Libertas

„Freiheit, nicht die Tochter, sondern die Mutter der Ordnung“ – Proudhon

Die „Galveston News“ behauptet, dass nicht Kenntnisse und Weisheit genug in allen Regierungen der ganzen Welt vorhanden seien, um beim besten Willen den Bedarf an Vegetabilien und Obst einer einzigen Stadt so gut zu regulieren, wie dies auf einer freien Wagenstrasse durch die Farmer, Gärtner und Käufer selbst geschieht. Die Produzenten vermehren die Erzeugnisse, um die grössere Nachfrage zu befriedigen, und die Käufer nehmen den Überfluss, wenn der Preis sinkt, weil sie wissen, dass das Angebot nachlassen wird. Die Regierungen sind ungefähr die „dümmsten Jungen“, die es gibt, wo es sich um Angelegenheiten der Individuen handelt, und sind im Durchschnitt auch nicht viel wert zur Erfüllung ihrer eigentlichen Pflichten – Erhaltung des Friedens und Ausübung voller Gerechtigkeit gegen alle Klassen. Überliesse man die Menschen ganz sich selbst, so würden sie nicht so viele Torheiten begehen, als unter der Vormundschaft unserer erbärmlichen Regierungen und Gesetzgeber.

(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 7.)

Anmerkung

Die erwähnte Tageszeitung wurde 1842 als „Daily News“ in Galveston, Texas gegründet und existiert nach einigen Änderungen des Namens immer noch als „The Daily News“. Es handelt sich um die älteste Tageszeitung in Texas.

Macht ist Recht.

Es gibt zwei Sorten von Menschen, welche den Staat als Inhaber der Macht verehren, und ihm als solchem auch die Kompetenz zuerkennen, über die Begriffe von Recht und Unrecht zu entscheiden. Die eine dieser beiden Sorten wird gebildet von den extremen Monarchisten, für welche der Staat sich in dem Monarchen konzentriert, welch Letzterer die zur Bestimmung des wahren Rechtes erforderliche Weisheit direkt von Gott bezieht. Die andere der beiden erwähnten Menschensorten sind unsere strenggläubigen Republikaner, für welche das Menschengeschlecht mit den Pilgervätern, die Weltgeschichte mit Washington beginnt, und welche Niemanden als Mensch anerkennen, ohne dass er sich durch die vorschriftsmässige Feier des Sabbats und durch die richtige Begeisterung für den vierten Juli legitimiert.

Die Formel des Rechtes für die erstere der beiden Menschensorten heisst: „Der König will’s“, für die letztere: „Die Mehrheit regiert.“ Der Unterschied in diesen beiden Rechtsformeln mag auf den ersten Blick gross erscheinen, ist in Wirklichkeit aber ganz unwesentlich. In beiden ist Gott die Quelle der Rechtsbegriffe, Gott erleuchtet den Verstand des Königs, dass er nur das Rechte befiehlt, und Gott regiert die Majorität, dass sie nur den richtigen Stimmzettel in den Kasten werfen kann.

Nun gibt es heutzutage noch eine dritte Menschensorte, welche weder die Unfehlbarkeit des Königs, noch die der Majorität als selbstverständlich betrachtet. Die Zahl dieser Zweifler ist allem Anschein nach schon grösser, als die der Strenggläubigen. Mit dem Zweifel regt sich die Kritik, und diese bringt immer mehr Tatsachen zum Vorschein, welche sowohl den Willen des Königs, als auch das Votum der Majorität als die ungeeignetsten Autoritäten zur Bestimmung des Rechtes hinstellen. In der Wissenschaft hat man diese Tatsachen längst erkannt und auch praktisch anerkannt, indem man die Entscheidung wissenschaftlicher Fragen weder der offiziellen Diktatur eines Einzelnen, noch einem Majoritätsvotum anvertraut: „Über wissenschaftliche Fragen darf nicht abgestimmt werden!“

Warum macht man es in der Politik nicht auch so? Diese Frage gilt natürlich nur der letzten von den drei aufgeführten Menschensorten; die beiden ersteren handeln nämlich ganz konsequent, wenn sie Gehorsam, entweder gegen den Willen des Gottgesalbten, oder gegen das Votum der Majorität, als das höchste Gebot des Rechtes, verlangen; diese letzte Menschensorte aber, wie kommt sie dazu, so hartnäckig auf die Notwendigkeit der Herrschaft (wenn auch nicht eines Fürsten) so doch einer Majorität, hinzuweisen? Sie schwärmt bei allem scheinbaren Enthusiasmus für die Majoritätsherrschaft doch fast immer für Freiheit, was man beim besten Willen nicht anders deuten kann, als das Verlangen nach Einschränkung der Herrschaft.

