Pink Floyd und Helmut Kohl

Ich bin 15 und es ist noch kein Tag seit meiner Geburt vergangen, an dem Helmut Kohl nicht Bundeskanzler war. Das „Argument“ eines Mitschülers aus der Grundschule hat sich bei mir eingebrannt: Bundeskanzler und Kohl – das gehört einfach zusammen, auf Bundeskanzler folgt Kohl, das sei ja wohl klar. Für mich ist damals klar: Kohl muss weg! Das war schon in meiner Kindheit die von meinen Eltern kritiklos übernommene politische Meinung.

Auf einem alten der Familie meiner Mutter aus den 1970ern in Monheim am Rhein prangt ein großer, roter Aufkleber: SPD, was sonst? Einmal fragte ich meinen Vater, ich war noch sehr klein: „Über Helmut Kohl werden im Fernsehen ständig Witze gemacht, gerade wieder. Ich frage mich: Wer wählt den denn überhaupt noch?” Mein Vater überlegte kurz, antwortete dann: „Die, die die Witze nicht verstehen.”

Die Aussicht auf Rot-Grün machte mir mit 15 Hoffnung. Es sind die Parteien, die meine Eltern immer wählten: Meist Erststimme SPD, Zweitstimme Grüne. Einmal, als ich meinem Vater bei der Bundestagswahl 1994 über die Schultern schaue, bemerke ich, dass er nicht wie vorher angekündigt mit der Erststimme SPD und Zweitstimme Grüne wählt, sondern mit beiden Stimmen grün. Ja, sagt er danach, „Ich finde diesen Scharping einfach zu unsympathisch.“

Um mich herum interessiert die herannahende Bundestagswahl 1998 so gut wie niemanden. Wählen darf sowieso noch keiner meiner Freunde. Mein Freund Philipp würde die CDU wählen, wenn er könnte, denn: „Es geht uns doch gut.“ Tatsächlich fällt mir das passende Gegenargument erst später ein, als das Gespräch schon vorbei ist: „Ja, uns vielleicht – aber vielen Millionen anderen?“

Als ich bei einer Verabredung erwähne, dass ich den kommenden Sonntag abends gerne den Ausgang der Wahl im Fernsehen verfolgen möchte, schauen mich die anderen verdutzt an: „Mich interessiert das gar nicht”, sagt einer. „Ja, wäre ganz schön, wenn auch mal die SPD regiert, aber was würde sich schon ändern?“ Mit meinem Entgegenfiebern auf die Bundestagswahl bin ich also allein.

Vielleicht ist es auch diese Einsamkeit in Dingen, die mir wichtig sind, die meine Art des Eskapismus befeuern. Genau 30 Jahre zuvor war 1968. Was für eine Zeit: Die Jugend politisiert, Studenten auf der Straße. Später in einer Dokumentation über die Zeit – ich glaube es war „Pop 2000“ und ich glaube es war Hugo Egon-Balder, der das sagt – höre ich das Zitat: „Über Politik reden war damals die einfachste Art eine Frau ins Bett zu kriegen.“ Ich bin einfach in der falschen Zeit geboren, denke ich.

Von den Eltern meines Freundes Philipp habe ich mir das Pink-Floyd-Album „The Wall“ auf Kassette überspielen lassen. Es ist zwar 1979 erschienen, aber für mich atmet es damals den Geist der 60er. Ich höre die Kassette rauf und runter – mit Kopfhörern. Keinem meiner Freunde erzähle ich davon. Wenn sie über die damals angesagte Musik reden, der aufkommende deutsche Hip Hop oder die harte elektronische Musik des Mayday, fühle ich mich wie ein Zeitreisender, der im falschen Jahrzehnt gestrandet ist.

An meinem wuchtigen Holztisch in meinem lange Kinder-, jetzt Jugendzimmer ist eine kleine, billige Kompaktanlage aufgebaut. Der CD-Ständer im kubischen 90er-Jahre-Pyramiden-Design und ein paar Audio-CDs mit aktuellen Charthits, die mir meine Mutter von Zeit zu Zeit mitgebracht hat (zum Beispiel eine „What is love”-Single von Haddaway) verstaubt. Stattdessen läuft die Pink-Floyd-Kassette. Ich imaginiere ein anderes Leben.

Ein weißer VW Käfer fährt 1967 zu einer Demo. Das Bild erzeugt in mir einen wohligen und zugleich melancholischen Schauer. Ich spüre Nostalgie für eine Zeit, die ich nie erlebt habe. Für eine Zeit vor meiner Geburt. Ich sitze vor meiner Kompaktanlage, die Kopfhörer auf – allein.

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