Schmerz-Radio auf 104,6
Er stellt die Frequenz des Schmerz-Radios auf 104,6. Die Emotionslautstärke etwas höher als gestern, er fühlt sich bereit. Die Melancholie breitet sich langsam aus, süßer Schmerz, umarme mich.
Die Ein-Zimmer-Wohnung im Quadranten E67 ist nur fahl beleuchtet. Layard ist es wichtig, dass seine am Fenster montierte Solaranlage mit Batterie im Zweifel, bei Stromausfall, reicht, den Kühlschrank weiter zu betreiben, die Funkverbindung zum E67-Netz zu halten und eine fahles LED-Notbeleuchtung bereitzustellen. Damit kann er, wenn es mal sein müsste – aber so lange hat es noch nie gedauert – 48 Stunden durchhalten.
Bittersüßer Schmerz. Früher hatte Layard wenige Gefühle gehabt. Wahrscheinlich waren es meistens Gedanken gewesen – und dann überwiegend negative. Das Gefühl, das er noch am besten kannte, am klarsten trennen konnte von dem Klumpen seines Inneren, war Angst.
Als er vor fünf Jahren das alte, längst aus der Mode gekommene Schmerz-Radio auf dem Dachboden seiner Mutter gefunden hatte, änderte sich das. Schmerz war anders. Schmerz war tief, traurige Schönheit – das Gefühl den Schmerz der anderen zu spüren war für ihn berauschender als das Excelsior, das er einmal ausprobierte. E machte Spaß, das Schmerz-Radio machte traurig, ehrfürchtig – die intensiven Gefühle der anderen war das Tor zu einem inneren Universum..
Er hat Urlaub und mehrere Abende am Stück bereits mit dem Schmerz-Radio verbracht. Die Gefühle waren vielleicht auch deshalb so intensiv, so körperlich – weil es auch viele Gefühle von Frauen waren, auf jeden Fall von anderen, die er empfang, so tief, fein schattiert, so ausdifferenziert wie er von alleine nie in der Lage gewesen war zu fühlen. Es war so echt, die wahre Essenz des Lebens – ein spirituelles Erlebnis ohne Gott. Schmerz-Radios sind ja noch legal, denkt er sich, weil sie eben nicht süchtig machen. Nur noch in dieser Welt des Schmerzes, das hält ja schließlich niemand aus, nicht täglich, nicht über mehrere Stunden.
Heute ist da wieder dieses tiefe Gefühl auf dieser Frequenz, das ihn nicht loslässt. Ein abgrundtiefer Schmerz, da er klar empfangbar ist, von ganz besonderer Reinheit. Sehr ausdifferenziert. Ob da jemand über sein verlorenes Kind trauert? Es musste eine ganz besondere Trauer sein.
Er dreht die Gefühlslautstärke auf Maximum.
Es wird schwärzer, vielleicht doch zu viel? Nein, da ist noch etwas anderes, hinter dem Schmerz. Warum fühlt sich diese Trauer so schön an? Er hatte den Verdacht schon länger: Wenn ein Gefühl besonders intensiv ist, dann trägt es immer auch Fetzen anderer Gefühle mit sich. Normalerweise kommt nicht viel mit bei Schmerz und Trauer, das Gefühl überlagert alles. Dieses Gefühl aber – er taufte es spontan Engel-Trauer auf 104,6 – transportierte etwas mit. Ehrfurcht. Trost. Weisheit über das Leben. Wer auch immer dieses Gefühl sendet, er sollte diese Person treffen, schießt es Layard durch den Kopf.