Soviel ich sehen kann, sind es zwei Gründe, mit welchen diese Menschen ihr sonderbares Verhalten rechtfertigen wollen: Erstens glauben sie, und zwar mit Recht, dass die Menschheit das, was man Zivilisation nennt, nur bei geordnetem Zusammenleben bewahren und vervollkommnen kann; zweitens sind sie überzeugt, dass die sündige menschliche Natur immer dahin strebt, dass der Stärkere über den Schwächeren sich die Herrschaft aneigne, und dass diese Herrschaft am erträglichsten sei und dem Rechte am nächsten komme, wenn sie von der Majorität ausgeübt werde. Auch das ist richtig, ja es darf sogar behauptet werden, dass die wirkliche Majorität ihren Willen auch durchführen kann, weil sie die Macht dazu hat, und dass die Ausrottung dieser Macht eine Unmöglichkeit ist.

„Wo bleibt denn da der Anarchist?“, wird mancher verwundert fragen; der hat ja ebenso wenig Lust, in den „Urzustand“ zurückzukehren, wie Herr Boppe, und für das Vergnügen, seinem Stammverwandten, dem Affen, wieder brüderlich die Hand zu reichen, kann er sich auch nicht begeistern, und trotz alledem glaubt er auch nicht an ein mögliches Avancement zum Engel, von welchem selbst Herr Boppe grosses Heil für den Anarchismus erwartet. Ja, dieser Anarchist wird noch Herrn Boppe dazu treiben, die individuelle Freiheit gegen ihn zu verteidigen; denn er bekennt sich zu dem Grundsatze: „Macht ist Recht.“ Aha! Jetzt haben wir’s; das ist Einer von den Dynamitanarchisten!

Diese Besorgnisse und Vermutungen sind alle falsch. Als Anarchist bekämpfe ich den Staat eben weil er es verhindert, dass Macht auch Recht sei. Die Ansicht ist eben falsch, dass der Staat, ob monarchisch oder republikanisch, der wirklichen Macht die Sorge für das Recht anvertraue, sondern beide fesseln die Macht in ihrer natürlichen Tendenz, das wirkliche Recht auszuführen.

Die wirkliche Macht ist die Summe der vereinten Kräfte der meisten Menschen in einer gesellschaftlichen Organisation. Das wirkliche Recht (insofern es nämlich praktische Bedeutung hat) ist die Summe der individuellen Wünsche dieser Majorität. Ein absolutes Recht lässt sich überhaupt nicht aufstellen. Die Begründung unserer Rechtsbegriffe ist in dem Sprichwort gegeben: „Was du nicht willst, das mau dir tu’, das füg’ auch keinem Andern zu.“ Hiernach müssen wir das, was wir für uns selber als Recht beanspruchen, auch Andern als solches zugestehen, und die Handlungen, welche wir als ein uns zugefügtes Unrecht betrachten würden, auch, wenn sie gegen Andere gerichtet sind, als solches ansehen. Macht jemand in dieser Beziehung einen Unterschied zwischen sich und Anderen, so gerät er mit sich selbst in Widerspruch, und mit dem Nachweis dieses Widerspruches überführt man ihn eines Unrechtes. Weiter aber kann unsere Definition von Recht und Unrecht nicht gehen. Wenn es z. B. ein chinesischer Mandarin für Recht hält, dass er sich selber auf Befehl seines Herren den Bauch aufschlitze, so kann man ihm auch nicht beweisen, dass es unrecht sei, wenn er willkürlich mit dem Leben seiner Untergebenen verfährt.

