Wenn die Uhr lügt. Chronos, Kairos und die Kunst des rechten Moments

Charles Paul Landon: Le Temps brise les armes de l'Amour

Es gibt Tage, da fühle ich mich wie ein Gefangener meines Kalenders. Erinnerungen blinken auf, Meetings reihen sich aneinander, und selbst die Mittagspause fällt zugunsten eines „Lunch Meetings“ aus. In solchen Momenten frage ich mich: Ist das wirklich Zeit – oder bloss ein Abspulen von Takteinheiten? Und dann gibt es die seltenen Augenblicke, in denen alles stillzustehen scheint: ein unerwartet tiefes Gespräch oder das plötzliche Aufblitzen einer Idee. Diese Erfahrung führt mitten hinein in einen alten Gegensatz, den die Griechen schon kannten: Chronos und Kairos.

Zwei Gesichter der Zeit

Die Griechen unterschieden zwischen zwei Formen der Zeit. Chronos ist die messbare, lineare Zeit – die Abfolge von Minuten, Stunden, Tagen. Sie lässt sich zählen, planen, segmentieren. Chronos ist der Herr der Kalender und To-do-Listen, er ist die Uhr an der Wand, die gnadenlos weiterläuft.[1]

Daneben aber existiert Kairos. Er bezeichnet nicht die Länge, sondern die Qualität eines Moments. Kairos ist der „rechte Augenblick“, der Punkt, an dem eine Handlung oder ein Wort Gewicht erhält. In der antiken Bildwelt wird er als jugendlicher Gott dargestellt: mit Flügeln wie ein Engel und einer Stirnlocke, die man im Vorübergehen fassen muss – verpasst man ihn, ist er unwiderruflich vorbei.

Gefangen im Takt

Ich erinnere mich an eine Zugfahrt durch das Berner Oberland. Ich war auf dem Weg zu einem Seminar, den Kopf voller Gedanken an Unterlagen und Abläufe. Doch dann, aus heiterem Himmel, öffnete sich der Blick auf das Lauterbrunnental, und für einige Minuten war alles andere nebensächlich. Es war ein Kairos-Moment – flüchtig, nicht planbar, aber von grosser Wirkung.

Genau solche Momente fallen als erste dem Chronos-Kult zum Opfer. Wir leben in einer Welt der Deadlines, Zielvereinbarungen und algorithmisch optimierten Kalender. Methoden wie „Getting Things Done“ oder die Pomodoro-Technik versprechen maximale Effizienz. Alles wird zerlegt in Abschnitte, priorisiert und schliesslich auch abgehakt. Und ich gebe zu: Auch ich nutze solche Werkzeuge. Ohne sie würde ich im Chaos versinken.

Doch wer zu lange nur auf messbare Produktivität setzt, riskiert mehr als Erschöpfung.[2] Er riskiert, die Fähigkeit zu verlieren, einen Kairos-Moment überhaupt noch zu erkennen. Ich habe das selbst erlebt: Semester, in denen ich so durchgetaktet war, dass ich am Ende nicht mehr sagen konnte, was eigentlich geschehen war. Die Tage liefen ab wie Filmrollen, aber nichts blieb haften.

In der Antike hatte Kairos auch eine rhetorische Dimension: Es ging darum, das rechte Wort im rechten Augenblick zu finden. Nicht das Auswendiggelernte zählte, sondern die Fähigkeit, eine Gelegenheit zu erkennen und zu nutzen. Genau das fehlt uns heute oft: die Fähigkeit, das Leben nicht nur abzuarbeiten, sondern es zu bewohnen.

Damit wird Kairos eigensinnig, fast widerständig. Wer sich ihm hingibt, widersetzt sich der Logik der Optimierung. Und vielleicht ist genau das nötig, um wieder atmen zu können.

Das Scheitern der geplanten Spontaneität

Aber hier lauert eine Falle. Kairos lebt vom Zufall – und doch versuchen wir, ihm den Boden zu bereiten. Ich kenne Menschen, die im Kalender bewusst leere Zeitfenster blockieren. „Creative Time“ oder „White Space“ nennen sie das. Andere verbannen Benachrichtigungen für eine Weile, um im Gespräch wirklich präsent zu sein.

