New Work, kalifornische Hippies und das Militär

ARPANET access points in the 1970s Seit ich Mitte der 1980er-Jahre meinen ersten Heimcomputer (einen #Commodore C128D) bekam und kurz darauf mittels Akkustikkoppler erstmals digitale Netzwerke ergkundete, faszinierte mich das Thema auch theoretisch. In der Folge sammelte und sammelt sich bei mir viel Literatur zu dem Thema an, angefangen bei Clifford Stolls “Kuckucksei” von 1989 über die ganzen Klassiker seit der #Kybernetik bis heute. Aktuell lese ich gerade “ Auf dem Weg zur Cyberpolis – Neue Formen von Gemeinschaft, Selbst und Bildung” von Martin Donner & Heidrun Allert (als Open Access hier verfügbar). Darin bin ich auf einen interessanten Zusammenhang gestossen, der mir so noch nicht wirklich bewusst war: Die üblicherweise kolportierte Geschichte [1], dass die Counterculture der 1960er-Jahre in Kalifornien über die ganzen Computer-Pioniere im Xerox PARC unter Robert W. 'Bob' Taylor (1932-2017) neue Arbeitsweisen etablierte, die schliesslich in den 1990ern die New Economy startete und heute als #NewWork bekannt ist, ist nur die halbe Wahrheit. Bob Taylor war zwar tatsächlich mitverantwortlich dafür, aber nicht erst im PARC, sondern bereits vorher bei der (D)ARPA.

Robert W. Taylor in 2008 Taylor (oben im Bild) wurde 1966 Direktor des Information Processing Techniques Office (IPTO) der Advanced Research Project Agency (ARPA) des amerikanischen Verteidigungsministeriums. Das IPTO war federführend beim Aufbau des ARPANET. Als Direktor musste Taylor zwischen den unterschiedlichen Kulturen beim Militär und unter den Wissenschaftern (es waren praktisch ausschliesslich Männer damals) der ARPA und den beteiligten Firmen vermitteln. Viele der frühen Computerpioniere waren entweder geprägt von der Counterculture oder z.T. sogar in diversen Oranisationen engagiert, die sich aktiv gegen den Vietnamkrieg aussprachen. Gegenüber den Militärs und dem Verteidigungsministerium rechtfertigte Taylor die Forschungsarbeit immer mit ihrem konkreten Nutzen für das Militär.

Ein neuer Führungsstil bei der ARPA

Um die Wissenschafter bei der Stange zu halten, etablierte Taylor hingegen einen neuen Führungsstil, der

“in rudimentärer Form bereits all jene Praktiken, die später auch den Charakter der digitalisierten Netzwerkgesellschaft ausmachen werden: kollaboratives Management mit informellerem Charakter, (Selbst-)Organisation, Eigenverantwortung sowie Rückversicherung und Kontrolle durch einen ebenso effizienten Feedback-Kanal.” (S. 131/132)

Nach seinem Wechsel 1971 ans PARC von Xerox in Palo Alto, wo ebenfalls einige der herausragenden Pioniere des Internets und des PC beschäftigt waren, brachte Taylor seinen neuen Stil mit. Wichtiger für die Etablierung dieser neuen Führung war aber der Erfolg des ARPANET. Donner & Allert schreiben (S. 129):

“Dieser Stil, der aus der Komplexität der Hochtechnologie-Forschung emergiert und das Silicon Valley bis heute prägt, sickert in Folge über externe Projektberichte und die vielen am ARPANET und Internet beteiligten Vertragsnehmer, die ihrerseits einen boomenden Wirtschaftszweig begründen, in die Wirtschaft ein. Mit einigen Jahren Verzug wird dies auch in der Management-Literatur reflektiert, und zwar just in dem Augenblick, in dem das Internet beginnt, gesellschaftlich relevant zu werden und neue Märkte zu versprechen. Die Verbreitung von Netzwerktechnologien in der Arbeits- und Alltagspraxis bringt in Verbindung mit der neuen Management-Literatur die Netzwerkgesellschaft hervor.”

Der Rest ist Geschichte und bekannt, aus der New Economy wird New Work. Letztere wird im Zuge der Corona-Pandemie sehr populär und heute wundern wir uns alle über Elon #Musk und seine “extremly hardcore” work.

Dual-Use-Internet und Dual-Use-Leadership?

Nicht nur das Internet ist eine Dual-Use-Technologie, sondern im Grunde auch alle neuen Führungsstile und Management-Methoden, die mit ihm zusammen Eingang in unser Leben gefunden haben, sind in diesem Sinne ebenfalls dual-use:

“Das Internet ist weder ein zivilgesellschaftlich-demokratisches Netzwerk noch ein militärisch-geheimdienstliches, sondern beides.” (S. 141)

Sowie:

“Die ökonomische Gestalt der Netzwerkgesellschaft speist sich demnach nicht aus Ideen der Counterculture, sondern vermittels der Entwicklungskontexte des Internets aus ursprünglich militärischen Überlegungen, was mithin die vielen militärischen Metaphern in der Netzwerkökonomie erklärt. Dies lässt sich sowohl an der Entwicklungsgeschicht e des Internets als auch an der Transformation der ökonomischen Theoriebildung zu Zeiten des Kalten Krieges belegen.” (S. 120)

Ich meine, wie sonst wurde sowas überhaupt möglich: “Mit agilen Methoden und digitaler Technologie bestehende Prozesse in der Gefechtsunterstützung beschleunigen”?


Fussnoten [1] z.B. hier bei Fred Turner (2005): Where the Counterculture Met the New Economy: The WELL and the Origins of Virtual Community, DOI:10.1353/tech.2005.0154, verfügbar hier.

Bildquellen 1. ARPANET access points in the 1970s: Semaforo GMS, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons 2. Robert W. Taylor in 2008: Gardner Campbell, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons

Topic #Kommerz


Folge mir auf Mastodon | Pixelfed | Bookwyrm