Paul J Wege

Von Netzwerken und Netzwerken

Seit einigen Tagen wird im Fediverse heftig über die Interpretation bzw. die Definition gekämpft. Von “Netzwerk”. Aber auch ein bisschen von “Fediverse”.
Wie so oft im digitalen Austausch auf den unterschiedlichsten Plattformen treffen bei solchen Diskussionen schnell 2 Parteien aufeinander: die Eingeborenen (Hardcore IT Nerds, schon immer dabei und etwas sperrig im Umgang mit anderen Menschen – naturgegeben :–) ) und die Zugezogenen (natürlich vor allem aus Sicht der Eingeborenen), die die Dinge einfach nur nutzen wollen, ohne lange Belehrungen auskommen möchten und kein Interesse haben etwas “von Grund auf” zu verstehen. Es muss funktionieren, basta. Du Anbieter, ich Konsument.
In so einer Umgebung wird schnell aneinander vorbeigeredet und die eine Partei wirft der anderen nach knapp 42 Sekunden vor, keine Ahnung zu haben. Oder kein Interesse.
Deshalb hier mal ein Versuch der Einordnung und evtl. auch die Korrektur verschiedener Fehlannahmen.

Die Begriffe

Zuerst müssen wir einige grundlegende Begriffe klären.

Bedeutungen: [1] die Gesellschaft betreffend, menschliches Miteinander betreffend [2] hilfsbereit, mitmenschlich denkend

im weitesten Sinne bereitgestellte, elektronische Präsentations- und Darstellungsformate, in denen Informationen in digitaler Form verarbeitet und übertragen werden.

interdisziplinäre Systeme, deren zugrundeliegende Struktur sich mathematisch als Graph modellieren lässt und die über Mechanismen zu ihrer Selbstorganisation verfügen.

Der Baukasten

Nachdem wir die einzelnen Wortbedeutungen geklärt haben, bauen wir das Ganze schrittweise zusammen. Fangen wir vorn an, mit der Kombination von “Sozial” und “Medien”. Das gibt in der Summe – inkl. einer einfachen Übersetzung der beiden Wörter in eine andere Sprache – “Social Media” oder dann doch auf Deutsch “Soziale Medien”. Da es nicht damit getan ist, zwei Begriffe hintereinander zu schreiben und damit ihre Bedeutung zusammenzufügen, gilt es herauszufinden, wie denn nun die Definition für den neu geschaffenen Begriff lautet. Auch an dieser Stelle wieder ein Quell schier unerschöpflicher Information: die Wikipedia-Enzyklopädie (https://de.wikipedia.org/wiki/Soziale_Medien). Und da stehen zwei Sätze, die uns schnell voranbringen werden

Soziale Medien oder englisch Social Media sind digitale Medien bzw. Plattformen (Social Software), die es Nutzern ermöglichen, sich im Internet zu vernetzen, sich also untereinander auszutauschen und mediale Inhalte einzeln, in einer definierten Gemeinschaft oder offen in der Gesellschaft zu erstellen, zu diskutieren und weiterzugeben.

und

Der verbreitetste und bekannteste Typ von sozialen Medien sind die sozialen Netzwerke.

Im ersten Satz finden wir das Wort “vernetzen”, also schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. Spannend wird es aber im zweiten Satz: 2 unserer Wörter, die wir bisher nicht kombiniert hatten, werden hier zusammengebracht. “Sozial” und “Netzwerk” ergeben ein “Soziales Netzwerk”. Huh, it's magic!
Gibt es da auch etwas von Ratiopharm? Unter Umständen, aber auch da werden wir natürlich bei der Wikipedia fündig:

“Ein soziales Netzwerk ist ein Onlinedienst, der die Möglichkeit zu Informationsaustausch und Beziehungsaufbau bietet. Eine dadurch entstehende Online-Community bietet computervermittelte Kommunikation und digitale soziale Interaktion entsprechend den Möglichkeiten der jeweiligen Social Software (Plattform)”

Die Diskussion

An dieser Stelle beginnt das Problem. Denn nun werden plötzlich 2 verschiedene Bedeutungen des Wortes Netzwerk durcheinander geworfen. Und wie es im Internet nicht unüblich ist, hört keine Seite der anderen zu oder versucht herauszubekommen, ob man unter Umständen aneinander vorbeiredet. Man erklärt sich lieber gegenseitig, wie die Welt funktioniert, und beide Parteien wissen sicher, dass nur sie recht haben. Nie die anderen. Weil. Richtig unterhaltsam wird es, wenn eine der beiden Parteien dann nicht nur auf ihrem Standpunkt beharrt, sondern diesen auch noch mit griffigen Wortschöpfungen aus den Marketingabteilungen des Internets belegt. Deshalb jetzt schrittweise.

