Wenn zwei neurodivergente Menschen nach Paris reisen
Ein Bericht. Tag 3, Tag 4, die Rückfahrt und das Fazit
Tag 3
Der Tag begann, ihr ahnt es vielleicht bereits, mit dem Duft von frisch gebackenen Croissants und vom heißen Brot direkt aus dem Ofen. Aber das bekam ich nur halb bewusst mit, denn ich wurde kaum wach, schlief immer wieder ein oder befand mich in einem Halbschlaf mit wirren Träumen. Irgendwann klingelte mein Handy-Wecker. Höchste Zeit aus dem Bett zu krabbeln, denn sonst könnte es knapp mit dem Hotelfrühstück werden.
Meine Liebste war ähnlich angematscht, was nach dem gestrigen Tag niemanden verwunderte. Heute, ja, heute aber würden wir wirklich langsam machen und auf unsere Bedürfnisse hören! Jawollja!
Also machten wir uns tagesfein, fuhren mit dem wohl kleinsten Personenaufzug der Welt (etwa einen halben Quadratmeter groß, aber angeblich für vier erwachsene Personen geeignet) runter zum Frühstück. Warum zum Geier läuft immer dieser scheiß Fernseher im Essensraum? WARUM?! Der Rezeptions-Mensch glaubte uns sogar einen großen Gefallen zu tun, als er statt eines gruselig-aufgekratzten Senders nun ARTE-Sendungen laufen ließ, damit wir aufgrund der deutschen Untertitel an seinem Fernsehspaß teilhaben konnten. An diesem Morgen wünschte ich mir die alten Röhrenfernseher herbei, die so einen befriedigenden, dumpfen Implosionsknall von sich gaben, wenn man die Mattscheibe mit einem Stein, einer Axt oder einem Vorschlaghammer zertrümmerte. Wir brachten unser Frühstück schnell und ohne Zerstörungen hinter uns, holten auf dem Zimmer unsere Taschen und machten uns auf – heute gings zum berühmten Friedhof Père Lachaise. Mehr hatten wir uns nicht vorgenommen, alle anderen Ideen waren nur Optionen.
Aber zuerst wieder in unsere Endgegner-Metrolinie 11. Und ja, es war mal wieder sehr voll und herausfordernd. Doch gottseidank, nach nur zwei Stationen mussten wir in der Station Belleville umsteigen, in die Linie 2. Wie leer und lieb uns die Linie 2 doch war! Ja, SO gehört das! Sitzplätze, kein Gedränge! Wunderbar! An der Station Philippe Auguste stiegen wir aus und kletterten an die Oberfläche. Eine auf den ersten Blick eher unattraktive Gegend, aber es ging uns ja heute um den Friedhof, dessen Westeingang, ein paar hundert Meter von der Station entfernt lag. Hier befindet sich der älteste und malerischste Teil.
Ich bin davon überzeugt, dass man den Friedhof Père Lachaise am besten an einem kalten und düster-nebeligen Novembertag besuchen sollte, wenn man den morbiden Charme verfallender Pracht, kahler Bäume und krächzender Raben in seiner ganzen Tiefe erleben möchte. Ein kühler, bewölkter Februartag geht aber auch, doch braucht es etwas mehr Phantasie, denn lärmende Kinder einer nahen Schule und die in Erwartung des Frühlings tschilpende Spatzen störten ein wenig die Reflektionen über den Tod und die Vergänglichkeit.
Wir liefen stundenlang zwischen den Grüften umher, machten viele Fotos, genossen die Stille, folgten irgendwann einer kleinen Gruppe junger, schwarz gekleideter, spanisch sprechender Menschen, von denen wir annahmen, dass sie zum Grab von Jim Morrison unterwegs waren. Herrjeh, wie kann man auf so einem tollen Friedhof so zielstrebig unterwegs sein, ohne die Besonderheiten und die Schönheit des Ortes mit auch nur einem Blick zu würdigen? Es muss schlimm sein, an Neuronormativität zu leiden...