Ich habe das selbst versucht. An einem Freitagnachmittag, den ich mir freihielt für „unverplante Zeit“, sass ich schliesslich doch nur am Schrebtisch und scrollte durch E-Mails. Der freie Slot fühlte sich nicht wie Kairos an, sondern wie vergeudeter Chronos. Das Paradox war perfekt: Sobald ich Kairos erzwingen wollte, entglitt er.

Und doch – an einem anderen Freitag, als ich eigentlich Folien überarbeiten sollte, ergab sich ein Gespräch mit einer Studentin über ihre Diplomarbeit. Wir redeten fast zwei Stunden, ohne es zu merken. Die Folien kamen halt später, aber dieser Austausch trug wochenlang. Kairos lässt sich nicht herbeirufen, aber man kann ihm Türen offenlassen.

Die Verantwortung der Systeme

Trotzdem: Es ist zu einfach, das alles als individuelle Aufgabe zu begreifen. Ob Kairos-Momente überhaupt entstehen können, hängt massgeblich von den Strukturen ab, in denen wir leben. Meeting-Kulturen, Pausenregelungen, Erwartungen an ständige Erreichbarkeit – all das entscheidet, ob Räume für Präsenz bleiben oder ob wir nur noch reagieren.

Organisationen tragen daran ebenso Anteil wie wir selbst. Eine Schule, die von Lehrpersonen verlangt, jede Lektion minutiös zu dokumentieren und zugleich ständig neue Kompetenzraster und Lehrpläne auszufüllen, gibt Kairos keine Chance. Ein Unternehmen, das jede Viertelstunde durchtakten will, schafft eine Kultur, in der das Ungeplante als Verschwendung gilt.

Deshalb geht es nicht um ein „Entweder-Oder“, sondern um die Kunst des Wechselns. Manchmal muss ich Chronos folgen – etwa, wenn ich eine Lehrveranstaltung plane. Aber dann braucht es die Offenheit, mitten in dieser Struktur einem Kairos-Moment Raum zu geben: wenn sich eine Diskussion unerwartet entfaltet und trägt.

Fazit – eine persönliche Haltung

Wenn ich heute meinen Kalender betrachte, sehe ich ihn mit anderen Augen. Ja, ich brauche Chronos, um Ordnung zu haben. Aber ebenso brauche ich Kairos, um nicht zu vergessen, warum ich überhaupt handle.

Zeit ist mehr als Takteinheit – sie ist auch Gelegenheit. Und vielleicht liegt die eigentliche Herausforderung darin, den Mut zu haben, nicht jeden Slot zu füllen, sondern auch Lücken zuzulassen.

Konkret bedeutet das für mich: Ich halte mir einen Morgen pro Woche bewusst frei. Nicht, um Kairos zu erzwingen, sondern um ihm eine Chance zu geben. Meist geschieht dann nichts Besonderes. Aber manchmal – manchmal ereignet sich etwas, das nachhallt. Der Gedanke, der weiterhilft. Der Blick, der alles andere relativiert. Denn das Wesentliche geschieht selten auf Kommando. Es braucht Raum, Geduld und die Bereitschaft, auch einmal die Kontrolle abzugeben. In unserer vermessenen Welt ist das der grösste Luxus: Zeit zu haben, die sich nicht rechtfertigen muss.


Fussnoten [1] Chronos sollte nicht mit Kronos, dem Titanenvater der Götter, verwechselt werden. Der eine steht für die abstrakte Zeit, der andere für einen mythologischen Herrscher. Doch gerade diese Verwechslung ist aufschlussreich – sie zeigt, wie stark Zeit und Macht, Dauer und Herrschaft, schon in der Antike miteinander verknüpft wurden.

[2] Der Chronos-Kult hat seinen Preis. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat errechnet, dass Überstunden jährlich Hunderttausende Menschenleben kosten. Diese Zahl zeigt: Chronos ist nicht neutral, er formt unser Leben, unsere Körper, unsere Gesellschaft.

Bildquelle Charles Paul Landon (1760–1826): Le Temps brise les armes de l'Amour, Musée du Temps, Besançon, Public Domain.

Disclaimer Teile dieses Texts wurden mit Deepl Write (Korrektorat und Lektorat) überarbeitet. Für die Recherche in den erwähnten Werken/Quellen und in meinen Notizen wurde NotebookLM von Google verwendet.

Topic #Selbstbetrachtungen


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