Fußball, Neurodivergenz und Ton Steine Scherben
Irgendwann Ende der 70er Jahre am Erdrand:
“Hey, Erdrandbewohner, was ist überhaupt dein Lieblings-Fußballverein?!”
Ich war etwa 8 Jahre alt. Die Jungs aus meiner Siedlung oder aus der Schule waren besessen von Fußball, spielten jede freie Minute auf dem Bolzplatz und konnten sich stundenlang über Vereine unterhalten und irgendwelche Fußballspieler für irgendwelche Fußball-Heldentaten anhimmeln.
Mich hingegen interessierte Fußball überhaupt nicht. Sportbegeisterung war bei mir nie vorgesehen. Bei meinem Vater übrigens auch nicht. Die schönsten Vater-Sohn-Wanderungen unternahmen wir während der Fußball-Endspiele von Europa- und Weltmeisterschaften.
Aber zurück zu der Frage der anderen Jungs. Ich glaube, sie wurde mir gestellt, als wir auf den Schulbus warteten:
“Hey, Erdrandbewohner, was ist überhaupt dein Lieblings-Fußballverein?!”
Ich geriet sofort in Stress. Jetzt bloß nix Falsches sagen. Ich durchforstete mein Hirn nach Gesprächsfragmenten. Nach irgendetwas, was ich mal über Fußballvereine aufgeschnappt habe. HSV? Ist der cool? Darf man den gut finden? Ist der überhaupt in der Bundesliga? Oder wie heißt der Verein, der hier in der Region gemocht wird? Mainz? Kaiserslautern?
Gottseidank fiel mir ein, dass man Sepp Maier (ich habe ihn tatsächlich mal im Fernsehen gesehen!) super findet und dass er bei FC Bayern-München spielt. Also sagte ich vordergründig ganz lässig: “Mein Lieblingsverein ist der FC Bayern-München!”. Kaum hatte ich es ausgesprochen, bekam ich Schiss. War das jetzt eine richtige Antwort? Hoffentlich kommen keine Nachfragen. Als ich merkte, dass die Jungs meine Antwort akzeptierten, atmete ich auf. Aber natürlich gabs diesen einen Klugscheißer, der es nicht dabei belassen konnte, sondern auch noch wissen wollte, wer denn meine Lieblingsspieler beim FC Bayern-München seien. “Sepp Maier und Paul Breitner!”, sagte ich mit einem Brustton der Überzeugung. Tja, ein gefundenes Fressen für den Klugscheißer: “HÄ?! Paul Breitner ist doch gar nicht beim FC Bayern-München!”. Mir fiel mein Herz in die Hose. Nicht? Ohje. Scheiße... Da wurde ich von einem anderen Jungen gerettet. “Aber Breitner WAR lange bei Bayern!”. Dann passierte etwas anderes und das Thema war vergessen. Uff.
Warum ich das erzähle? Nun, weil das ein Beispiel dafür ist, wie wenig ich seit je her mit dem ganzen “typischen” Jungs-Kram anfangen konnte. Überhaupt hing ich verdächtig häufig und gerne mit Mädchen ab. Aber nicht mit irgendwelchen Mädchen, sondern mit denen, die wenig mit dem “typischen” Mädchenkram anfangen konnten. Bei ihnen fühlte ich mich wohl, ich musste nichts spielen, was ich nicht war und wir hatten oft verdammt interessante Themen. Zumindest galt das für ein paar Jahre, dann grätschte uns die Pubertät dazwischen und machte die Welt für uns alle sehr kompliziert und seltsam.
Doch versteht mich nicht falsch: Ich liebte manche Jungs-Dinge. Wie zum Beispiel die Dunkel-Prügeleien während der 5-Minuten-Pause in der Schule im Schulklo. Sobald es klingelte, rannten wir zum Klo. Diese Toilette hatte keine Fenster, wenn man das Licht ausschaltete, war es stockfinster darin. Sobald wir fünf oder mehr Jungs waren, wurde die Türe verrammelt, das Licht ausgeschaltet und wir fielen übereinander her, nahmen uns in den Schwitzkasten, zerrten an Armen, Beinen oder nicht identifizierbaren Körperteilen, bis wir zum Schluss alle schwitzend und lachend auf einem Haufen lagen. In dieser Zeit verzweifelten meine Eltern daran, dass ich ständig neue Brillengläser und neue Gestelle brauchte, weil sie mir beim “Schulsport” kaputtgegangen waren.
Eigentlich hat sich daran bis heute nichts geändert, also damit, dass ich mit den Zuschreibungen von Geschlechterrollen nichts anfangen kann, und wenn eine “männliche” markierte Eigenschaft auf mich zutrifft, dann ist das purer Zufall. Mit meinem männlichen Körper bin ich sehr fein. Doch wenn mir jemand sagen möchte, was männlich oder weiblich ist, dann irritiert mich das – und wenn damit ich gemeint werde, dann macht mich das sauer.