Das bemerkenswerteste an Morrisons unscheinbarem Grab waren die Absperrungen mit mobilen Bauzäunen davor, der von den Besucher*innenmassen völlig plattgetrampelten Boden und ein großer Baum, der mit einer Sichtschutzmatte aus Stroh umwickelt war, an dem tausende und zig tausende Kaugummis klebten. Was für ein trauriger Ort und was für eine erbärmliche Form der Verehrung eines Idols!
Viel spannender als das Grab von Morrison fand ich die verfallenen Grüfte und Gräber, deren Bodenplatten zerbrochen waren, so dass man einen Blick auf zerstörte Särge mit den Knochen seiner Besitzer*innen werfen konnte. Manche der Grüfte dienten offenbar Obdachlosen als Wohnstätte, jedenfalls lagen Schlafsack und Habseligkeiten herum. Wie viel Geld einst die Angehörigen in die Errichtung eines prächtigen Grabtempels investiert hatten, um mit ihrem finanziell-gesellschaftlichem Status zu protzen! Heute gibt es nur noch wenige der alten, prächtigen Grufthäuschen, die gepflegt und in Schuss gehalten werden. Die meisten Grabhäuser befinden sich in variablen Zuständen des Verfalls, die Toten sind längst vergessen und die Nachkommen interessieren sich nicht dafür.
Je weiter man sich vom Westeingang fortbewegt, desto jünger werden die Gräber. Man kann hierbei sehr schön den Wandel der Bestattungskultur beobachten. Es wird schlichter, aber auch individueller. Monumentale Grabstätten waren kaum noch zu sehen. Dafür gibt es jetzt bevorzugte Ecken, in denen sich Kommunistinnen oder Jüdinnen bestatten ließen. An der Mauer der Kommunarden entdeckte ich zufällig das Grab von Laura Lafargue, geborene Marx, eine der Töchter von Karl Marx. Zusammen mit ihrem Mann Paul Lafargue schied sie 1911 freiwillig und selbstbestimmt aus dem Leben. Sie liegen im Familiengrab der Familie Longuet bestattet, die heute noch das Erbe von Karl Marx lebendig hält. Lenin soll bei der Beerdigung der beiden eine Rede gehalten haben.
Oscar Wilde besuchten wir, Edith Piaf, Max Ernst und Max Ophüls. Das Grab des ukrainischen Anarchisten Nestor Machno und das eines Jürgen (dem Onkel eines Mastodon-Followers) fand ich trotz einiger Suche leider nicht, hinterließ aber vor mich hin gemurmelte Grüße.
Obwohl wir nur einen kleinen Teil des Friedhofs gesehen hatten, verließen wir fußmüde und durchgefroren das Reich der vergessenen und unvergessenen Toten durch den Ostausgang. Unsere Hoffnung war es, ein kleines und ruhiges Café zu finden, um uns dort etwas aufzuwärmen und auszuruhen. Und das fanden wir dann auch schnell: Ein einfacher, kleiner Raum hinter einem großen Schaufenster, die Wände am Fenster schimmelig, der Putz an den Wänden abblätternd. Tische und Stühle vom Sperrmüll, eine gebrauchte Theke, deren beste Zeit schon seit Jahrzehnten vorbei war. Das Café war gut besucht von einem studentischen, links-alternativ gelesenem Publikum. Das Alleinstellungsmerkmal dieses Cafés war wohl der Kaffee aus Argentinien. Und der Zustand der Einrichtung, der alle bürgerlichen Vorstellungen von Behaglichkeit und Wohnlichkeit verhöhnte und verspottete. Die Bedienung war nett, der Kaffee heiß und lecker, wir tauten auf und überlegten, wie es nun weiter gehen könnte.
Meine Liebste schlug vor, uns die Kirche Saint Augustin anzuschauen, auf die ich während der Vorbereitungen zum Parisurlaub durch Zufall gestoßen bin und äußerst spannend fand. Mit der Metrolinie 3 ging es vom nahe gelegenen Place Gambetta zu einer Station, deren Namen ich vergessen habe. Die Metro war erträglich, spuckte uns aber an einem höllisch belebten und dementsprechend lauten Ort aus – an einem der Prachtboulevards. BÄNG! Stress subito! Erstmal orientieren. Scheiße, echt jetzt, diese höllisch laute Straße noch ein gutes Stück entlang? Um der Situation zu entfliehen, rannten wir fast. Nur noch um diese Ecke und… Ah, da steht die Kirche ja!
