Warum Geistesblitze nicht aus dem Nichts kommen
Ich habe lange geglaubt, dass gute Ideen aus dem Nichts auftauchen. Beim Zähneputzen, auf einem Spaziergang, in der Dusche. Dieses magische „Heureka!“ – und plötzlich ist die Lösung da. Aber irgendwann merkte ich: So einfach ist es nicht. Der Geistesblitz ist nur der sichtbare Höhepunkt eines unsichtbaren Prozesses. Und je komplexer das Problem, desto weniger reicht er allein. Wer Lösungen für anspruchsvolle Fragen finden will – ob im Beruf, im Studium oder im Alltag –, muss wissen, wie dieser Denkprozess funktioniert. Dabei geholfen hat mir ein Denker, der schon vor fast hundert Jahren genau das beschrieben hat: Graham Wallas. Sein Modell der kreativen Problemlösung hat mich beeindruckt – und vielleicht geht es dir nach der Lektüre ähnlich.
Der Pionier des strukturierten Denkens
Graham Wallas (1858–1932) war Sozialpsychologe und Mitbegründer der London School of Economics (LSE). 1926 veröffentlichte er The Art of Thought – einen Versuch, den Ablauf kreativen Denkens als strukturierten Prozess zu beschreiben. Ihm ging es nicht um künstlerische Kreativität, sondern um die Art von Denken, die neue Lösungen für konkrete Herausforderungen hervorbringt. Also um kreative Problemlösung – ob in Wissenschaft, Technik, #Bildung oder Management.
Die Methode war damals ungewöhnlich: Wallas kombinierte Selbstbeobachtung mit der Analyse von Werken berühmter Wissenschafter wie Helmholtz oder Poincaré. Und er war einer der ersten, der systematisch zwischen bewussten und unbewussten Phasen im Denkprozess unterschied. Sein Modell ist nicht nur klar und eingängig – es ist auch heute noch erstaunlich anschlussfähig an moderne Erkenntnisse aus Kognitionspsychologie und Design. Und es hilft dabei, das diffuse Geschehen im Kopf beim Problemlösen greifbar zu machen.
Anatomie einer guten Idee: Die vier Phasen
Wallas identifizierte vier aufeinanderfolgende, aber nicht strikt lineare Phasen, die sich bei vielen erfolgreichen Denkprozessen wiederfinden:
1. Preparation – Die Vorarbeit
Jede kreative Problemlösung beginnt mit bewusster Auseinandersetzung. In dieser Phase versuchst du, das Problem zu verstehen, Informationen zu sammeln, Hypothesen zu formulieren und erste Ideen zu entwickeln. Wallas beschreibt diese Phase als „Untersuchung in alle Richtungen“. Ein Softwareentwickler, der ein Usability-Problem lösen will, recherchiert bestehende Lösungen, führt Nutzertests durch und sammelt Feedback. Das kann heissen: Recherchieren, Gespräche führen, Beobachten, Schreiben, Skizzieren. Wichtig ist nicht das sofortige Finden einer Lösung, sondern das gründliche Durchdringen der Fragestellung.
Diese Phase ist anstrengend. Oft frustrierend. Und nicht selten kommt man an einen Punkt, an dem nichts mehr weitergeht. Aber genau das gehört dazu. Die Mühe ist nicht vergeblich – sie legt das Fundament für alles, was folgt.
2. Incubation – Das unbewusste Arbeiten
Wenn die bewusste Anstrengung nicht weiterführt, beginnt die zweite Phase. Du legst das Problem beiseite. Äusserlich machst du etwas anderes – innerlich arbeitet dein Geist weiter. Unbewusst, leise, im Hintergrund. Wallas beschreibt diese Phase als besonders rätselhaft. Sie findet statt, während wir spazieren, schlafen, kochen, stricken oder Musik hören. Während der Softwareentwickler am Wochenende Sport treibt, arbeitet sein Unterbewusstsein weiter. Neuere Forschungen bestätigen: In diesem Zustand sind andere Hirnareale aktiv, es entstehen neue Verbindungen, bisher Unverbundenes kann plötzlich zusammenfinden.
Was Wallas damals nur vermuten konnte, bestätigt heute die Neurowissenschaft: In scheinbar unproduktiven Momenten wird das sogenannte „Default Mode Network“ aktiv – ein Hirnnetzwerk, das Erinnerungen aufruft, Zukünftiges durchspielt und neue Lösungswege simuliert. Wer also beim Duschen oder Spazieren abschweift, ist oft in einem kognitiven Zustand erhöhter Verbindungskraft zwischen Planung, Erinnerung und Vorstellung – ein perfektes Umfeld für Ideenentwicklung.
Diese Phase lässt sich nicht erzwingen, aber sie lässt sich fördern. Indem du gezielt Pausen einbaust. Indem du mehrere Projekte gleichzeitig verfolgst. Indem du akzeptierst, dass Nachdenken manchmal Abstand braucht – und Vertrauen.
Für mich persönlich ist diese Phase zentral geworden. Ich plane heute bewusster mit ihr – nicht nur im Schreiben, auch in der Konzeption, im #Coaching, in der Unterrichtsvorbereitung. Oft bringt genau dieser Zwischenraum die entscheidende Wendung.