Mir passiert es häufiger, dass ich einige dieser “richtigen Männers” verwirre, einfach in dem ich so bin wie ich bin. Mit mir kann man nicht über Autos reden. Das Erstaunen ist grenzenlos, wenn sie erfahren, dass ich noch nicht einmal einen Autoführerschein gemacht habe. Wenn ich erzähle, dass ich einen Motorradführerschein habe, wollen sie mit mir über Motorräder reden und verzweifeln, weil ich ihnen nur einen Vortrag über MZs halten kann, also die DDR-Motorradmarke, die ich jahrelang fuhr. Diese Motorräder sind wirklich fernab von RÖÖÖÖööööhrrrrr und 250 km/h auf der Autobahn. Fußball? Ein anderer Fernseh-Sport? Fehlanzeige. Bier trinken? Bäh! Frauen? Ich rede nicht über Frauen als solche, nur über Personen. Statussymbol Job? Haha, ich mache das, was man als Care-Job bezeichnet. Sehr, sehr uncool für gewisse Herren.
Und genau diese Typen sind es dann auch, die ich so sehr verwirre, dass sie mir gegenüber passiv-aggressiv werden. Weil sie mich nicht einordnen können. Ich bin ein groß gewachsener Mann mit Bart, mit einer Frau verheiratet, also eigentlich ein CIS-Mann. Aber ich spreche nicht ihre Männer-Sprache, nutze ihre Codes nicht (sofern ich sie kenne) und habe kein Interesse an irgendwelchen Dominanzspielchen.
Und dann gibt es noch die anderen Typen, die nach außen hin das ganze Männlichkeits-Kasperletheater mitspielen, aber sobald sie mit mir alleine sind, komplett in einen unmaskierten Modus switchen. Kurz vorher haben sie sich von einem Kumpel mit einer “Höhöhö, jo Bro!”-Rückenklopfer-Halbumarmung verabschiedet und erzählen mir Minuten später ernsthaft von ihren Beziehungsproblemen oder davon, wie scheiße sie sich in ihrem Job fühlen.
Und das verwirrt dann mich. An welchem Punkt genau wurde ich plötzlich der beste Freund, dem man solche Privatheiten erzählt? Und warum gilt dieser private Modus nur so lange, wie ich mit diesem Typen alleine bin?
Ich verstehe weder das Rollenverhalten bei männlich und weiblich gelesenen Personen, noch entspreche ich den Rollenerwartungen. Jedes Rollenverhalten ist eine Maske, schlechtestenfalls wurde diese Maske zu einer falschen Identität. Ich kann aber nur in Beziehung mit dem authentischen Menschen hinter der Maske treten. Jede Schauspielerei, jede Maske ist für mich ein Hindernis, das ich sehr schnell erkenne, aber nicht überwinden kann. Ganz ehrlich? Ich möchte dieses Hindernis auch gar nicht überwinden. Es ist nicht mein Job, sowas zu tun.
Wenn die Definition bei Wikipedia richtig ist, dürfte ich “Queer” sein. Ich spreche dieses Wort gerne deutsch, also wie “Quer” aus. Fragt nicht... ;–) Im Wikipedia-Artikel heißt es:
“Queer ['kwɪə(ɹ)] ist heute eine Sammelbezeichnung für sexuelle Orientierungen, die nicht heterosexuell sind, für Geschlechtsidentitäten, die nichtbinär oder nicht-cisgender sind, sowie Lebens- und Liebesformen, die nicht heteronormativ sind.”
Meine Geschlechtsidentität ist offenbar nichtbinär, weil ich nichts mit den Rollenbildern und den Zuschreibungen anzufangen weiß und sie grundsätzlich scheiße finde. Weil ich es als puren Zufall empfinde, dass ich mit meiner wunderbaren Liebsten eine weibliche (!) Lebenspartnerin gefunden habe. Die übrigens Bi ist. Aber das nur am Rande.
Ich habe an verschiedenen Stellen gehört und gelesen, dass in der queeren Szene extrem viele neurodivergente Menschen zu finden sind. Ob dem so ist, kann ich nicht sagen, aber grundsätzlich macht das sehr viel Sinn. Denn gerade wir Autist:innen haben keine Verträge mit gesellschaftlichen Normen und Ansprüchen. Selbst wenn wir versuchen, sie zu verstehen und diesen Regeln und Ansprüchen nachzukommen, versagen wir früher oder später dabei. Oder wir werden krank, weil die Regeln der neurotypischen Mehrheit unserem So-Sein zuwiderlaufen.
Und das, ihr Lieben, sehe ich als Superkraft: Die meisten neurodivergenten Menschen sind von Geburt an zur Authentizität verdammt. Wir können unser So-Sein verbergen, verleugnen und sogar hassen – aber davon wird unsere Seele krank.
Ich für meinen Teil werde mich Stück für Stück auf in der Vergangenheit angeeignete NT-Kackscheiß-Normen überprüfen, ihre Auswirkungen auf mich untersuchen und sie dann ggf. fallen lassen.
Rio Reiser und die Ton Steine Scherben sangen “Ich will ich sein”. Für mich hingegen gilt: Ich MUSS ich sein. Anders kann ich nicht sein...