Hat denn nun die Macht, wie ich sie vorhin definiert habe, eine natürliche Tendenz, das soeben erklärte Recht auszuüben? Liegt in jedem Individuum von Natur die Neigung, keinen Unterschied in der Auffassung des eigenen Rechtes und des fremden zu machen? Es wäre eine starke Anmassung, diese Frage zu bejahen. Nein, auch bei dem besten Menschen wird noch ein Unterschied zu Gunsten des eigenen Ich gemacht. In einer Gesellschaft aber, wo jedes Ich den gleichen Spielraum hat, wird diesem Hang zur ungleichartigen Beurteilung des Rechtes eine natürliche Grenze gesetzt; das Streben des Einen nach Bevorzugung seines Ichs, wird durch das gleiche Streben des Anderen in Schranken gehalten, und der beständige Widerstand hemmt die Entwicklung der natürlichen bösen Neigung. Der Massstab des Rechtes wird jedem beständig vor Augen gehalten, und er lernt das Recht Anderer respektieren, weil er über sein eigenes beständig zu wachen hat. So bildet sich denn in der freien Gesellschaft aus der Summe der individuellen Kräfte die wirkliche Macht, welche die Summe der individuellen Wünsche als wirkliches Recht zur Ausführung bringt. Hier ist Macht auch Recht.

Das ist etwas wesentlich Anderes, als der heutige Staat. Dieser Staat ist eine künstliche Maschinerie, welche die wirkliche Macht in ein willenloses Werkzeug verwandelt; welche das lebendige Rechtsgefühl durch tote Formeln ersetzt, und dem Ohnmächtigsten Gelegenheit bietet, die Macht nach seinem Willen zu lenken.

Ich habe schon öfters die Äusserung gehört, dass die Deutschen selber Schuld daran wären, dass sie sich zu Kanonenfutter gebrauchen lassen; sie brauchten ja einfach nicht zu gehen, wenn sie zur Fahne gerufen und in den Krieg geschickt würden, was könnten ihnen dann ihre Herrscher anhaben? Ja, das ist es eben; diese gewaltigen Millionen sind eher imstande, wider ihren Willen, auf Befehl eines Einzelnen ganz Europa in einen Trümmerhaufen zu verwandeln, als ihrem gemeinsamen sehnlichsten Wunsche gemäss, friedlich zu Hause zu bleiben. So aber ist es in anderen Staaten auch. Wer kann da noch behaupten, dass die Macht regiert?

Ist es in der Republik wesentlich anders? Viele meinen es, obwohl die Tatsachen das Gegenteil bezeugen. Ich entsinne mich, einst gelesen zu haben, dass in dem freien Massachusetts zweitausend bewaffnete Männer einen entlaufenen Sklaven wieder zurücktransportierten, obwohl sie das Sklavenjagdgesetz verabscheuten und, nur ihren Gefühlen folgend, den Sklaven lieber gegen seine Verfolger verteidigt hätten. Zeigt sich da die Macht nicht auch unter jenem geheimnisvollen Banne, welcher mehr vermag, als ihr eigener Wille? Herr Boppe stellte einst die kühne Frage, gegen wen denn das Volk in einer Republik Revolution machen sollte, ob etwa gegen sich selbst? Gleichzeitig behauptet aber derselbe Herr Boppe, dass in einer Monarchie die Revolution unvermeidlich sei. Ich möchte nun gern wissen, gegen wen das Volk dort revoltiert; etwa gegen den Fürsten und die paar Adligen, – die Millionen gegen wenige Hunderte? Lächerlich! Das Volk revoltiert immer gegen sich selber; denn ausser ihm gibt es keine Macht, auch in Russland nicht. Die Soldaten, die Polizei und die Henker kommen sämtlich aus dem Volke, und es gibt immer genug von der Sorte, die sich eher den Schädel einschlagen lassen, als dass sie sich von dem Banne befreien könnten, der ihre Handlungen der Kontrolle ihres eigenen Willens entzieht.

Instinktiv fühlen es die herrschenden Klassen wohl, dass ihre Herrschaft nicht auf ihrer Macht beruht, darum zittern sie beständig vor der Gefahr, dass die wirkliche Macht zum Selbstbewusstsein erwachen könnte; darum nähren sie so geflissentlich den Glauben, dass der Gehorsam eine so hohe Tugend, ein Selbstzweck wäre; darum endlich suchen sie durch wütende Verfolgung und Verketzerung alle Jene unschädlich zu machen, welche über die wirkliche Macht und das derselben entsprechende Recht Klarheit verbreiten.

Der trügerische Unterschied, welcher zwischen Monarchie und Republik gemacht wird, schrumpft erheblich zusammen, wenn man erkennt, dass die Macht in jedem Staate in der Majorität, nahezu der Totalität des Volkes ruht. Nur der Grad, in welchem diese Macht ihres eigenen Willens beraubt wird, ist das Wesentliche im Unterschiede. Die Macht wird stets von ihren eigenen Kreaturen tyrannisiert. Die Tyrannei ist um so drückender, je heiliger und unverletzlicher die Macht die von ihr selbst geschaffenen Herren ihres Willens hält. Die Heiligkeit und Unverletzlichkeit ist aber die vornehmste Stütze des Staates. Der Staat muss daher in demselben Masse weichen, in welchem die wirkliche Macht Besitz von ihrem Rechte ergreift.

