Kierkegaard als Wegweiser zu einem erfüllten Leben

Heinrich Vogeler: Frühling

Viele Menschen streben nach einem erfüllteren Leben, doch oft fühlen sie sich von den zahlreichen Anforderungen und Optionen überfordert. Zwischen der Jagd nach Erfolg, Selbstverwirklichung und Glück bleibt oft wenig Raum für echte innere Balance und Zufriedenheit. Die Frage, wie wir ein authentisches Leben führen können, bleibt für viele unbeantwortet. Søren Kierkegaard, der dänische Philosoph des 19. Jahrhunderts, hat sich intensiv mit dieser Frage auseinandergesetzt.

Seine Gedanken bieten auch heute noch wertvolle Impulse, um inmitten der Unsicherheit und Komplexität unseres Alltags zu uns selbst zu finden. In diesem Beitrag stelle ich fünf zentrale Ideen aus Kierkegaards Philosophie vor, die dir helfen können, ein bewussteres und erfüllteres Leben zu führen.

Wer war Kierkegaard?

Søren Kierkegaard (1813–1855) gilt als einer der Begründer der Existenzphilosophie. Geboren in eine wohlhabende dänische Familie, studierte er Theologie und Philosophie. Doch statt einer klassischen akademischen Laufbahn entschied er sich für ein freies Schriftstellerleben. Kierkegaard war ein Denker, der sich gegen die Abstraktionen und das rationale Systemdenken seiner Zeit wandte, insbesondere gegen die Philosophie Hegels.

Sein zentrales Anliegen war das Individuum. Er kritisierte die Tendenz, das Leben in objektiven, universalen Kategorien zu erklären, und plädierte stattdessen für die subjektive Erfahrung und persönliche Entscheidung. Für ihn war die Frage, wie man als einzelner Mensch in einer oft widersprüchlichen Welt ein sinnvolles Leben führen kann, von entscheidender Bedeutung. Kierkegaards Werke, darunter Entweder – Oder und Die Krankheit zum Tode, haben bis heute grossen Einfluss auf Philosophie und Theologie und sprechen insbesondere Menschen an, die nach tieferem Sinn und Authentizität im Leben suchen.

Fünf Ideen für ein erfüllteres Leben

1. Selbsterkenntnis und Introspektion kultivieren

Für Kierkegaard beginnt ein erfülltes Leben mit Selbsterkenntnis. Dieser Prozess verlangt eine ehrliche und tiefgehende Auseinandersetzung mit den eigenen Gedanken, Gefühlen und Motiven. Dabei geht es nicht darum, sich selbst auf oberflächliche Weise zu analysieren, sondern in die Tiefe des eigenen Wesens vorzudringen und die Widersprüche, Unsicherheiten und Schwächen offen zu betrachten. Kierkegaard selbst reflektierte in seinen Tagebüchern immer wieder über seine eigenen Unzulänglichkeiten und erkannte, wie sehr persönliche Eitelkeiten und Selbsttäuschung das eigene Leben bestimmen können.

Ein zentraler Punkt in Kierkegaards Philosophie ist seine Warnung vor dem Vergleich mit anderen. „Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit“, schrieb er. Wer sich ständig mit anderen vergleicht, verliert den Blick auf die eigene Entwicklung und Selbsterkenntnis. Der Weg zur Selbstfindung führt nicht über den Vergleich mit anderen, sondern über die Auseinandersetzung mit sich selbst.

Selbsterkenntnis bedeutet auch, die eigenen Motive zu hinterfragen und sich von gesellschaftlichen Normen und Erwartungen zu lösen. Ein authentisches Leben kann nur entstehen, wenn wir uns von fremden Urteilen befreien und uns unseren eigenen Zielen und Werten bewusst werden.

Praktischer Tipp: Um deine Selbsterkenntnis zu fördern, kannst du regelmässig Tagebuch führen oder dir gezielt Zeit für persönliche Reflexion nehmen. Gespräche mit vertrauten Menschen helfen ebenfalls, dich mit deinen eigenen Gefühlen und Gedanken auseinanderzusetzen.

2. Unsicherheit und Ambiguität annehmen

Kierkegaard forderte, dass wir die Unsicherheit und Ambiguität des Lebens annehmen. Für ihn ist das Leben nicht dazu gedacht, einfache Antworten zu liefern oder absolute Gewissheit zu bieten. Stattdessen bestehen viele Bereiche unseres Daseins aus Widersprüchen, die wir akzeptieren müssen, um authentisch zu leben. Kierkegaard selbst lebte in einem Spannungsfeld zwischen der Sehnsucht nach Normalität und Geborgenheit und dem Streben nach individueller Freiheit. Safranski beschreibt in seinem Buch Einzeln sein (2021) dieses Dilemma treffend: „Die doppelte Sehnsucht, die nach Normalität und Geborgenheit unter dem Dach des Allgemeinen einerseits und die nach ungehemmter Einzelheit andererseits […]“ (S. 123).