3. Illumination – Der Moment der Einsicht
Dann, plötzlich, ist sie da: die Idee. Der Einfall. Der Gedanke, der alles verändert. Wallas nennt das die Phase der „Illumination“. Sie ist meist sehr kurz, aber umso eindrucksvoller. Wichtig: Diese Einsicht ist nicht das Produkt des Zufalls. Sie ist die Frucht der vorherigen beiden Phasen – ein Resultat der Vorarbeit und der mentalen Reifung im Hintergrund. Manchmal kommt sie beim Aufwachen, mitten im Gespräch oder auch beim Blick aus dem Fenster.
Wallas warnt davor, diese Phase zu überschätzen. Sie ist wichtig – aber sie ist nicht die Lösung. Sie ist der Impuls, dem man folgen kann. Ein Pfad, kein fertiger Plan. Und manchmal stellt sich heraus, dass er in eine Sackgasse führt. Auch das gehört dazu.
4. Verification – Die kritische Prüfung
Jetzt beginnt die bewusste Arbeit erneut. Du prüfst die Idee, testest ihre Tragfähigkeit, verfeinerst die Formulierung, baust einen Prototyp, diskutierst mit anderen, korrigierst Details. Diese Phase ist rational, methodisch, kritisch. Und sie ist unverzichtbar. Denn die Idee allein reicht nicht. Sie muss Bestand haben, überzeugen, umgesetzt werden.
Wallas verweist hier auf den Mathematiker Poincaré, der sagte: Die Inspiration liefert nur den Ausgangspunkt. Die eigentliche Arbeit beginnt danach.
Ich finde: Genau hier entscheidet sich, ob aus einer guten Idee ein tragfähiger Beitrag wird. Und oft zeigt sich in dieser Phase auch, dass man wieder einen Schritt zurück muss – zur Vorbereitung, zur Inkubation oder sogar zum Problemverständnis.
Alte Weisheit, neue Anwendung
Wallas’ Modell mag aus den 1920er-Jahren stammen, ist in vielem aber erstaunlich modern:
1. Kreativität braucht Struktur
Wallas zeigt: Kreativität ist nicht das Gegenteil von Disziplin, sondern ihr Zusammenspiel. Wer Probleme lösen will, braucht Phasen des Fragens, des Loslassens, des Findens – und des Prüfens. Und das in einem Rhythmus, der sich nicht auf Knopfdruck steuern lässt.
2. Pausen sind produktiv
In einer Kultur der Daueroptimierung ist das ein wichtiges Signal: Gutes Denken braucht Leerlauf, braucht zuweilen auch Langeweile. Wer dem Drang widersteht, immer effizient zu sein, schafft Raum für wirkliche Einsichten.
- Für Berufstätige: Plane bewusst Puffertage zwischen intensiven Projektphasen.
- Für Studierende: Beginne mit Hausarbeiten früher, auch wenn du zunächst nur Quellen und Ideen sammelst.
- Für Teams: Nutzt Design-Thinking-Methoden, die diese Phasen strukturiert durchlaufen.
3. Der „Heureka“-Moment ist nicht der Anfang
Der Geistesblitz ist ein Ergebnis, kein Startpunkt. Wer ihn als Ziel kultivieren will, muss ihn vorbereiten – durch geduldiges Fragen, bewusstes Loslassen und sorgfältiges Prüfen.
4. Jeder kann den Prozess gestalten
Wallas’ Modell lässt sich auf viele Arten anwenden:
- Bei komplexen beruflichen Entscheidungen,
- in der Strategiearbeit,
- im Unterrichtsdesign,
- beim Schreiben oder Forschen und
- in Innovationsprojekten.
Es hilft, die eigene Denkweise besser zu verstehen – und gezielt zu verbessern.
Fazit: Der Kompass für kreatives Denken
Graham Wallas hat mit seinem Buch The Art of Thought einen bleibenden Beitrag geleistet. Nicht weil er ein Patentrezept geliefert hätte – sondern weil er ein Muster sichtbar gemacht hat, das vielen Denkprozessen zugrunde liegt. Ich habe viel aus diesem Modell gelernt. Vor allem: Geduld zu haben. Zwischen den Phasen unterscheiden zu lernen. Den „Heureka“-Moment nicht zu überschätzen. Und die stille Phase des Nichtwissens als produktiven Teil des Ganzen zu verstehen.
Vielleicht wirst du beim nächsten ungelösten Problem innehalten und dich fragen: In welcher Phase bin ich gerade? Brauche ich mehr Recherche, eine bewusste Pause oder den Mut, eine erste Idee zu testen? Wallas’ Modell gibt dir einen Kompass für diesen Weg.
Bildquelle Thomas Degeorge (1786–1856): Death of Archimedes, Musée d'Art Roger-Quilliot, Clermont-Ferrand, Public Domain.
Disclaimer Teile dieses Texts wurden mit Deepl Write (Korrektorat und Lektorat) überarbeitet. Für die Recherche in den erwähnten Werken/Quellen und in meinen Notizen wurde NotebookLM von Google verwendet.
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