Anarchie, das Ding und der Namen – Victor Yarros

Anarchie, das Ding und der Namen.

Das Wörterbuch und die grosse Mehrzahl der Menschen definieren Anarchie als Ordnungslosigkeit und Bürgerkrieg.

In dem Anarchisten glaubt man ein Wesen ohne Geist und Gemüt zu erblicken, einen Sklaven der Leidenschaften und des Sinnenrauches, blind, rasend, verwegen, der es auf die grausame Zerstörung alles Dessen abgesehen hat, das seine Wege kreuzt oder seinem vernunftlosen Tun und Treiben widerspricht.

Libertas ist von friedliebenden, intelligenten, vernünftigen Menschen im Interesse der Ordnung, Freiheit und menschlichen Glückseligkeit und Zusammengehörigkeit gegründet, mit der Absicht und dem Entschluss, ihre Kräfte der Förderung und Verwirklichung der Sicherheit, Wohlfahrt und Harmonie in den menschlichen Angelegenheiten zu widmen.

Die Redakteure und Mitarbeiter von Libertas nennen sich, und wünschen gekannt zu sein als, Anarchisten, und sie verkünden ihr Blatt als ein Organ anarchistischen Denkens. Und wie alle andern Anarchisten lehnen sie alle die zahlreichen Eigenschaften, auffallend wenn nicht ehrend, ab, womit die Durchschnittsmenschen sie so freigebig ausstatten. Und noch unglaublicher, wie alle andern Anarchisten, bestehen sie darauf (und mit einem Ernst und einer Wärme, dazu angetan, zum Nachdenken anzuregen), dass ihre Mission ein Liebes- und Friedenswerk ist; dass ihre Aufgabe in der Bekämpfung des Übels und Elends, im Widerstand gegen tyrannische Anmassungen und in der Verfechtung des Wahren, Guten und Schönen in der Welt besteht; dass sie, kurz gefasst, das gerade Gegenteil von dem sind und wollen, dass ihnen von den Wörterbüchern, dem Mob und den Führern vorgeworfen und untergeschoben wird.

Darob ist der ehrliche und unparteiische Mensch natürlicherweise wirr und irre. Es ist ihm unerfindlich, wie ein solch unmöglicher Zustand entstehen konnte. Einerseits warnt und droht und versichert man ihn, die Anarchisten seien Teufel in Menschengestalt, Feinde der Menschheit; und anderseits wenden sich diese selben Anarchisten an ihn im Namen der heiligsten Dinge des Lebens.

Plötzlich geht ihm ein Licht auf. Er bekommt eine glänzende Idee und, sich an die Anarchisten wendend, gibt er ihr folgenden Ausdruck:

„Meine Freunde, ich glaube euch. Eure Sache ist eine gerechte. Ihr habt ein erhabenes Ideal und euer Wirken ist fortschrittlich und erspriesslich. Aber, im Namen der Vernunft, warum wählt ihr zu eurer Bezeichnung ein mit allem Verwerflichen synonymes Wort? Ihr dürft euch gewiss nicht beklagen, wenn ihr missverstanden und schlecht behandelt werdet. Wollte ein Prophet sich Mörder nennen, so liefe er Gefahr, 'gelyncht' zu werden. Warum nennt ihr euch nicht Reformatoren, Verkündiger idealer Regierungen, Erstreber vollkommener politischer und sozialer Einrichtungen?“

Diese Fragen unseres Freundes können nicht unbeantwortet gelassen werden, und sein Rat verdient einige Berücksichtigung unsererseits.

Wir wollen gleich hier die Erklärung abgeben, dass zwischen den Prinzipien und Strebezielen unseres Fragestellers kein wesentlicher Unterschied besteht. Es ist nur eine Sache der Definition.

Die „Regierung“ als eine Assoziation definierend, in welche das gesamte Volk eines gegebenen Landes zwecks Schutzes und Trutzes freiwillig eingetreten ist, ist man zu der Verurteilung und Ächtung aller Derjenigen berechtigt, welche die Regierung befehden. Aber nicht so definieren die Anarchisten Regierung. Solcher Regierung opponieren sie nicht, sondern suchen sie vielmehr zu schaffen. In der Tat, kein geistig gesunder und humaner Mensch kann irgendwelches Motiv haben, gegen die Stabilität einer derartigen Regierung zu konspirieren. Eine solche Regierung ist gleichbedeutend mit Anarchie.