Die Kirche ist ein äußerst seltsames Bauwerk. Sie ist noch jung, erst 1871 wurde sie fertig gestellt. Stilistisch wird sie dem Historismus, genauer dem Eklektizismus zugerechnet. Romanik, Gotik und Renaissance verschmelzen zu etwas ganz eigenem, und erstaunlicherweise gefiel es mir sehr. Der Grundriss des Gebäudes ist trapezförmig, ein recht schmaler Eingangsbereich weitet sich, um einen gigantischen Chorbereich mit einer ebenso gigantischen Kuppel darüber. Was diese Kirche wirklich einzigartig macht: erstmals wurde hier ein Tragwerk aus prächtig verziertem Gusseisen verwendet, die Steine des Mauerwerks selber sind nur Blendwerk und haben keine tragenden Funktionen. Wenn man das Kirchenschiff empor schaut, dann wird man an eine alte Markthalle erinnert. Und das ist überhaupt kein Wunder, denn der Architekt dieses Kirchengebäudes entwarf einst die berühmten, aber im Modernisierungswahn der 60er und 70er Jahre abgerissenen Markthallen von Les Halles.
Wir beschlossen, dass wir genug gesehen hatten für den Tag. Nach Hause, ins Hotel! Und Abends wollten wir essen gehen. Meine Liebste, gleichzeitig auch meine Beauftragte für Genussfragen, hat uns ein super bewertetes vietnamesisches Restaurant in Belleville herausgesucht, ganz in der Nähe unseres Hotels. Es war ebenfalls meine Liebste, die mich davon überzeugte, dass wir besser mit dem Bus nach Belleville fahren, denn sie hatte mit nur einem Blick auf ihr Handy eine Linie herausgefunden, die nicht weit unseres Standorts quer durch die Innenstadt bis zur Haltestelle direkt bei unserem Hotel fährt.
Wir bekamen sogar Sitzplätze und genossen sowohl die Aussicht als auch das Sozialverhalten der Pariser*innen in den Bussen des ÖPNVs. Es ist auffällig, dass vor allem ältere Personen lieber mit dem Bus als mit der Metro fahren. Zum einen sind die alten Metrostationen innerhalb der alten Stadtgrenzen in keinster Weise barrierefrei. Zum anderen ist die Fahrt mit der U-Bahn, ihr habt es ja bereits mitbekommen, meist enorm stressig und überfordernd.
Auch der Bus füllte sich schnell, aber alle Fahrgäste verhielten sich äußerst aufmerksam und freundlich einander gegenüber. Wer schlecht zu Fuß war, dem wurde sofort ein Sitzplatz angeboten. Wildfremde Leute begannen freundliche Gespräche, zusammen organisierte man, dass eine Frau mit Kinderwagen einsteigen konnte, obwohl eigentlich kein Platz mehr war. Niemand murrte, alle rückten zusammen. Ein alter Mann kramte in seiner Tasche herum, fischte Süßkram daraus hervor, überreichte es einem überraschten, den Klamotten nach armen Papa, der es an seine zwei wunderschönen kleinen Kinder weiterreichen sollte. Es war trotz des vollen Busses eine insgesamt sehr angenehme und spannende Fahrt. Und die Krönung des Ganzen: Als wir ankamen, hatten wir noch so viel Energie, dass wir uns in das kleine Bistro bei unserem Hotel setzten, noch etwas tranken, und kleine, süße Köstlichkeiten aus Nordafrika probierten.
Wir ruhten ein wenig aus, dann machten wir uns auf den Weg zum Restaurant. Zu unseren hart erlernten Skills als neurodivergente Menschen gehört es, dass wir im Restaurant (natürlich mit Reservierung) aufschlagen, sobald es gerade geöffnet hat und noch nichts los ist. Diesen Trick kann ich nur empfehlen. Der Service ist dann noch sehr entspannt und besonders zuvorkommend, das Essen ist schnell da, und wir sind fertig, wenn es beginnt so richtig voll und laut zu werden.
