Buchvorstellung: Schattenwelt – Helden und Legenden des Gothic Rock
Vor einiger Zeit schenkte mir meine Ehegruftine dieses Buches des britischen Musikjournalisten und vielfachen Buchautors Dave Thompson (eigentlich: David Gareth Thompson), welches die Anfänge und Entwicklung des Gothic Rock am Beispiel der beteiligten Bands (Bauhaus, The Cure, The Sisters of Mercy und Andere) und damit auch die Anfänge eines Teils der Schwarzen Szene beschreibt.
Im Original 2002 veröffentlicht, stammt die deutsche Version aus dem österreichischen Hannibal-Verlag aus dem Jahr 2004 und ist damit auch schon wieder über 20 Jahre alt. Es wird also also kein aktuelles Bild gezeichnet, dafür aber ein sehr detailierter Blick auf einige der in der Szene verehrten Urväter (und Urmütter) geworfen.
Eine Chronik der frühen Jahre des Gothic Rock
Das Buch besteht aus drei Teilen, die annähernd gleich lang und selbst jeweils noch in einige Seiten kurze Kapitel unterteilt sind:
Teil 1 geht auf die Vorreiter und prägenden Einflüsse aus den 60ern und frühen 70ern, wie Iggy Pop, The Velvet Underground und Nico, ein, um sich dann dem Zeitraum zwischen 1976 bis etwa Anfang 1982 zu widmen. In dieser Zeit entwickelt sich der aus dem Punk der Post Punk, aus welchem dann der Gothic Rock entsteht. Bands wie The Damned, Siouxsie and the Banshees, The Birthday Party, The Cure oder Bauhaus prägen eine neue englische Untergrund-Szene.
Deren rauher Sound und abseitige Themen werden von der Musik-Presse anfangs verrissen und verlacht, und schließlich mit dem zunächst eher negativ gemeinten Begriff „Gothic Rock“ belegt (eine Anspielung auf die von ihren römischen Zeitgenossen als roh und unkultiviert geltenden Goten).
Der Aufstieg genau dieser Bands in die Indie-Charts und schließlich selbst in Fernsesendungen wie Top of the Pops war jedoch ein klares Zeichen für die (kommerzielle) Kraft des Genres, was letztlich auch von eben jener Presse anerkannt werden musste, die sie vorher verrissen hatte. Die Goten der Geschichte haben letztlich Rom erobert, insofern könnte man sagen, dass die Genre-Bezeichnung geradezu prophetisch war.
Teil 2 beschreibt die Situation zwischen 1982 und 1984, in der prägende Bands und damit das Genre einen Höhepunkt erreichen, um dann jäh nach der Auflösung gleich mehrerer Koryphäen 1983 (unter Anderem trennten sich The Southern Death Cult, Bauhaus und The Cure) und der Schließung des legendären Batcave-Clubs in eine Krise zu stürzen.
Teil 3 schließlich deckt den Zeitraum von 1984 bis 2002 ab, in dem sich einige der Bands wiedervereinigen, andere wiederum musikalisch andere Wege beschreiten und in dem der Gothic Rock mit dem Aufkommen und der Assimilation anderer Stile in die Schwarze Szene nur noch ein Nischendasein führt.
… akribisch recherchiert …
Dave Thompson betätigt sich dabei als genauer Beobachter und Chronist der prägenden Musiker, und obwohl er jede Single, jedes Album und jede Tour akribisch vermerkt, kommt wegen seines flüssigen, manchmal launigen Stils (und dank der hervorragenden Übersetzung durch Kirsten Borchardt) keine Langeweile auf. Zitate aus Interviews der Bands und gelegentlich auch Thompsons eigene Beobachtungen und Beschreibungen der Musik, sowie sein Eingehen auf die zum Teil sehr rabiaten Vorgehensweisen der Musiklabels, die schon mal eine Band während einer Tour plötzlich fallen lassen, vermitteln einen guten Blick auf diese Zeit.
Die genauen Beschreibungen ermöglichen einen tiefen, fast intimen Einblick in die Entwicklung der englischen Szene und einiger ihrer Protagonisten, so dass eine gewisse wohlige Nähe zu verspüren ist. Vor Allem bei Lesern, die die Zeit bereits bewusst miterlebt haben, werden vermutlich bei einigen Beschreibungen direkt nostalgische Gefühle aufkommen.
Interview-Zitate liefern auch immer wieder interessante Details, die vielleicht nicht allgemein bekannt sind, und machen das Buch so zu einer Fundgrube für jeden, der es ganz genau wissen will. So erfährt man beispielsweise in einem Nebensatz aus einem Interview mit Peter Murphy (Bauhaus), dass dieser ein großer Fan und Bewunderer von Dead Can Dance seit deren Gründung ist, oder dass die Fans, die zu seinen Konzerten in vollem Vampir-Kostüm auftauchten, ihm diese Assoziation erst bewusst machten.
… aber mit kleinen Abstrichen
Was allerdings schade ist: das Buch beschreibt ausschließlich den Weg einiger weniger Bands in England. Bis auf gelegentliche Beschreibungen des Publikums bei Konzerten und Touren der Formationen lässt eigentlich nichts erkennen, dass sich abseits des Kosmos einiger weniger englischer Lokalhelden auch andernorts eine ganz neue Szene von Bands, Fans und deren Veranstaltungen etabliert hat, die sich schließlich weltweit verbreiten wird.
Die Einflüsse aus anderen Musikgenres (Industrial, Neoklassik, Metal) oder die Szenen anderer Länder werden schlicht ignoriert, obwohl das Genre nie in einem leeren Raum für sich existierte, sondern immer auch Anregungen aus anderen Genres aufnahm und verarbeitete. Einflußreiche Bands dieser Szenen anderer Länder wie Xmal Deutschland (D) oder Christian Death (USA) werden nur ein oder zweimal in einem Nebensatz erwähnt, erst in den 90ern gegründete Bands kommen trotz des Zeithorizonts bis 2002 gar nicht vor.
So eignet das Buch nicht wirklich als Überblick zur Geburt der Schwarzen Szene, sondern dient eher als Chronik einiger weniger englischer Bands. Hier ist übrigens der deutsche (Unter-)Titel ausnahmsweise um einiges treffender als der englische Originaltitel The Dark Reign of Gothic Rock. Dass Thompson die Wiederauferstehung des Post Punk und Gothic Rock in der zweiten Hälfte der 2000er nicht vorhersieht, kann man ihm dagegen nicht wirklich vorwerfen.
Fazit
Trotz dieser kleinen Unzulänglichkeiten ist das Buch eine recht ausführliche Chronik der frühen englischen Post Punk und Gothic Rock Szene, dabei enorm informativ und glänzt neben seinem flüssigen Stil auch mit einer Vielzahl von interessanten Details für Fans des Genres. Einiges mag vielleicht auch Dinge in einem anderen Licht erscheinen lassen, die man bisher anders gesehen hat.
Von mir gibt daher 4 von 5 Fledermäusen dafür.