  1. Das Wort “Netzwerk” beschreibt zuallererst Graphen, die aus Knoten und Kanten bestehen. Wenn man die Knoten mit Kanten auf die richtige Art und Weise verbindet, erhält man Maschen. Netzwerke zeichnen sich dadurch aus, das ein Großteil der Knoten zu einer oder mehreren Maschen gehört. Das zur Theorie.
  2. In der physischen Realität, in diesem Fall in der Welt der Technik und Nerds, heißt das, wenn man Netzwerkgeräte wie Server (Knoten) über Kabel (Kanten) verbindet, hat man ein Netzwerk. Eines davon kennen wir alle, es heißt schlicht “Internet”. Auf diesem Internet werden die unterschiedlichsten Angebote transportiert, dazu verwendet man sogenannte Protokolle. Eines dieser Protokolle heißt “https” und wird für das WWW, das World Wide Web (Vorsicht, da steckt schon wieder das Wort “Netz” drin und meint tatsächlich ein logisches Netz), verwendet. Also zur Anzeige von “seitenbasierten” Informationen. Ein anderes Protokoll heißt “smtp” und macht genau das, was die Auflösung des Akronyms verspricht. Das “Simple Mail Transfer Protocol” wird vor allem zum Versenden von Mails verwendet. Beide Protokolle setzen dezentrale Strukturen um. Jetzt zum Stein des Anstoßes, das Protokoll “ActivityPub”. ActivityPub ist ein relativ junges Protokoll und es wurde mit dem Wunsch entworfen, zukünftige “Soziale Netzwerk” nicht über einen zentralen Server zu organisieren, sondern dezentrale Strukturen zu realisieren. Ui, bei “dezentrale soziale Netzwerke” fängt der Kopf an, etwas wehzutun? Kein Problem, wir sind auf einem guten Weg.
  3. Es gibt noch eine weitere “Realität”, die gesellschaftliche. Auch dort bilden wir Netzwerke. Ob es unser Dorf ist, das Unternehmen, in dem wir arbeiten oder die Schule, in die wir gehen. Überall haben wir Peers (andere Knoten), mit denen wir in Interaktion treten, das heißt auf die eine oder andere Art verbunden sind (Kanten). Verlegen wir diese Netzwerke im echten Leben ins Internet, müssen wir uns nur kurz an die Definition erinnern “soziales Netzwerk” –> “Onlinedienst” –> Informationsaustausch und Beziehungsaufbau” –> “Online-Community” –> “computervermittelte Kommunikation und digitale soziale Interaktion”. Bämm, “Social Network” ist nix anderes als die Beschreibung eines gesellschaftlichen Netzwerks in Digital.

Die Summe der Teile

So, wir haben jetzt eine gute Grundlage. Offensichtlich kann man das Wort Netzwerk mit verschiedenen Bedeutungen verwenden. Physikalische Netze, logische Netze (die auf den physikalischen Netzen aufbauen) und gesellschaftliche/soziale Netze. WWW und Mail sind schon immer dezentral aufgebaut, die sogenannten “Soziale Medien” wie Facebook, Xitter und Co. sind jedoch zentral organisiert.
Eines der neueren dezentralen Netzwerke ist das sogenannte “Fediverse” (https://de.wikipedia.org/wiki/Fediverse). Es besteht aus vielen weiteren unabhängigen Netzwerken (Achtung, wir reden jetzt schon wieder über zwei verschiedene Arten von Netzwerk: Protokoll (ActivityPub) und Dienste des Servers), die durch einen “Föderation” genannten Mechanismus Daten austauschen können. Das ermöglicht etwas Einmaliges: Im Unterschied zu “Sozialen Netzwerken”, die auf einem zentralen Anbieter basieren und einen Austausch untereinander mit allen Mitteln verhindern, ist es im Fediverse egal, auf welchem Server ich mich anmelde. Ich kann mich (in den meisten Fällen) trotzdem mit Benutzern auf anderen Servern und Plattformen austauschen und vernetzen. Auf die “alte” Welt übertragen bedeutet das, dass ich mit einem TikTok Account den Beiträgen eines Facebook-Accounts folgen und auf diese auch reagieren kann.

Klingt komisch, ist es aber nicht.

Besser, es gibt im Fediverse nämlich nicht nur einen Facebook-Server, sondern viel davon. Es gibt nicht nur einen Instagram-Server, sondern viele davon. Und nachdem jetzt auch die letzten Aufrechten den Microblogging-Dienst Xitter verlassen haben, stellen sie fest, es gibt nicht nur einen Server mit vergleichbarem Angebot, sondern viele davon. Physikalisch nutzen alle das gleiche “Kabel” und ein gemeinsames Protokoll, bieten aber unterschiedliche Schwerpunkte. Bilder, Videos, Blogbeiträge, Kurznachrichten, Diskussionsgruppen. Name it, you'll find it.
“Ja, aber, das sind doch ganz viele verschiedene Netzwerke!” höre ich euch rufen. Das stimmt. Oder auch nicht. Wenn man sich die Seiten der jeweiligen Dienste anschaut, gibt es dort unterschiedliche Arten, wie sie sich selbst beschreiben. Einige nennen sich “Plattform”, andere reden von “Dienst” und ja, einige bezeichnen sich als Netzwerk. Und zwar im Sinne von “Social Network”, also einer Plattform zur Abbildung von sozialen Interaktionen. Das hat aber nicht mit dem Kabel und Protokoll zu tun, das dafür genutzt wird, sondern verwendet nur den Begriff des gesellschaftlichen Konstrukts eines Netzwerks von miteinander verbundenen Menschen. Und es ist vielleicht der etwas tapsige Versuch, den wechselwilligen Nutzern der monolithischen Angebote durch bekannte Begrifflichkeiten zu zeigen, dass es hier auch schön ist. Hier im Fediverse, denn dort ist dieser Beitrag zu finden. Und der Kanal auf diesem Server kann von allen anderen Nutzern im Fediverse abonniert und in ihrer eigenen Timeline mitgelesen werden. Das muss dann nicht zwingend bei Mastodon sein, dort sind halt in den letzten Jahren die meisten Menschen gelandet.
War doch ganz einfach, oder?