PAUL BERWIG.

(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 8.)

Anmerkungen

  • Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
  • Zu C. Hermann Boppe siehe die Anmerkungen hier.

Unter diesem Zeichen kämpft auch Libertas.

[Ralph Waldo Emerson.]

Wir leben auf einer niederen Stufe der Welt, und entrichten unfreiwilligen Tribut an Regierungen, die sich auf die Gewalt gründen. Es gibt unter den religiösesten und aufgeklärtesten Männern der religiösesten und fortgeschrittensten Völker nicht ein Vertrauen in das moralische Gefühl und ein genügender Glaube an die Einheit der Dinge, um die Überzeugung aufkommen zu lassen, dass die Gesellschaft ohne künstliche Einschränkungen aufrechterhalten werden könne so gut wie Sonnensysteme oder dass der Einzelne ein vernünftiger Mensch und ein guter Nachbar sein könne ohne den Wink eines Gefängnisses oder einer Konfiskation. Was ausserdem befremdend ist, es gab noch nie einen Mann mit einem genügenden Vertrauen in die Macht der Redlichkeit, um ihn mit dem grossen Vorhaben zu inspirieren, den Staat nach dem Prinzip des Rechts und der Liebe neu zu gestalten. Alle, welche sich dieses Vorhaben bisher anmassten, waren einseitige Reformatoren, und liessen in der einen oder andern Form die Oberherrlichkeit des schlechten Staates bestehen. Ich entsinne mich nicht eines einzigen Menschen, welcher die Autorität der Gesetze beharrlich verneinte, auf den einfachen Grund seiner eigenen moralischen Natur hin. Ein solches Vorhaben, voll Genialität und hohen Glaubens, was es ist, wird nicht gehegt, ausser ausdrücklich als ein Fantasiegebilde. Wenn der Mensch, der es zum Ausdruck bringt, sich erkühnt, es als praktisch hinzustellen, so erfüllt er Gelehrte und Kirchenleute mit Abscheu für sich; und Männer von Talent und Frauen von erhabenen Gesinnungen vermögen nicht, ihre Verachtung zu unterdrücken. Nichtsdestoweniger erfüllt die Natur nach wie vor die Herzen der Jugend mit den Eingebungen dieses Enthusiasmus, und es gibt jetzt Männer, – wenn ich in der Tat den Plural gebrauchen kann, – richtiger, will ich sagen, dass ich mich soeben mit einem Manne unterhalten habe, dem keine noch so schwerwiegende gegenteilige Erfahrung es auch nur für einen Augenblick als unmöglich erscheinen lassen wird, dass Tausende von Menschen die erhabensten und einfachsten Gesinnungen gegen einander beobachten könnten, so gut wie eine Gruppe von Freunden oder ein liebendes Paar.

(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 8.)

Anmerkungen

Die Staatssozialisten exemplieren fortwährend mit dem Postwesen als einem guten Beispiel von der Vorzüglichkeit des Staatsbetriebs dem Privatunternehmen gegenüber. Doch da kommt nun der Fort Worther „Southwest“, ein Blatt mit vorzugsweise staatssozialistischen Neigungen, und sagt, dass eine Herabsetzung des Briefportos von geringerer Wichtigkeit sei, als eine Verbesserung des Dienstes, welcher durch eine falsche Sparsamkeit bis zu einem nicht zu entschuldigenden Grade heruntergekommen sei. Bis sich die Staatssozialisten darüber einigen können, dass das Postwesen gut verwaltet wird, sollten sie sich anderweitig nach einem Master der öffentlichen Administration umsehen. Ich habe im Ganzen genommen ziemlich viel mit dem Postdepartement dieses Landes zu tun und ich habe genug gesehen, um mich zu überzeugen, dass wenn ich mir zu einer gründlichen Untersuchung seines Getriebes die Zeit nehmen würde, ich es als eine der stupidesten und jämmerlichsten Misswirtschaften hinstellen könnte.

(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 8.)

Herr Most destilliert und konsumiert.