Freiheit ist den Anarchisten das höchste Gesetz. Sie verlangen Freiheit für das nicht-aggressive Individuum, Freiheit der Arbeit, Freiheit des Genusses, Freiheit der Liebe, Freiheit der Assoziation, Freiheit der Exploitation der Gaben der Natur, Freiheit der Organisation, Freiheit des Schutzes gegen Verbrecher und Tyrannen.

Wohin führt nun diese kurze Untersuchung der von den Gouvernementalisten wie den Anarchisten für sich erhobenen Ansprüche?

Denken wir uns unter A die Regierung, unter B eine freiwillige Assoziation zu Schutz und Trutz und unter C eine anarchistische Organisation, so finden wir, falls sich die obige Definition von Regierung bewährt, dass die Regierung gleich B ist; dass, ist Freiheit das Synonym der Anarchie, wie die Anarchisten behaupten, B gleich C ist; und dass folglich A gleich C, – d. h. die Anarchie identisch oder gleichwertig mit der Regierung ist.

Verblüffende, unerwartete Folgerung, aber zugleich doch auch eine, welche die Gouvernementalisten neu beseelt und ihnen frischen Mut einflösst. Im Gefühl, dass ihre Sache bestärkt wurde, werden sie grossmütig und herablassend wenden sie sich an uns also:

„Nun, ihr seht endlich das Kindische eures starren Festhaltens an Worten wie das Komische eurer bombastischen Verkündigungen ein. Legt eure Schrullen beiseite. Seid ihr ehrlich und wirklich von guten Absichten geleitet, so habt ihr keine Verwendung für eure kriegerischen und abschreckenden Wahlsprüche. Kommt, gesellt euch zu uns, macht mit uns gemeinsame Sache und, unterstützt von den Sympathien und den Traditionen des Volkes, werden wir, so wir nur verständnisvoll und geduldig voranschreiten, gewiss —“

Ja, was denn?

Liebe Regierungsgläubige, wozu wünscht ihr unsere Mitwirkung? Ist die Regierung das, als was ihr sie erklärtet, woher kommt dann eure Unzufriedenheit? Regierung wollt ihr, Regierung habt ihr. Seid deshalb zufrieden und freut euch der Segnungen der grossen und herrlichen Regierung, unter der ihr das Glück habt, zu leben. Seid stolz auf sie, wie sie stolz auf euch ist, euch, ihre edlen und zuverlässigen Kämpen.

Es betrübt euch, dass euer Blick auf allen Seiten dem Elend, der Armut, der Tyrannei, dem Unrecht, der Unterdrückung, dem Verbrechen, dem Laster, der Erniedrigung begegnet? Ihr wollt das Übel entwurzeln und die Ungerechtigkeit abschaffen? Aber wie könnt ihr das Leben und die Gesellschaft reformieren? Fängt es nicht an euch jetzt einzuleuchten, dass die Regierung nicht der grosse und mächtige Hebel des Fortschritts ist, für den ihr sie hieltet? Es ist nicht mehr einzig und ausschliesslich die „Regierung,” die ihr verlangt, – denn die habt ihr, – sondern etwas anderes. Was ist es?

Arme Regierungsgläubige! An diesem Punkte erinnert eure Konfusion an den Turmbau zu Babel. Anstatt den Anarchisten – den Gegnern der Regierung – eine geschlossene Fronte zu bieten, seid ihr hoffnungslos demoralisiert und verwirrt. Nicht zwei unter euch stimmen überein hinsichtlich dessen, was zu erstreben ist oder dessen, was euch mangelt. Einige agitieren zu Gunsten einer Verstärkung, andere zu Gunsten einer Beschränkung der Regierung, wieder einige streben eine von der heutigen verschiedene Regierung an, wieder andere reden einer experimentalen Berücksichtigung aller gemachten Vorschläge das Wort.

