Alleine, aber nicht einsam

Heyser: Ophelia

Ich stehe kurz vor meinem fünfzigsten Geburtstag. Eine Zahl, die nüchtern betrachtet nichts anderes bedeutet, als ein weiteres volles Lebensjahrzehnt. Und doch lädt sie zum Innehalten ein. Vielleicht ist es das langsame Abklingen des Tatendrangs, das leise Umordnen der Prioritäten, oder auch nur die schlichte Tatsache, dass meine Wochenenden anders aussehen als früher. Nicht schlechter, aber stiller.

Dabei drängt sich mir eine Beobachtung auf, die ich lange mit einem gewissen Unbehagen betrachtet habe: Ich bin heute öfter alleine als früher. Nicht immer, nicht ausschliesslich – aber doch merklich häufiger. Und noch vor einigen Jahren hätte ich das für ein Warnsignal gehalten. Einsamkeit, so heisst es, sei die neue Volkskrankheit. Rückzug wird rasch mit Mangel gleichgesetzt. Doch je länger ich darüber nachdenke, desto weniger überzeugt mich diese Gleichung.

Was, wenn nicht jeder Rückzug ein Verlust ist? Was, wenn das Alleinsein, richtig verstanden, keine Bedrohung, sondern eine Ressource darstellt?

Rückzug als Lebensrealität

Dass Freundschaften im Lauf des Lebens weniger werden, ist gut belegt. Eine vielzitierte Studie der Aalto-Universität Helsinki und der Universität Oxford zeigte, dass Menschen rund um das 25. Lebensjahr den grössten Freundeskreis haben – danach geht es kontinuierlich bergab. In späteren Jahren verlieren wir im Schnitt pro Jahrzehnt eine enge Bezugsperson, ohne dass gleichwertiger Ersatz hinzukommt.

Das klingt dramatisch. Und doch ist es nichts anderes als eine statistische Beschreibung des Erwachsenwerdens. Beruf, Familie, Wohnortswechsel, gesundheitliche Veränderungen – all das macht das Pflegen von Beziehungen aufwändiger. Gelegenheiten für spontane Nähe verschwinden. Freundschaften verlagern sich von der zufälligen zur absichtsvollen Begegnung. Und nicht jede Verbindung überlebt diesen Wandel.

Früher habe ich solche Verluste als Scheitern empfunden. Heute sehe ich darin vor allem eine natürliche Veränderung. Die Welt wird enger, nicht ärmer. Was bleibt, ist oft verlässlicher, tiefer, beständiger. Ich habe weniger Freunde als mit dreissig – aber ich weiss, auf wen ich zählen kann. Und vielleicht ist das der springende Punkt.

Das bewusste Alleinsein als Raum der Reifung

Gleichzeitig ist da noch etwas anderes, das mich mehr und mehr beschäftigt: das wachsende Bedürfnis nach Rückzug. Nicht aus Ablehnung der anderen, sondern aus dem Wunsch, wieder vermehrt mit mir selbst in Kontakt zu kommen.

In der psychologischen Forschung spricht man von positive solitude – einem freiwilligen, sinnhaften Alleinsein, das Raum schafft für Erholung, #Selbstreflexion und persönliches Wachstum. Studien belegen: Wer regelmässig Zeit mit sich selbst verbringt – bewusst und nicht bloss als Lücke zwischen zwei Terminen –, erlebt mehr emotionale Ausgeglichenheit, ein höheres Mass an Klarheit und langfristig auch ein vertieftes Gefühl von Lebenssinn.

Was mich daran besonders berührt: Das Alleinsein kann eine Form des inneren Dialogs werden, die jenseits von Leistungszielen liegt. Es ist nicht etwas, das man effizient „nutzt“, sondern etwas, das man zulässt – wie ein stilles, langsames Reifen unterhalb der Oberfläche. Eine Entsprechung dessen, was antike Philosophen wie #Epikur als „ataraxia“, innere Ruhe, beschrieben haben: nicht durch Abschottung, sondern durch ein Leben im Gleichgewicht mit sich und den anderen.

Für mich hat sich dabei eine einfache Praxis als besonders hilfreich erwiesen: das regelmässige Schreiben. Nicht im Sinn literarischer Ambition, sondern als Journal – ein Ort, an dem Gedanken nicht nur gedacht, sondern festgehalten werden. Diese Form des strukturierten inneren Dialogs, morgens oder abends für ein paar Minuten, schärft nicht nur die Wahrnehmung, sondern eröffnet manchmal überraschende Einsichten: darüber, was gerade wesentlich ist, was stört, was trägt – und was man vielleicht längst loslassen könnte.