Das passte auch diesmal prima. Wir waren die ersten Gäste in den kleinen, aber echt nett gestalteten Räumlichkeiten. Der kommunikative und hyperaktive Kellner glaubte offenbar, dass es in Deutschland keine vietnamesische Küche gäbe und vermittelte uns so wortreich wie in einem schlechtem französisch die Vorzüge seiner Landesküche. Er erklärte uns detailreich die Speisekarte und empfahl uns die passenden Getränke. Vor allem passte seiner Ansicht nach zu allen Gerichten Bier. Vietnamesisches Bier. Oder chinesisches Bier. Kambodschanisches Bier sei aber auch nicht zu verachten. Zwar hätte er auch Wein da, aber der sei halt nicht landestypisch. Da ich aber keinen Alkohol trinke, musste ich mit einer süßen Kokoswasser-Plörre mit Fruchtstückchen drin vorlieb nehmen. Aus der Dose. Immerhin eisgekühlt.
Ich bestellte was mit Ente und Orange. Meine Liebste hatte Lust auf eine Schüssel Bun Bo, das ist ein herrlich würziger Reisnudelsalat, allerdings statt mit Rindfleisch mit vielen Garnelen. Und wahrscheinlich hieß das Gericht gar nicht Bun Bo, weil Bun, wenn ich es korrekt im Gedächtnis habe, Rindfleisch heißt. Ist ja auch egal, denn meine Liebste riss nach dem ersten Bissen die Augen auf und verkündete begeistert, wie unglaublich lecker ihr Essen doch sei. Meine Ente auf Orange kam auf einem Eisenpfännchen brutzelnd frisch aus dem Ofen. Es war das köstlichste vietnamesische Gericht, das ich je in meinem Leben gegessen habe.
Während wir aßen, lief der Laden voll. Alle Tische waren nun belegt, immer wieder kamen Leute rein um telefonisch bestelltes Essen abzuholen. Der Kellner, er war wahrscheinlich auch der Besitzer, konnte endlich seine Hyperaktivität produktiv ausleben und schmiss, um die eigene Achse wirbelnd, alleine den Service. Wenn wir uns auf das Essen konzentrieren, kommen wir mit Lautstärke und Gewusel ganz gut zurecht, weil unser Fokus uns Sicherheit gibt, bzw. uns ein Stück vor anderen Reizen abschirmt. So hatte ich nur am Rande mitbekommen, dass sich ein älteres Paar an den Tisch neben uns gesetzt hatte. Als meine Liebste mir wiederholt versicherte, wie lecker das doch sei, sprach sie der Mann an, ob wir Deutsche seien, er habe das Wort „Lecker“ verstanden. Er sprach sehr gut Deutsch und so hatten wir noch ein nettes, angenehmes Gespräch mit Leuten, die in Belleville lebten.
Damit endete der Tag 3. Das Fazit des Tages: Alles richtig gemacht! Was ein wunderschöner Tag! Trotzdem waren wir sehr müde. Paris ist so oder so anstrengend.
Tag 4.
Rückblickend möchte ich unseren vierten Tag in Paris „den Tag der Katastrophen“ nennen. Doch beginnen wir mit dem Anfang. Der war sehr schön und startete, ihr vermutet es richtig, mit dem Duft frischer Croissants und heißem Brot frisch aus der Bäckerei in der Nähe. Wir dösten noch etwas, duschten, quetschten uns zu zweit in den Miniaturaufzug, frühstückten, pflegten gemeinsam unsere Gewaltphantasien gegenüber der Glotze.
Heute sollte es in den Jardin des Plantes gehen. Das ist ein historischer, in seinem Kern formal angelegter großer Park auf der südlichen Seine-Seite. Ursprünglich war er der königliche Heilpflanzengarten, später ein botanischer Garten. Er wird eingerahmt durch einen Zoo, durch „die große Halle der Evolution“, ein naturhistorisches Museum, durch Gebäude mit einer mineralologischen und einer botanischen Sammlung sowie durch ein weiteres Gebäude mit einer paläontologischen Sammlung, also mit beeindruckenden Saurier-Skeletten und anderen Versteinerungen. Es gibt mehrere Gewächshäuser, das größte beherbergt Tropenpflanzen. Und in diesem Gewächshaus fand eine große Orchideenausstellung statt. Da wollten wir rein. Nicht wegen der Orchideen, sondern weil uns das viele Grün und die Wärme rief. Und danach, so stellten wir es uns vor, könnten wir entweder die große Halle der Evolution besuchen oder uns die Saurier-Skelette in der paläontologischen Sammlung anschauen.