Nachdem Herr Most in der „Freiheit“ vom 19. Mai seine Absicht erklärt, mit mir endgültig abzurechnen, bringt er in der „Freiheit“ vom 26. Mai seinerseits die Kontroverse mit mir durch eine so homöopathische Verdünnung seiner früheren Artikel, dass sie kaum eine Berücksichtigung verdient, zum Abschluss. Kurz zusammengefasst sind die Punkte, die er geltend zu machen versucht, die folgenden: dass die Polemik zwischen uns eine ungleiche sei, weil er zitiere und dann kritisiere, während ich kritisiere ohne zu zitieren; dass ich, und nicht er, der Hauptfrage ausgewichen sei, indem das Privateigentum die Kernfrage bilde, während ich auf der Erörterung des Proudhon’schen Banksystems bestehe; dass er Liberty seit nahezu sechs Jahren gelesen habe, ohne eine plausible Darlegung jenes Systems zu finden, und dass was ich in meiner letzten Antwort darüber vorbrachte, wohl alles sei, was die Theorie decke; dass das System in Deutschland und anderswo schon verschiedentlich zur Anwendung gelangt sei, ohne ein anderes Resultat zu zeitigen, als dass sich etliche hundert Kleinbürger eine Weile länger gegen das Grosskapital halten konnten; dass ich Proudhons Werke nur halb zu verstehen scheine; dass wenn ich die „Freiheit“ ganz lesen würde, statt nur solche Stellen, die sich mit mir beschäftigen, ich bald erfahren würde, wie die Dinge eigentlich liegen; dass das Proudhon’sche Banksystem nicht einen einzigen Verfechter mehr in Europa habe; und dass, wenn wir erst einmal mit den politischen Tyrannen fertig wären, die ökonomischen uns nicht mehr gefährlich sein könnten, da die Letztern mit den Erstern sicherlich das Genick gebrochen haben würden, zumal ja beide Sorten wesentlich ein und dieselben Personen seien.

Ich erwidere hierauf mit gleicher Kürze und Knappheit, dass ich Herrn Mosts Standpunkt in meinen eigenen Worten stets getreu wiedergab, während er den meinigen durch zweckentsprechende Zitate missrepräsentierte; dass das Privateigentum nicht die Kernfrage bildete, da Herr Most versprochen hatte, den Kommunismus zu Gunsten des Privateigentums fallen zu lassen, wenn ich ihm zeigen würde, dass das Letztere mit Grossbetrieb ohne Ausbeutung der Arbeit verträglich sei, infolgedessen die Begründung dieser Verträglichkeit zur Kernfrage wurde; dass das Prinzip des Proudhon’schen Banksystems in Liberty wiederholt erörtert worden ist, und zwar viel gründlicher und ausführlicher als in der gegenwärtigen Kontroverse; dass weder dieses noch irgendein ähnliches System, soviel ich weiss, je zur unbehinderten Anwendung gelangt, und dass wenn mein Wissen in dieser Hinsicht mangelhaft ist, es an Herrn Most liegt, die Lücke durch eine genaue Spezifikation von Tatsachen auszufüllen; dass er gleichen Umständen diejenigen Völker und diejenigen Zeitabschnitte das grösste materielle Wohlergehen aufweisen, in welchen die finanziellen Institutionen sich der Proudhon’schen Idee annäherten; dass die Proudhon’schen Werke zur Hälfte zu verstehen besser ist, als sie gar nicht zu verstehen; dass eine Anzahl intelligenter Personen aus meinem Bekanntenkreise, welche die „Freiheit“ gründlich lesen, mir mitteilen, dass es ihnen nicht gelungen sei, einen solchen Vorteil daraus zu ziehen, wie ihn Herr Most mir verspricht, dass gerade in der jüngst verflossenen Zeit ein Buch von mehreren hundert Seiten in Paris erschienen ist, welches Proudhons Banktheorien in fähiger Weise darlegt und verficht, „La Question Sociale“ von Emile Chevalet; dass viele Ideen von der höchsten Bedeutung in die Welt geworfen worden sind, nur um unter dem Druck der Reaktion Jahre lang im Verborgenen liegenzubleiben, ehe sie wieder auftauchten und ihre Verwirklichung fanden; und dass es durchaus der Wahrheit gemäss ist, dass die ökonomischen Privilegien mit der Abschaffung der politischen Tyrannen verschwinden werden, eine Tatsache, welche die individualistischen Anarchisten den „kommunistischen Anarchisten“ gegenüber stets betont haben, welch letztere aber beharrlich auf der Behauptung bestanden, dass die Abschaffung des Staates nicht genüge, und dass eine besondere Kampagne gegen die ökonomischen Privilegien nötig sei. In diesem letzten Satze seiner Schlussworte begibt sich Herr Most seines ganzen Standpunkts.