Epikur – oft zu Unrecht als Vordenker des Lustprinzips missverstanden – sah die Freundschaft als höchsten Wert eines gelungenen Lebens. Doch er wusste auch, dass wahre Freundschaft erst entstehen kann, wenn der Mensch mit sich selbst im Reinen ist. Vielleicht liegt in diesem Gedanken ein Schlüssel: Der Rückzug zu sich selbst ist keine Abkehr von der Welt, sondern die Voraussetzung, ihr wieder begegnen zu können – aufrechter, freier, wacher.

Beziehungen neu verstehen – nach innen und aussen

Bewusstes Alleinsein verändert, wie ich Beziehungen verstehe. Lange Zeit habe ich geglaubt, dass zwischenmenschliche Nähe vor allem durch Quantität punktet – durch regelmässige Treffen, gemeinsame Erlebnisse, geteilte Zeit. Und natürlich stimmt das zum Teil. Aber heute weiss ich auch: Wer mit sich selbst verbunden ist, begegnet anderen anders. Weniger bedürftig, weniger ungeduldig, aber präsenter. Ich kann zuhören, ohne sofort reagieren zu müssen. Nähe zulassen, ohne mich darin zu verlieren. Und manchmal einfach auch loslassen, ganz ohne Schuldgefühle.

Studien zeigen: Menschen, die ihre Zeit mit sich selbst als sinnvoll erleben, haben nicht nur stabilere soziale Netzwerke, sondern auch ein klareres Gespür dafür, welche Beziehungen ihnen guttun – und welche nicht mehr passen. In dieser neuen Sensibilität liegt eine Kraft, die sich nicht nur auf die Freundschaften, sondern auch auf alltägliche Begegnungen auswirkt: auf Gespräche mit Kolleginnen, auf Nachbarschaften, auf flüchtige Kontakte, die trotzdem berühren.

Vielleicht ist das die unterschätzte soziale Kompetenz unserer Zeit: Nicht nur zu wissen, wie man mit anderen ist – sondern auch, wie man mit sich selbst ist.

Strategien jenseits der Selbstoptimierung

Die Versuchung ist gross, auch dieses Thema in ein Raster aus Tipps und Tricks zu pressen: „So nutzt du deine Alleinzeit optimal!“ Doch gerade das widerspricht der Erfahrung, die ich gemacht habe – und die wohl viele Menschen teilen. Das bewusste Alleinsein entzieht sich dem Optimierungsdenken. Es ist kein Projekt, kein Ziel, kein Tool. Es ist eine Haltung.

Und trotzdem gibt es kleine, unspektakuläre Wege, sich dieser Haltung zu nähern:

Es geht nicht darum, möglichst viele solcher Momente zu „sammeln“. Es reicht, sie überhaupt wieder zuzulassen. Wer das regelmässig tut, merkt schnell: Die Welt wird dadurch nicht kleiner. Aber sie wird stiller. Und in dieser Stille wird einem vieles klarer.

Der Rückzug als Reifung

Ich glaube nicht, dass wir „immer weniger Freunde haben“, wie es die Schlagzeilen gerne zuspitzen. Ich glaube, wir haben andere Freunde. Weniger laut, weniger sichtbar, dafür oft intensiver. Und ich glaube auch nicht, dass Alleinsein ein Makel ist – im Gegenteil. Es kann Ausdruck einer gewachsenen inneren Freiheit sein.

Rückzug ist nicht dasselbe wie Abkehr. Alleinsein nicht dasselbe wie Verlust. In unserem Alltag, geprägt von äusserem Druck, digitaler Dauerpräsenz und sozialen Erwartungen, kann das bewusste Alleinsein ein Akt der Reifung sein. Nicht spektakulär, nicht dramatisch. Aber klärend.

Und vielleicht ist das die eigentliche Einladung dieser Lebensphase: nicht mehr jedem Impuls nachzulaufen, nicht jede Leerstelle zu füllen, nicht jede Stille sofort zu übertönen. Sondern hinzuhören. In sich hinein. Und in die Welt, die sich zeigt, wenn gerade niemand anderes da ist.


Bildquelle Friedrich Wilhelm Theodor Heyser (1857–1921): Ophelia, Sammlung Ferdinand Wolfgang Neess, Museum Wiesbaden, Public Domain.

Disclaimer Teile dieses Texts wurden mit Deepl Write (Korrektorat und Lektorat) überarbeitet. Für die Recherche in den erwähnten Werken/Quellen und in meinen Notizen wurde NotebookLM von Google verwendet.

Topic #Selbstbetrachtungen


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