Die Fahrt mit der Metro war eine einzige Katastrophe, und ich habe sogar vergessen, wie wir gefahren sind und wo wir überall umgestiegen sind. Es war so voll, dass wir mehrere Züge durchrauschen lassen mussten, weil wir uns nicht in die Züge quetschen wollten. Was wir letztlich dann doch tun mussten, weil die Züge immer voller wurden. Ich sah, wie meine Liebste panisch guckte und ganz bleich und gleichzeitig fleckig im Gesicht wurde. Sie bekam eine Panikattacke, also mussten wir an der nächsten Station raus. Ich weiß noch, wie wir verzweifelt herausfinden wollten, wie wir mit dem Bus zum Ziel kommen können, aber dann doch wieder die Metro nehmen mussten. Ich habe nur noch Erinnerungsfetzen an einzelne Situationen, zum Beispiel wie ich versuchte, meine Ohrstöpsel durch meine guten ANC-Ohrhörer auszutauschen, in der Hoffnung, dass sie den Lärm besser filtern. Was nicht wirklich was brachte. Oder dass meine Liebste verzweifelt rief, dass sie den Lärm und das Gewusel nicht weiter ertrage. Ich kann mich daran erinnern, dass alles am Rand meines Sichtfeldes flackerte, dass mein Kreislauf instabil wurde. Mehr können meine Liebste und ich nicht rekonstruieren. Uns fehlt, wie gesagt, schlicht die Erinnerung.
Unsere Erinnerungen setzen erst wieder ein, als wir am Gare de Lyon zittrig und völlig durch an die Oberfläche kamen. Wir wollten ein ruhiges Plätzchen finden und uns kurz ausruhen, auch um nachzuschauen, wie wir nun zum Park kommen, der eigentlich nicht mehr weit entfernt auf der anderen Seine-Seite liegt. Es gab kein ruhiges Plätzchen. Aber wir entdeckten prächtige Wandgemälde im Bahnhof, die die Städte und Landschaften auf der Zugstrecke nach Süden zeigten. Und Meine Liebste entdeckte das berühmte Bahnhofsrestaurant „Le Train Bleu“. Tut euch den Gefallen, befragt eine Suchmaschine danach und staunt über die Bilder!
Wir beschlossen, zu Fuß zum Park zu gehen. Über die Brücke, dann ein paar hundert Meter am Fluss entlang, dann wären wir schon da. Diese Ecke am Gare de Lyon ist laut und hässlich, geprägt vom tosenden Autoverkehr und einer grausamen Klötzchenarchitektur der 70er Jahre. Es wurde saniert, Presslufthämmer zerfetzten uns zusammen mit dem Gehupe der Autos und den Sirenen von Rettungsfahrzeugen die letzten Reste unseres Nervenkostüms. Auf der Brücke geriet meine Liebste erneut in einen Meltdown. Es gab keinen Rückzugsort, wir waren gefangen in einer Blase aus höllischem Lärm und Gewusel. Ich weiß nicht, wie wir es auf die andere Seine-Seite geschafft haben. Ich weiß nur noch, dass ich Notfallpläne schmiedete. So was wie mit dem Taxi zum Hotel fahren. Letztlich haben wir es dann doch bis in den Park geschafft. Die Einzelheiten erspare ich euch.
Im Park, der in den kalten Monaten vor allem den Jogger*innen gehört und als ein erweiterter Schulhof zum Toben für die Kinder der Innenstadt-Schulen dient, hatte ein Kiosk geöffnet. Obwohl ich kaum noch reden konnte, bestellte ich uns zwei Kaffee. Hier saßen wir nun schweigend und aßen unsere Notfall-CBD-Fruchtgummis, tranken unseren Kaffee. Langsam, sehr langsam kamen wir wieder zurück ins Leben, konnten wieder vorsichtig miteinander kommunizieren. Uns wurde kalt. Zeit, ins Gewächshaus zu gehen.