Anstatt nach festen Sicherheiten zu streben, ermutigt Kierkegaard uns, die Unsicherheit als Chance zu betrachten, unser Leben immer wieder neu zu gestalten und offen für Veränderungen zu sein. Diese Haltung eröffnet uns die Möglichkeit, uns weiterzuentwickeln, anstatt an starren Vorstellungen festzuhalten.

Ein weiterer wichtiger Aspekt von Kierkegaards Ansatz ist seine „indirekte Kommunikation“: Anstatt die Wahrheit direkt zu präsentieren, verwendet er Ironie und Paradoxa, um seine Leser dazu zu bringen, selbst nachzudenken und ihre eigene Unsicherheit zu akzeptieren. Das Leben ist komplex und lässt sich nicht in einfache Regeln fassen. Kierkegaard zeigt, dass der Versuch, alle Unsicherheiten zu eliminieren, uns letztlich in die Verzweiflung führt, während die Annahme der Unsicherheit den Weg zu innerem Wachstum öffnet.

Praktischer Tipp: Versuche, Unsicherheit nicht als Bedrohung zu sehen, sondern als Raum für neue Möglichkeiten. Statt nach festen Antworten zu suchen, sei offen für Veränderungen und unterschiedliche Perspektiven.

3. Verantwortung für das eigene Leben übernehmen

Kierkegaard war überzeugt, dass ein erfülltes Leben nur dann möglich ist, wenn wir die volle Verantwortung für unsere Entscheidungen übernehmen. Er lehnte die Idee ab, dass äussere Umstände oder andere Menschen für unser Schicksal verantwortlich gemacht werden können. Stattdessen liegt es an uns, bewusst zu wählen und die Konsequenzen unserer Handlungen zu tragen. Kierkegaard selbst entschied sich bewusst gegen eine bürgerliche Karriere und für das Leben als freier Schriftsteller – ein Weg, der Unsicherheiten, aber auch persönliche Freiheit mit sich brachte.

Wie Safranski es beschreibt: „Er entscheidet sich, vom Möglichkeitsmenschen zum Wirklichkeitsmenschen zu werden“ (S. 126). Diese Entscheidung für die Wirklichkeit bedeutet, dass man sich nicht in endlosen Optionen und Möglichkeiten verliert, sondern aktiv handelt und Entscheidungen trifft, auch wenn diese die Vielfalt der Möglichkeiten reduzieren. Wirklichkeitsmenschen sind diejenigen, die handeln und damit ihre Verantwortung übernehmen.

Kierkegaard fordert uns auf, die Last dieser Verantwortung nicht als Bürde, sondern als Befreiung zu sehen. Denn nur durch das Übernehmen der Verantwortung können wir ein authentisches Leben führen, das nicht von Ausreden und Schuldzuweisungen geprägt ist, sondern von persönlicher Integrität und Handlungsfreiheit.

Praktischer Tipp: Mache dir bewusst, dass jede Entscheidung, die du triffst, eine Wirkung hat. Anstatt auf perfekte Bedingungen zu warten, handle bewusst und stehe zu den Konsequenzen. Dies stärkt nicht nur dein Selbstvertrauen, sondern auch deine Fähigkeit, dein Leben aktiv zu gestalten.

4. Verschiedene Lebensstadien erkunden

Kierkegaard beschreibt in seinen Werken drei grundsätzliche „Lebensstadien“ oder Existenzweisen, die der Mensch im Laufe seines Lebens durchlaufen kann: das ästhetische, das ethische und das religiöse Stadium. Diese Stadien sind nicht starr oder festgelegt, sondern bieten verschiedene Möglichkeiten, wie wir unser Leben verstehen und gestalten können.

Im ästhetischen Stadium dreht sich alles um Genuss, Vergnügen und das Streben nach unmittelbarem Glück. Menschen, die in diesem Stadium leben, suchen ständig nach neuen, intensiven Erlebnissen, vermeiden aber oft tiefergehende Verpflichtungen. Dieses Lebensstadium kann jedoch zu innerer Leere und Langeweile führen, wenn es keinen tieferen Sinn gibt.

Das ethische Stadium ist gekennzeichnet durch Verantwortung und moralisches Handeln. Hier steht das bewusste Treffen von Entscheidungen im Vordergrund, basierend auf einem persönlichen Wertekanon. In diesem Stadium geht es darum, sich selbst in einen grösseren gesellschaftlichen Zusammenhang einzubringen und Verantwortung für andere zu übernehmen.