T.

(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 5 und 8.)

Anmerkungen

  • Benjamin Tucker greift hier wiederum die Diskussion mit Johann Most wieder auf, die bereits mehrfach in seinen Artikeln in der Libertas angesprochen wurde, z. B. hier, hier, hier und hier.
  • Zum Proudhon'schen Banksystem s. die Anmerkungen hier.
  • Émile Chevalet (1813–1894) war ein französischer Historiker und Journalist, der u. a. auch für den „Figaro“ schrieb. Das erwähnte Buch La Question sociale erschien erstmals 1882 und war „meinem Meister“ P.-J. Proudhon gewidmet.

Die Vernunft in der Natur.

In einem „Natürliche Ordnung und künstliche Eingriffe“ betitelten Artikel gelingt der „New Yorker Volkszeitung“ das Kunststück, den orthodoxen Kanzelprediger, den Bourgeois und den Anarchisten unter einen Hut zu bringen, indem sie ihnen der Reihe nach charakteristisch sein sollende Proteste gegen diese „künstlichen Eingriffe“ in die „natürliche Ordnung“ in den Mund legt, und sie dann alle drei mit einem Schlage summarisch abtut durch die glückliche Widerlegung der alten theologischen Zweckmässigkeitstheorie.

Nachdem Prediger und Bourgeois ihr Sprüchlein gesagt haben, wird die anarchistische Marionette vorgeführt: „Nur nicht die natürliche Ordnung durch reaktionäre Pedanterie und Gesetzmeierei vergewaltigen! – so ertönt endlich von einer Seite her, welche von der Kirche wie von den Parteischattierungen der Bourgeoisie gleich weit entfernt ist und welche für gewöhnlich so bescheiden ist, auf den alleinigen Besitz aller wahrhaft revolutionären Ideen Anspruch zu erben.“ Und nun folgen allerlei Beispiele, welche die Zweckwidrigkeiten der Natur vom anti-theologischen Standpunkt aus recht gut illustrieren. Aber was haben sie mit dem Anarchismus zu tun? Es ist kindisch, ja geradezu idiotisch, behaupten zu wollen, dass wir ein vernunftgemässes Eingreifen in die Natur verdammten. Möchte doch die „Volkszeitung“ bedenken, dass der Natur nachzuhelfen auf der Bahn, die sie uns selbst vorgeschrieben hat, in Übereinstimmung mit ihren Gesetzen und, innerhalb der Grenze der Möglichkeiten, die sie uns selber an die Hand gibt, eine von „Vergewaltigung“ der Natur ganz verschiedene Sache ist. Weil in der Natur nicht alles in der „bestmöglichen Weise eingerichtet“ ist, bessern wir aus und helfen ihren Mängeln nach, wo wir können und wo wir nicht können, überlassen wir sie einfach der Natur. Da sich die natürlichen Verkehrswege der Erde als ungenügend für die gegenwärtigen Bedürfnisse der Menschen erwiesen haben, haben sie „Jahrzehnte lang an dem Suezkanal gearbeitet“ (und haben ihn auch zu Stande gebracht, und zwar als Privatunternehmen). So graben sie auch Brunnen und sorgen für des Leibes Bedürfnisse durch künstliche Wohnung, Kleidung und Nahrung, weil das nicht naturwidrig, wohl aber eine Naturnotwendigkeit, durchgeistigte Natur ist. Aber obgleich „Ritter und Humboldt vor langer Zeit überzeugend nachgewiesen haben, dass die Gebirgskette an der Südgrenze Sibiriens in der denkbar zweckwidrigsten Weise angebracht ist“, und obgleich dadurch an der „chinesischen Stagnation der Asiaten zum allergrössten Teil die Natur selbst schuld ist“, haben die Menschen bis heute noch keinen Versuch gemacht, das Himalayagebirge nach dem Norden Asiens zu versetzen. (Ob das ein Argument für oder gegen den Anarchismus sein soll, geht aus dem Zusammenhang nicht klar hervor.) Auch bauen sie keine Brücken über den Ozean oder Eisenbahnen nach dem Mond, weil das naturwidrig wäre, indem es die von der Natur gegebenen menschlichen Kräfte übersteigt oder gegen ihre Gesetze verstösst.