So warm wie erhofft, war es im tropischen Gewächshaus gar nicht. Aber das Grün der Pflanzen wirkte zusammen mit der stresslösenden Wirkung des CBDs wie eine dicke Schicht Nutella auf unsere geschundenen Sinne. Die Besucher*innen der Orchideenausstellung waren fast alles Orchideen-Geeks, die sich langsam und ehrfurchtsvoll flüsternd zwischen den Pflanzen bewegten. Sie störten uns nicht. Meine Liebste entdeckte eine Bank, dort saßen wir, nachdem wir alles gesehen und fotografiert hatten, noch lange und beobachteten die Leute.
Es meldete sich der Hunger. Da wir die Ecke schon von unserem vorletzten Paris-Urlaub kannten, wusste ich, dass die große Moschee ganz in der Nähe war. Diese Moschee wurde 1926 eingeweiht und war ein Dankeschön des französischen Staates an die Muslime, die als nicht immer ganz freiwillige koloniale Hilfstruppen im ersten Weltkrieg kämpften und starben. Es ist nicht nur eine Moschee im tunesischen Stil, sondern ein großer Komplex mit einer Schule, einem Hammam, einer Bibliothek, Konferenzräumen, einem Tee-Salon, und einem Restaurant. Den Tee-Salon kannten wir schon, und wir wussten, wie wunderschön das Restaurant gestaltet ist. Man fühlt sich in einen orientalischen Palast aus vergangener Zeit versetzt.
Leider war das wunderschöne Restaurant sehr gut besucht und sehr laut. Wir konnten dort trotz Gehörschutz nicht sitzen bleiben, wir hatten einfach keine Abwehrkräfte mehr. Also raus. Sehr bedauerlich.
Ein paar hundert Meter von der Moschee entfernt sahen wir mehrere Restaurants. Darunter ein ägyptisches Restaurant, das einen sehr angenehmen Eindruck machte und recht leer war. Das Essen war nicht nur günstig, sondern auch köstlich. Wir beglückwünschten uns gegenseitig zur richtigen Entscheidung, zahlten, und entschlossen uns noch zum Besuch der „großen Galerie der Evolution“.
Was für ein Gebäude! Stellt euch ein großes Gebäude für ein naturhistorisches Museum aus dem 19. Jahrhundert vor. Eines, das nicht in Etagen unterteilt war. Zwei breite, umlaufende Galerien gliederten den Innenraum um einen unverbauten „Hof“. Denkt euch dunkle Wandvertäfelungen, gusseiserne, verschnörkelte Geländer, gläserne Vitrinen in einem Rahmen aus dunklem Tropenholz, gläserne Wandschränke mit Ausstellungstücken. Hohe Türen führen zu staubigen Bibliotheken. Museumswächter achten penibel darauf, dass man den Ausstellungsstücken nicht zu nahe kommt und zischeln ein „Psssst!!!“, wenn Menschen sich zu laut über etwas unterhalten.
So ein Museum war es mal. Vor dem Umbau. Vor der großen Entstaubung. Man hat den einstigen Keller zu einer weiteren Etage geöffnet. Die gigantischen Skelette zweier Wale schwimmen heute zwischen dem ehemaligen Keller und dem Erdgeschoss. Doch es gibt es sie noch, die Galerien, die dunklen Wandvertäfelungen, die alten Vitrinen. Aber sie treten zurück hinter einem gigantischen Farbkonzept. Das ganze Museum, einschließlich der gläsernen Decke ist ein faszinierendes Kunstwerk aus langsam wechselnden Farben. Hinter den hohen Türen befinden sich keine staubigen Bibliotheken mehr, hier findet man heute die virtuellen Realitäten. Es gibt nach wie vor tausende ausgestopfte Tiere, Präparate in den Vitrinen und in den gläsernen Wandschränken. So ganz habe ich das Ausstellungskonzept nicht verstanden, alle Erklärungen sind ausschließlich in französisch. Außerdem hatten wir ganz ehrlich auch kein gesteigertes Interesse daran, irgendwas zu verstehen oder zu lernen, wir waren einfach nur von dem Gebäude geflasht und genossen alles daran!
