perle. Für mich impliziert er, dass Spielende zu Perlentaucher:innen werden, also große Anstrengungen unternehmen, sobald sie einmal etwas spielen, was außerhalb der aktuellen Trends oder ihrer eigenen Vorlieben liegt. Hey! Ihr Perlentauchenden könnt diese Spiele ganz normal erwerben (oder euch auf anderem Wege beschaffen), so wie ihr es mit dem 15. Assassins-Creed- oder Pokémon-Spiel macht. Ihr müsst diese Spiele nicht in einer Mülldeponie in New Mexico ausbuddeln. Wir sollten aufhören, den kreativen Stillstand endloser Fortsetzungen etablierter Marken zu normalisieren, indem wir alles andere als Perlen bezeichnen. Wenn Videospiele überwiegend Kunst wären, würden wir nicht 5-10 Jahre auf den nächsten Mainstream-Titel mit der Qualität eines Shadow Of The Colossus warten.
Nicht alles muss Kunst sein
Nach diesem Rant möchte ich eine Sache betonen: Auch ich kann mich für Spiele begeistern, die keine (große) Kunst sind. Ich laufe gern in den umfangreichen Nachbildungen historischer Städte der Ubisoft-Produktionen herum, auch wenn sie mich in ihrer Planlosigkeit zunehmend an KI-generierte Bilder erinnern. Denn es ist auch okay, wenn Spiele nicht mehr sind als gut gemachte Unterhaltung.
Wahrscheinlich ist das künstlerische Potential von Spielen auch eher ein Spektrum, mit FIFA 23 am einen und Death Stranding am anderen Ende, bei dem das meiste irgendwo dazwischen einzuordnen ist. Trotzdem sehe ich aktuell einfach keine maßgebliche Entwicklung in die Kunst-Richtung. Wirklich innovativ werden die meisten der großen Videospielkonzerne nur, wenn es darum geht, Spielenden das Geld aus der Tasche zu ziehen – ich denke da an Season Passes, Loot-Boxen oder Mikrotransaktionen in Vollpreis-Produkten. Effizientes Geldmachen ist auch eine Kunst. Mir kommt trotzdem kein bedeutender Roman in den Sinn, bei dem ich zusätzliche 5€ ausgeben musste, damit sich die letzten 100 Seiten umblättern lassen.
Die sogenannte bildende Kunst, die wir uns in Galerien ansehen können, ist zudem eng mit privatem Eigentum verknüpft. Der Kunstmarkt funktioniert, weil Kunst eine lohnende Anlage für Kapitalist:innen darstellt, die bereit sind, sich auf astronomische Geldwerte für ein Objekt zu einigen. Akademien und Kunsthochschulen sind im Grunde weniger Produktionsstätten von Kunst, als Orte, an denen Sinn(gehalt) produziert wird, der Objekte zu profitablen Kunstobjekten macht. Für das langfristige Funktionieren vom Kunstmarkt ist zudem die Knappheit seiner Waren entscheidend, nur so wird ihr Besitz besonders.
Bei Videospielen ist das grundlegend anders. Sie lassen sich als digitale Inhalte endlos verfielfältigen und eignen sich daher denkbar schlecht für private Sammlungen. Die Eigentumsrechte an Unterhaltungssoftware sind in der Regel auf Konzernstrukturen und deren Shareholder verteilt, und oft ist gar nicht so einfach zu verstehen, ob Kund:innen jetzt eine Kopie des Spiels erwerben oder nur eine personalisierte Lizenz, die ihnen das Spielen auf einer bestimmten Plattform erlaubt. Es gibt Versuche, Massenmedien durch künstliche Verknappung in die Nähe von Kunstobjekten zu rücken, die mitunter bizarre Blüten treiben. Ich denke da an NFTs oder ein Musikalbum des Wu-Tang Clans, von dem eine einzige Kopie für 2 Millionen USD an einen Hedgefondsmanager verkauft wurde.
Ich bin nicht böse um den Umstand, dass Videospiele Massenware sind, die von vielen Menschen gespielt werden sollen. Sie sind meist teil einer Szene, die einen ideellen Wert nicht in Verknappung, sondern in Verbreitung erkennt. Let's Plays und inoffizielle Kopien ermöglichen einen langfristigen Zugang zu Spielen auch dann, wenn ein Erwerb nicht (mehr) möglich ist, etwa wenn bei einem Rennspiel die Lizenzverträge für Automarken und Musiktitel abgelaufen sind.
Wie ich zu Beginn geschrieben habe, verstehe ich den Videospiele-als-Kunst-Diskurs vor allem als eine Rechtfertigungsstrategie. Ich bin der Meinung, dass es keine Rechtfertigung zum Zocken brauchen sollte. Lieber sollten Menschen, die in ihrer Freizeit körperlichen Sport machen, anfangen sich zu rechtfertigen, aber das ist eine andere Geschichte für einen anderen Text. Ich gratuliere allen, die bis hier hin gelesen haben, und wünsche euch ein gutes Leben.
Kommt gerne in Kontakt, ich bin auf Mastodon zu finden: @maizestalkdrinkinblood@mstdn.social
Dieser Text wurde unter der CC BY-ND 4.0 Lizenz veröffentlicht.