Und was von der physischen Natur gilt, gilt auch von der geistigen – ich trenne beide Begriffe der Bequemlichkeit halber. Natur ist, für den geistigen Menschen, zu tun, was angenehm und zu lassen, was unangenehm ist. Nun ist das Angenehme aber auch nicht gerade immer das Zweckmässige und es bedarf manches „künstlichen Eingriffes“, um das Gleichgewicht, das ein allzu treues Befolgen der Natur stören würde, wieder herzustellen. Diese angenehmen Unzweckmässigkeiten sind zweierlei Art: Handlungen, deren verderbliche Folgen auf das Individuum selbst zurückfallen, und Handlungen, welche Andern oder der Gesellschaft zum Schaden gereichen. Solange die „künstlichen Eingriffe“, welche erstere verhüten sollen, nur von dem Individuum selbst herrühren oder höchstens durch Belehrung von aussen bestimmt werden, sind dieselben keine Vergewaltigungen der Natur und wir haben keinerlei Streit mit ihnen. Auch wenn sich die Gesellschaft gegen gemeinschädliche Passionen Einzelner oder vieler durch freiwillige Schutz- und Trutzbündnisse schützt, ist das wiederum keine Vergewaltigung der Natur, da dadurch keinem, der sich nicht tatsächlicher Übergriffe in die Rechte Anderer schuldig macht, irgendwelcher äusserer Zwang auferlegt wird. Es liegen ferner solche „künstliche Eingriffe“ nicht ausser dem Bereich der Möglichkeit; sie sind die Kanäle und die Brunnen, die warme Kleidung und das sichere Obdach der geistigen Natur.

Betrachten wir aber nun die „künstlichen Eingriffe“, welche vom Staat und der Sitte ausgeübt werden. Da haben wir es denn mit wirklichen Vergewaltigungen und Naturwidrigkeiten zu tun, denn beide dieser ausserhalb der Natur liegenden Mächte ertöten geradezu die Natur des Menschen, das heisst, die Individualität, deren freie Entfaltung der Kern, die Grundbedingung alles wirklichen, natürlichen Lebensgenusses ist. Der Zwang, den sie ausüben, lässt die Menschen geistig und moralisch verkümmern, während jede freie, mit der ungefesselten Vernunft im Einklang stehende Betätigung des Menschen, sei es innerhalb freiwilliger Organisationen und in Kooperation mit seinen Mitmenschen, oder unabhängig von jeder Gemeinschaft, natürlich ist und zu den Zweckmässigkeiten der Natur selbst gehört. Die „Gesetzmeierei“ und die von der Sitte den Menschen auferzwungenen widernatürlichen Tugenden und Gebräuche sind das Ausroden der Wälder, die Absperrung der frischen Luft und des Sonnenlichts der geistigen Natur.

Und wenn wir nun noch sehen, wie gänzlich Gesetz und Sitte ihren angeblichen Hauptzweck verfehlen, das heisst, die Sicherheit, das materielle und geistige Wohlergehen und die menschliche Glückseligkeit zu fördern, so müssen wir uns sagen, dass sie auch Unmögliches anstreben, dass sie einen Eisenbahnverkehr mit dem Monde zu bewerkstelligen oder Berge zu versetzen suchen.

E.H.S.

(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 5.)

Anmerkungen

  • Die „New Yorker Volkszeitung“ war die am längsten erscheinende Tageszeitung aus der Arbeiterbewegung in deutscher Sprache in New York. Sie wurde 1878 gegründet und erschien bis 1932.
  • Alexander von Humboldt (1769–1859) und Carl Ritter (1779–1859) gelten als die Begründer der wissenschaftlichen Geografie.

Vertrauet alles der Freiheit.

Genosse Leahy macht das Zugeständnis: „Wir halten dafür, dass die Kosten aller Vorteile von denjenigen bestritten werden sollen, denen dieselben zugutekommen. Aber da die aus der Unterdrückung des Verbrechens entstehenden Vorteile allen gleichmässig zugutekommen, sollten auch die damit verbundenen Kosten nolens volens von allen gleichmässig getragen werden“, und verlangt dann für den Fall, dass er im Unrecht ist, mehr Licht von Liberty.

Ich habe die vollkommene Zuversicht, dass unser natürlicher Führer diesem Wunsche voll und ganz entsprechen wird; nichtsdestoweniger möchte auch ich meine Laterne schwingen und mein „barbarisches Gejohle“ dreingeben.