Vielleicht seid ihr jetzt bereit, den Anarchisten – das einzige gelassene und gefasste Individuum unter Allen – um Hilfe in der Lösung des Knotens anzugehen? Ihr sollt euch nicht umsonst an ihn wenden; ihr werdet eine Erklärung erhalten und diese Erklärung, wie wir voraussehen, wird euch instand setzen, einzusehen, warum die Anarchisten die Regierung verwerfen – die Sache, die Definition, Alles – und unter ihrer eigenen Flagge segeln.

Die Regierung ist weder heute, noch war sie jemals eine freiwillige Organisation zu Schutz und Trutz. Geschichte wie Logik demonstrieren gerade das Gegenteil. Die Regierung entstand durch die Gewalt und beruht auf der Gewalt. Zivilisation und Regierung schliessen einander aus. Die fortschreitende Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft wird erst möglich in dem Masse, in dem die Regierung eine nach der anderen ihre Funktionen verliert und auf einen immer kleineren Raum zurückgedrängt wird. Industrielle Unternehmungen, die Erweiterung des Gebiets und Einflusses der zivilisierenden und einigenden und läuternden Agenten der Bildung und der Kultur, die Vermehrung des Wissens, das Aufblühen der Künste und Wissenschaften und der Literatur, weit entfernt, von der Regierung abzuhängen, gründen sich vielmehr auf deren Nichteinmischung und praktische Existenzlosigkeit. Jeder Schritt vorwärts seitens der Gesellschaft bezeichnete von jeher für die Regierung einen Verlust. Der Sieg der Menschheit bedeutet den Untergang der Regierung. In dem Streben nach Vollkommenheit seitens der Menschen muss die Regierung entweder ignoriert oder bekämpft werden. Der schliessliche Triumph der Zivilisation wird zusammenfallen mit dem gänzlichen Verschwinden auch jeder Spur von Regierung.

Soviel geben Alle zu. Die Orthodoxesten sprechen von dem idealen Zustand der Gesellschaft als einem Zustand gänzlicher Abwesenheit aller Regierung, in dem der Mensch sein Verhalten spontan so kontrolliert, wie es im höchsten Grade der gesellschaftlichen Harmonie entspricht.

Die Erfahrung der Vergangenheit muss unsere Führerin sein in der heutigen Verworrenheit. Welch andres Licht haben wir? Ob die herrschenden Übelstände der Regierung zuzuschreiben oder das Produkt verschiedener Faktoren sind, mag eine offene Frage sein. Was aber keinen Zweifel zulässt, ist, dass in der Berechnung der Mittel zur Beseitigung der Übelstände die Regierung vollständig ignoriert werden muss. Was die Übelstände beseitigen wird, ist die Freiheit, der Gegensatz zur Regierung. Das Heilmittel gegen irgendeine besondere Krankheit der Gesellschaft liegt in der Beschränkung der Regierung. Folglich, zusammen addiert, scheint die Panazee in der Abwesenheit aller Regierung zu liegen.

Unter welchem Namen sollen wir diese Überzeugung der Welt verkünden? Welch anderer, besserer ist da zu finden als derjenige, den wir gewählt haben? Indem die Anarchie, nach dem Zugeständnis der Orthodoxen, das Ideal ist, dem die Gesellschaft zustrebt, müssen Alle, die für den Fortschritt und die Entwicklung einstehen, sich als Anarchisten erklären. Mögen diejenigen, welche die Regierung zu verewigen und zu verstärken streben, sich Gouvernementalisten nennen, aber sie sind Feinde der Zivilisation. Zwischen ihnen und uns kann es weder Frieden noch ein Kompromiss geben. Unsere Sorge sollte dahin gehen, die Demarkations- und Scheidelinie so bestimmt und deutlich zu ziehen, dass neutrale Menschen leicht zwischen beiden unterscheiden und den einen vom andern erkennen können.

Sagst du, du seist ein Gouvernementalist, so sagst du nichts. Sagst du, du seist ein Anarchist, so erklärst du mit einem Wort dein Ideal, deinen Glauben, deine Sympathien, die Richtschnur deines Handelns. Es ist wahr, der Pöbel und die Vorurteilsvollen mögen dich missverstehen, aber das müssen und werden sie in jedem Falle tun. Die Intelligenten werden dich verstehen, und liegt nicht in diesen deine einzige Hoffnung?

VICTOR YARROS.

(Libertas 1, Samstag, 17. März 1888, S. 4–5.)