Nachmittag. Wir mussten langsam zurück. Meine Liebste hatte eine Online-Schulung für ihre Domführer*innenprüfung. Es galt eine Anwesenheitspflicht, sie musste also teilnehmen. Ich hatte eine Idee: Wir fahren mit dem Bus zur Metrostation Chatelet, dort fährt die leere U-Bahn ein, die uns nach Belleville bringt. Da die Metro leer einfährt, so meine Überlegung, bekommen wir einen Sitzplatz, können die Augen zu machen und Musik hören, bis wir bei unserem Hotel aussteigen können. Haha. Ha. Ha...
Die Rückfahrt geriet wie die Hinfahrt zu einem einzigen Super-Gau. Wir wurden geschubst, fast niedergetrampelt, bekamen keine Sitzplätze, mussten aus Zügen und U-Bahn-Stationen fliehen. Meine Liebste konnte nicht mehr, fing an zu zittern und zu weinen. Ich lotste sie nach draußen, versuchte sie abzuschirmen und zu beruhigen. Wir können beide nicht mehr nachvollziehen, wie und auf welchen Umwegen wir ins Hotel kamen, irgendwann waren wir da.
Macht niemals den Fehler und fahrt in Paris zum Feierabendverkehr auf bestimmten Linien mit der Metro – vor allem, wenn ihr neurodivergent seid oder ein Problem mit Enge, Lautstärke oder Stress habt.
Ich schickte meine Liebste aufs Zimmer. Ich wollte noch was zu Essen im Supermarkt organisieren. Ich war natürlich bereits komplett durch. Ich konnte mich nicht mehr entscheiden. Ich bewegte mich in Zeitlupe. Aber ich bekam es hin. Zurück im Hotelzimmer konnte ich nicht mehr reden, mich nicht mehr bewegen. Ich stand da und starrte. Ich hörte meine Liebste mit mir reden, aber ich konnte sie nicht mehr verstehen. Ein Shutdown.
Ein Shutdown ist eine Notabschaltung, ein Schutzmechanismus. Um da wieder herauszukommen hilft normalerweise nur absolute Stille und Dunkelheit. Keine Reize, eine sichere, bekannte Umgebung. Aber das war mir nicht gegönnt, denn meine Liebste hatte ihre Online-Schulung. Ich ertrug die Helligkeit ihres Laptop-Bildschirms nicht, jedes Wort aus dem Lautsprecher war ein Schlag in die Fresse. Ich überwand meine Starre und flüchtete schwankend aus dem Zimmer, aus dem Hotel, hinein ins nun dunkle, abendliche Belleville. Der stetige Rhythmus meines Gangs und meines Atems beruhigte mich, ich dachte nicht, ich ging nur. Ich achtete nicht darauf, wohin ich ging, nahm nichts wirklich wahr, außer meinen Schritt- und Atemrhythmus. Dieser Zustand ist gefährlich. Ich hätte nicht gemerkt, wenn ich in eine Gefahrensituation geraten wäre. Ich hätte vor ein Auto laufen können, ohne das Auto zu bemerken. Ich hätte mich in üble Ecken (von denen ich nicht annehme, ob es sie dort gibt) verirren können. Ich war anfangs nicht einmal fähig, auf meine Karten-App zu schauen, um zu sehen, wo ich bin. Ich konnte nur gehen, nur Rhythmus sein.
Das Gehen half, und langsam, sehr langsam kehrten meine Alltagsfähigkeiten zumindest rudimentär zurück. Zurück im Hotel aß ich von meinem wild zusammengekauften Essen, fiel ins Bett, wünschte mir die Gnade des schnellen Einschlafens herbei. Der Schlaf war ausnahmsweise lieb zu mir. Er trödelte nicht.
Fazit des Tages: Ich bin ratlos, was ich als Fazit schreiben könnte. Obwohl der Tag einfach nur brutal war, gab es tolle und schöne Momente. Ich bin immer wieder erstaunt, was wir einfach so wegstecken können – und müssen. Wenn es ein Fazit gibt, dann ist es die Erkenntnis, dass meine Liebste und ich Helden sind. Stehaufmännchen, bzw. -frauchen.