Schliesslich gibt es das existenzielle oder spirituelle Stadium, das Kierkegaard ursprünglich als das „religiöse Stadium“ bezeichnete. Hier geht es darum, eine tiefere Bedeutung im Leben zu finden, sei es durch den Glauben an eine höhere Macht, durch eine spirituelle Praxis oder durch eine existenzielle Reflexion über den Sinn des Lebens. In diesem Stadium erkennt man die eigene Endlichkeit an und stellt sich den grossen Fragen des Daseins: Wer bin ich? Was ist der Sinn meines Lebens?

Diese Stadien sind nicht als lineare Entwicklung zu verstehen, sondern als Möglichkeiten, das eigene Leben bewusst zu gestalten und zu reflektieren. Jeder Mensch kann sich in verschiedenen Phasen seines Lebens in unterschiedlichen Stadien wiederfinden.

Praktischer Tipp: Reflektiere über dein aktuelles Lebensstadium. Frage dich, ob du eher ästhetisch, ethisch oder existenziell lebst und was dir in deinem jetzigen Lebensabschnitt wichtig ist. Diese Reflexion kann dir helfen, bewusster Entscheidungen über deinen weiteren Lebensweg zu treffen.

5. Persönliche Wahrheit finden

Für Kierkegaard ist es nicht entscheidend, eine allgemeingültige Wahrheit zu finden, die für alle Menschen gleichermassen gilt. Vielmehr geht es darum, eine individuelle, subjektive Wahrheit zu entdecken – die Wahrheit, die für uns selbst bedeutungsvoll ist. Kierkegaard fragt: „Was ist die Wahrheit für mich?“ Damit fordert er uns auf, nicht nach abstrakten oder universellen Antworten zu suchen, sondern nach der Wahrheit, die uns ganz persönlich motiviert und für die wir bereit sind, zu leben und zu sterben.

Diese subjektive Wahrheit kann sehr unterschiedlich aussehen: Für manche mag sie in einer tiefen Beziehung zu anderen Menschen liegen, für andere im beruflichen Erfolg oder in einer spirituellen Überzeugung. Kierkegaard selbst betonte, dass diese Wahrheit nur durch persönliche Reflexion und individuelle Entscheidungen gefunden werden kann. Sie ist kein Ziel, das von aussen vorgegeben wird, sondern ein innerer Prozess, der uns ständig begleitet.

Safranski beschreibt diesen Prozess wie folgt: „Die Wirklichkeit erscheint […] als eine Verengung, denn sie reduziert die Möglichkeiten. Sie ist das, was übrig bleibt, wenn der Reichtum der Möglichkeiten durch das Nadelöhr der Entscheidung gezogen wird“ (S. 126). Die persönliche Wahrheit offenbart sich oft erst, wenn wir uns durch das Treffen von Entscheidungen auf einen bestimmten Weg festlegen – auch wenn das bedeutet, dass wir andere Optionen aufgeben müssen.

Praktischer Tipp: Um deine persönliche Wahrheit zu finden, nimm dir regelmässig Zeit, über deine tiefsten Werte und Überzeugungen nachzudenken. Welche Ideen oder Ziele geben deinem Leben Sinn? Welche Entscheidungen helfen dir, deiner inneren Wahrheit näherzukommen?

Fazit

Kierkegaards fünf zentrale Ideen – Selbsterkenntnis und Introspektion, das Annehmen von Unsicherheit, das Übernehmen von Verantwortung, das Erkunden verschiedener Lebensstadien und das Finden einer persönlichen Wahrheit – bieten wertvolle Impulse für ein authentisches und erfülltes Leben. Sie fordern uns auf, uns von äusseren Erwartungen zu lösen und unseren eigenen Weg zu finden, auch wenn dieser mit Unsicherheiten verbunden ist. Die Fähigkeit, bewusste Entscheidungen zu treffen und Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, ist dabei ebenso entscheidend wie die Bereitschaft, sich mit der eigenen Endlichkeit und den grossen Fragen des Lebens auseinanderzusetzen.

Diese Philosophie ermutigt uns, uns den Herausforderungen des modernen Lebens zu stellen, ohne nach einfachen Antworten zu suchen. Wer bereit ist, die Komplexität des Daseins anzunehmen, kann in der Auseinandersetzung mit sich selbst nicht nur mehr Klarheit, sondern auch tieferen Sinn und Erfüllung finden.


Bildquelle Heinrich Vogeler (1872–1942): Frühling, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Oldenburg, Public Domain.

Disclaimer Teile dieses Texts wurden mit Deepl Write (Korrektorat und Lektorat) überarbeitet. Für die Recherche in den erwähnten Werken/Quellen und in meinen Notizen wurde NotebookLM von Google verwendet.

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