Max
Max war Teil des Möbiliars meines Kinderzimmers. Immer schon da, so lange ich mich erinnern konnte. Ich weiß nicht mehr, wie er dorthin gekommen war. Wahrscheinlich hatten ihn meine Eltern gekauft. Max war ein Pferd aus Stroh. Ich mochte es mich auf Max zu setzen und die Beine fest an den Körper zu pressen. Mein Kinderzimmer in einer Düsseldorfer Altbauwohnung war wenig bemerkenswert – außer, dass es recht groß war. Hohe Decken, hohe weiß gestrichene Holztüren mit milchigen Fensterglas, sodass Licht hinein schien, sobald jemand im Flur das Licht anknipste. Der Teppich ist grau und flauschig, der Heizkörper unter dem Fenster massiv und aus Metall.
Durch die doppelflügel Fenster kann ich auf die Hauptstraße herunterblicken. Abends nimmt mich mein Vater auf den Arm und wir sagen zwei Linienbussen gute Nacht: dem 834er und dem 835er. Sind beide vorbeigefahren, weiß ich, dass es Zeit ist, ins Bett zu gehen.
Irgendwann kamen meine Eltern auf die Idee, dass es Zeit sein könnte, mich von Max zu trennen. Der Gedanke daran löste bei mir kein Gefühl aus. Erst als mein Vater erwähnte, dass wir dann gemeinsam zur Müllverbrennungsanlage fahre würden, bin ich plötzlich Feuer und Flamme für die Idee. Eine Müllverbrennungsanlage, riesige Maschinen, wie aufregend!
Mein Vater war ein eher schmächtiger Mann – müdes, schmales Gesicht, die Jahre des Büro- und Alltagsstress waren schon in seinen 30ern sichtbar. Mit seiner üblichen Kombination aus Alltagsjeans und Hemd wirkte er wie jemand, der immer halb im Büro war – technischer Angestellter bei PKL, die Papier- und Kunststoffwerke in Linnich. Er war – ganz im Gegensatz zu meiner Mutter – schüchtern, wortkarg und sensibel.
Wir fahren mit unserem schon damals in die Jahre gekommenen weißen Audi 80, Max im Kofferraum, zur Müllverbrennungsanlage. Ich mag das Auto – die Gemütlichkeit, wie „technisch“ die Tachos aussehen, der künstliche Geruch nach Stoffbezug. Später werden meine Eltern das Auto für 100 Mark verkaufen.
Das nächste, an das ich mich erinnern kann, ist eine der erste Erinnerungen, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt haben: Ich stehe – glaube ich – rechts neben meinem Vater, wir schieben Max gemeinsam (?) herunter auf ein Laufband, das sich in Richtung Müllverbrennungsanlage bewegt. Das hat sich noch nicht eingebrannt, wohl aber das Bild, das dann folgt: Max liegt auf dem Laufband, davor und danach anderer Müll, den die Düsseldorfer damals so hinunterwerfen.
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag: Max wird nicht wiederkommen. Da unten liegt er, unerreichbar für mich, unüberbrückbar weit weg, unumkehrbar fährt er in Richtung Müllverbrennung. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag, ein Gefühl wie ein Schlag in die Magengrube, ohne dass ich damals gewusst hätte, wie sich das anfühlt. Ich kann nicht weinen.
Plötzlich erinnere mich daran, dass mich meine Eltern immer wieder gefragt hatten, ob es wirklich in Ordnung ist, wenn wir uns von Max trennen und ich mehrfach bejahte. Ich fühle mich schuldig, vielleicht das erste Mal in meinem Leben. An die Rückfahrt kann ich mich nicht erinnern, aber ich stelle mir vor, dass ich nichts oder fast nichts sagte. Schweigen konnte ich schon immer gut – mein Vater ebenfalls. Meiner Erinnerung nach werde ich kein Wort mehr über Max verlieren.
Wenn Besuch kommt und fragt: „Wo ist Max?” bin ich froh, dass meine Mutter oder mein Vater antwortet. „Den haben wir weggeworfen“, sagen sie unbekümmert.