Zweite Szene
Er steht am Fenster, die Vorhänge nur einen Spalt breit geöffnet. Draußen hat der Regen aufgehört, und die Luft ist frisch und kühl. Er atmet tief durch, genießt die Freiheit, die er spürt, während er das vertraute Geräusch der sich nähernden Schritte hört. Wieder einmal kommen sie – die Schornsteinfeger.
Diesmal hat er die Fenster absichtlich offen gelassen, als ob er ihnen eine Einladung anbieten würde, die er nie ausspricht. Aber natürlich wird er die Tür nicht öffnen, das bleibt fest. Stattdessen bleibt er in seinem Versteck, versteckt hinter dem dünnen Stoff, beobachtet sie heimlich, wie sie durch den Innenhof marschieren, die Leiter an die Fassade lehnen und schließlich aufs Dach klettern.
Er spürt ein eigenartiges Kribbeln, als einer der Schornsteinfeger kurz innehält und in seine Richtung schaut. Haben sie ihn gesehen? Der Gedanke, dass sie ihn vielleicht erkannt haben, setzt sich in seinem Kopf fest. Es ist, als ob dieser eine Blick mehr verraten hätte, als er bereit war zuzugeben. Plötzlich fragt er sich, ob sie wissen, wer er ist – ob sie sein Gesicht kennen.
Er zieht sich ein Stück zurück, weg vom Fenster, aber nicht weit genug, um die Schornsteinfeger aus den Augen zu verlieren. Da ist ein Gedanke, der ihn nicht loslässt: Was wäre, wenn er ihnen im Supermarkt begegnen würde? Würden sie ihn erkennen? Und würde er sie erkennen?
Er kann sich nicht erinnern, jemals auf einen von ihnen außerhalb dieser jährlichen Besuche getroffen zu sein. Doch jetzt, wo der Gedanke in seinem Kopf herumspukt, erscheint ihm die Vorstellung fast zwangsläufig. Vielleicht sind sie ihm schon oft begegnet, anonym, unauffällig, als Teil der Masse. Wie würde es sein, einem von ihnen in die Augen zu sehen, in der normalen Welt, wo keine Zunft, keine Regeln existieren?
Und vor allem: Ist er wirklich der Einzige, der sich gegen diese alte Tradition auflehnt? Sind die anderen Mieter einfach nur angepasst oder gibt es noch andere wie ihn, die im Stillen rebellieren? Der Gedanke, dass er Teil einer kleinen, stillen Bewegung sein könnte, lässt ihn kurz lächeln. Aber die Wahrheit ist, dass er es nicht weiß. Und vielleicht wird er es nie wissen.
Er zieht die Vorhänge wieder zu und tritt vom Fenster zurück. Er kann ihre Stimmen gedämpft hören, das Geräusch der Bürsten, die über den Schornstein kratzen. Doch seine Gedanken schweifen bereits ab, zu den unbeantworteten Fragen, die nun in seinem Kopf schwirren. Ein kurzer Blick, eine flüchtige Begegnung – und plötzlich ist er sich seiner selbst nicht mehr so sicher.
Er beschließt, beim nächsten Einkauf besonders aufmerksam zu sein. Man weiß ja nie.