Die Einzigartigkeitsfalle: Warum wir uns für besonders halten – und darum schlechtere Entscheidungen treffen

Waterhouse: Echo and Narcissus

Ich kenne das Gefühl nur zu gut: Ein neues Projekt, eine knifflige Herausforderung, eine wichtige Entscheidung – und sofort denke ich, dass meine Situation einzigartig ist. Keine Erfahrungswerte, keine Vergleiche, keine Vorbilder. Doch genau dieses Denken kann zu gravierenden Fehlentscheidungen führen. Im aktuellen Harvard Business Review findet sich ein aufschlussreicher Artikel (Paywall) zum Uniqueness Bias, einer kognitiven Verzerrung, die uns glauben lässt, dass unsere Probleme oder Projekte einmalig sind. Die Autoren zeigen: Wer sich für einzigartig hält, trifft oft schlechtere Entscheidungen, unterschätzt Risiken und ignoriert wertvolle Erfahrungen anderer. [1]

Was ist der Uniqueness Bias?

Der Uniqueness Bias beschreibt die menschliche Tendenz, die eigene Situation für aussergewöhnlicher zu halten, als sie tatsächlich ist. Die Psychologie sieht darin eine weitverbreitete Verzerrung unserer Wahrnehmung: Wer glaubt, sich in einer beispiellosen Lage zu befinden, sieht keine Parallelen zu vergangenen Ereignissen und lernt weniger aus der Vergangenheit.

Diese Denkweise wird durch verschiedene Faktoren begünstigt:

Der Uniqueness Bias ist auch eng mit „schnellem Denken“ (System 1 in Daniel Kahnemans Theorie) verbunden. Unser Gehirn neigt dazu, Entscheidungen ohne tiefgehende Analyse zu treffen, um Energie zu sparen.

Die Folgen: Warum der Uniqueness Bias uns schadet

Die Annahme, in einer einzigartigen Lage zu sein, hat oft erhebliche Konsequenzen. Der Artikel zeigt, dass sich dieser Bias in mehreren Bereichen negativ auswirkt:

1. Schlechtere Entscheidungen im Beruf Viele Führungskräfte oder Unternehmerinnen glauben, dass ihre Herausforderungen ohne Beispiel sind. Das kann dazu führen, dass sie bestehende Erfahrungen ausblenden und stattdessen Entscheidungen auf Basis von Annahmen oder Intuition treffen.

Ein Beispiel aus der Studie: In einer Analyse von 1'300 IT-Projekten zeigte sich, dass Managerinnen und Manager, die ihre Projekte als „einzigartig“ einstuften, wesentlich höhere Kostenüberschreitungen hatten. Die Konsequenz: Wer sich für etwas Besonderes hält, plant schlechter und kalkuliert Risiken falsch.

2. Fehlentscheidungen im Privatleben Der Uniqueness Bias betrifft nicht nur Unternehmen, sondern auch unser tägliches Leben. Menschen neigen dazu, ihren eigenen Weg zu gehen, anstatt auf bewährte Strategien zurückzugreifen.

Denken wir an jemanden, der sich auf einen neuen Job bewirbt. Statt sich mit Personen auszutauschen, die bereits erfolgreiche Bewerbungsprozesse durchlaufen haben, verlässt sich die Person ausschliesslich auf ihre eigenen Vorstellungen. Sie schreibt ein Motivationsschreiben, ohne bewährte Strategien zu recherchieren, und geht unvorbereitet ins Vorstellungsgespräch. Das kann dazu führen, dass sie Chancen verpasst, typische Fehler macht oder unrealistische Gehaltsvorstellungen hat – schlicht, weil sie denkt, dass ihr Bewerbungsprozess einzigartig ist.

3. Verpasste Lernchancen Wer glaubt, dass seine Herausforderung beispiellos ist, sucht nicht nach Analogien und entgeht damit wertvollen Erkenntnissen. In Wirklichkeit hat fast jede Problemstellung eine Entsprechung. Wer beispielsweise eine neue Sprache lernen möchte, könnte von den bewährten Methoden anderer Sprachlernender profitieren – etwa durch den Einsatz von Eselsbrücken, gezielte Immersion oder Sprachtandems. Doch wer denkt, dass sein eigener Lernprozess völlig individuell ist, läuft Gefahr, ineffiziente Wege zu wählen und langsamer Fortschritte zu machen.

Wege aus der Einzigartigkeitsfalle: Die „Outside View“

Die gute Nachricht ist: Der Uniqueness Bias lässt sich überwinden. Der Schlüssel dazu ist die „Outside View“, also die bewusste Entscheidung, die eigene Situation von aussen zu betrachten.

1. Suche aktiv nach Analogien Frage dich: Gab es ähnliche Fälle in der Vergangenheit? Wer hatte schon einmal mit einem vergleichbaren Problem zu tun? Selbst wenn es keine 1:1-Entsprechung gibt, lassen sich oft Parallelen finden.

2. Zerlege das Problem in Module Falls keine offensichtlichen Vergleichsfälle existieren, kann es helfen, eine Situation in kleinere Bestandteile zu zerlegen. Einzelne Aspekte lassen sich dann mit anderen Erfahrungen abgleichen.

3. Nutze bewährte Methoden zur Entscheidungsfindung Um den Uniqueness Bias zu umgehen, bieten sich verschiedene Techniken an:

Fazit: Niemand ist so einzigartig, wie er denkt

Der Uniqueness Bias ist eine tückische kognitive Verzerrung, die uns daran hindert, aus bestehenden Erfahrungen zu lernen. Besonders im Beruf und im Privatleben kann die Annahme, dass eine Situation beispiellos sei, zu gravierenden Fehlentscheidungen führen. Doch wer bewusst nach Analogien sucht, die eigene Perspektive erweitert und erprobte Methoden anwendet, kann fundiertere und bessere Entscheidungen treffen.

Die wichtigste Erkenntnis ist simpel: Fast nichts ist wirklich einzigartig. Und das ist eine gute Nachricht, denn es bedeutet, dass wir nicht bei null anfangen müssen.


Fussnoten [1] Der Artikel im HBR basiert auf der Studie Uniqueness Bias: Why It Matters, How to Curb It (2024) von Flyvbjerg et al., die auch den Artikel verfasst haben: https://dx.doi.org/10.2139/ssrn.4924942.

[2] Die 10-10-10-Methode wurde von der Autorin und Journalistin Suzy Welch entwickelt. Sie beschreibt diese Entscheidungsfindungstechnik ausführlich in ihrem Buch 10-10-10: A Life-Transforming Idea (deutschsprachige Ausgabe: 10 Minuten, 10 Monate, 10 Jahre: Die neue Zauberformel für intelligente Lebensentscheidungen).

[3] Charlie Munger, der verstorbene, langjährige Geschäftspartner von Warren Buffett, beschreibt Inversion ausführlich in seinem Buch Poor Charlie's Almanack.

Bildquelle John William Waterhouse (1849–1917): Echo and Narcissus, Walker Art Gallery, Liverpool, Public Domain.

Disclaimer Teile dieses Texts wurden mit Deepl Write (Korrektorat und Lektorat) überarbeitet. Für die Recherche in den erwähnten Werken/Quellen und in meinen Notizen wurde NotebookLM von Google verwendet.

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