Tag 5. Heimfahrt
Ein letztes mal Croissantduft am frühen Morgen. Ein letztes Frühstück, ein letztes mal von dem Fernseher genervt werden.
Ich fühlte mich einfach nur ausgelaugt, bis aufs Letzte ausgelutscht und innerlich vertrocknet. Ich freute mich auf Zuhause. Ausgerechnet heute kam endlich die Sonne raus. Das hatte die Wetter-App uns für jeden Tag versprochen, woran die Sonne sich aber nicht gehalten hatte. Nein, wir würden nicht mit der U-Bahn fahren, zumindest nicht mit der 11. Mit unseren Rollköfferchen spazierten wir zum Parc des Buttes-Chaumont, setzten uns ein wenig in die Sonne und beobachteten Teenager beim Schulsport. Wir wanderten weiter, zum Kanal Saint-Martin, tranken dort einen Kaffee auf dem Bürgersteig an einer Straße, auf der bei unserem letzten Aufenthalt noch Autos fuhren, die heute aber ein Fahrradweg ist. Ganz in der Nähe des Gare de l`Est warteten wir in einem Park und tankten Sonne. Ja, unsere inneren Akkus waren sehr leer. Geschätzt auf 10 Prozent runter, unsere Energiesparfunktion hatten wir aktiviert. Diese 10 Prozent reichten wahrscheinlich nur noch, um uns zum Bahnhof durchzuschlagen und uns in den TGV zu setzen.
Es kam anders. Denn ich wollte unbedingt noch ein Zitronentörtchen essen. Das hatte ich mir vorgenommen, das war meine private Tradition für Paris. Bisher kam ich nicht dazu. Ganz in der Nähe wusste ich eine gute Bäckerei und es war noch genug Zeit…
Angesichts der 10 Prozent Akku war das die idiotischste Idee des ganzen Urlaubs. Es endete damit, dass ich kein Zitronentörtchen bekam, weil eine lange Schlange vor der Bäckerei wartete. Es endete in einem fiesen Krach mit meiner Liebsten, einem gemeinsamen Meltdown, es endete damit, dass wir nun zum Zug hetzen mussten und nichts zu Essen dabei hatten. Der Zug war pünktlich, sowohl bei der Abfahrt als auch bei der Ankunft in Luxemburg. Der Zug von Luxemburg nach Hause fuhr pünktlich ab, aber sobald wir die Grenze passiert hatten, fuhren wir Schritttempo. Deutschland begrüßte uns mit dem, was es am besten kann: Mit einer dicken Verspätung.
Und nun zu der Frage, ob wir Paris im Februar empfehlen können.
Für nicht neurodivergente Menschen würde ich sagen – ja. Macht ruhig. Seid euch klar, dass die Stadt nicht so locker-flockig entspannt ist wie in den warmen Jahreszeiten, aber für einen Besuch der Museen ist der Februar prima.
Neurodivergenten Menschen rate ich: Flieht, ihr Narren! Lasst es! Die kahlen Parks und Gärten bieten keine Möglichkeiten zur Entspannung. Macht euch klar, dass Sonne und Wärme einen deutlichen Einfluss auf eure und auf die Stimmung der Stadtbewohnerinnen haben. Im Februar ist es noch meist zu kühl, um draußen zu sitzen, und in den Cafés drin ist es oft laut. Die Stimmung in der Stadt ist geprägt von Hektik und nein, an den touristischen Hotspots gehts auch nicht wirklich ruhiger zu. Lasst diese Hotspots besser links liegen. Es lohnt nicht wirklich. Meidet unbedingt bestimmte U-Bahn-Linien! Vor allem die 11. Geht lieber viel zu Fuß. Der Besuch von Museen ist im Februar grundsätzlich okay. Aber vielleicht informiert ihr euch vorher, wann besonders wenig los ist. So werden wir es im Mai bei unserem London-Urlaub machen. Wir fragen vorher an, wann ein Besuch für Autistinnen möglich ist und uns danach richten. Und selbstverständlich denkt an Gehörschutz, an eure Sonnenbrille und an eure Fummelspielzeuge.
Wer bis hier hin durchgehalten hat – Respekt! Ich danke euch fürs Lesen! Bis bald!