Der Fehler der „American Idea“ scheint in der Idee zu bestehen, dass man rechtlicherweise an einen Menschen die Forderung stellen könne, für Etwas zu zahlen, das ihm ohne seinen Wunsch und ohne seine Einwilligung zuteilwird, einfach weil der Händler darauf besteht, die Sache als einen Vorteil für ihn zu erklären. Wenigstens glaubt die „American Idea“ dies, wenn der Händler die Regierung ist und solche Dinge stellt, die sie als Vorteile ausgibt. Das ist in der Tat die amerikanische Idee, und eine teuflische Idee ist es, oben jener freiheitsmörderische Paternalismus, welchen unsere Kameraden Leahy und Allison an anderer Stelle so wacker bekämpfen.

Indem er auf das Kostenprinzip hinweist, scheint unser Mitstreiter Leahy offenbar der Ansicht zu sein, dass wir in unsere eigene Grube fallen, aber er vergisst, dass hinter dem Kostenprinzip das höhere Grundprinzip der Individualität liegt. Und aufgrund des Prinzips der freien Individualität kann man einem Menschen nichts abverlangen für einen Vorteil, oder für eine den Vorteil bezweckende Massregel, den er nicht freiwillig gutgeheissen hat. Gesetzt, zehn Lyncher hängen einen Strassenräuber in Missouri; können sie rechtlicherweise von den Herren Leahy und Allison, welche später des Weges daher fahren, verlangen, dass sie die Verantwortlichkeit wie die pekuniären Auslagen der Handlung mit ihnen teilen sollen aufgrund des angeblichen Vorteils? Können die Prohibitionisten die Nichtprohibitionisten rechtlicherweise zwingen, die Auslagen für die Durchführung der Antigetränkgesetze wie die Kosten der prohibitionistischen Propaganda bestreiten zu helfen, weil „die Unterdrückung der Trunksucht ein Vorteil ist“? Ist es nicht selbstverständlich, dass ich selber überzeugt sein muss, dass eine gegebene Handlung verbrecherisch ist und eine gegebene Methode die Unterdrückung derselben auch bewirkt, ehe man mich passenderweise zur Beisteuer zu dem Fond anhalten kann, welcher die Unterdrückung ermöglichen soll? Und selbst wenn ich davon überzeugt wäre, habe ich nicht ein Recht, die Beisteuer zu verweigern? Wenn nicht, warum nicht?

Ein Vorteil ist entweder eine freie Gabe, eine Ware im Markt oder eine gegen die Freiheit gerichtete Waffe. Wenn eine Gabe, dann ist keine Verschuldung damit bedingt; wenn eine Ware, dann hat der Käufer ein Recht zu sagen, ob er sie kaufen will oder nicht und welchen Preis er dafür geben oder nicht geben wird; wenn eine Waffe, dann seien alle auf der Hut!

Das Kostenprinzip der Freiheit verlangt, dass jeder Mensch die Konsequenzen seiner Handlungen selber trage, ausgenommen Andere lassen sich freiwillig herbei, dieselben mit ihm zu teilen. Beiläufige Vorteile sind wie die Gaben der Natur, „ohne Geldeswert und Preis“, und stehen allen frei, die sie aneignen können. Irgendein Versuch, sie abzuschätzen und eine Kompensation darauf zu erheben, würde, wenn erfolgreich (was er nie sein könnte, wenn es nicht um den Fetisch der Regierung wäre), die Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern und Bruder gegen Bruder stellen.

Gesetzt, ich wohne in einem Städtchen; kann mein Nachbar A, der mir gegenüber wohnt, mich zwingen, die Kosten des schönen Hauses, das er baut, wie des herrlichen Rasens, den er anlegt, mit ihm zu teilen, weil meine Aussicht infolge seiner „Verbesserungen“ bedeutend verschönert wird und der Wert meines Eigentums steigt? Kann der Nachbar B zu meiner Rechten, welcher einen hohen Zaun baut, um seinen Hof gegen die Strasse zu schützen, mich rechtlicherweise mit einem Teil der Auslagen dafür belasten, weil dadurch der Frost von meinen Gurken ferngehalten wird? Kann ich ehrlicherweise den Nachbar C zu meiner Linken, dessen Hof niedriger als der meine liegt, zwingen, die Kosten eines kostspieligen Düngers für meine Terrasse tragen zu helfen, weil in der Tat ein gut Teil dieses Düngers schliesslich auf sein Gebiet hinüber gespült wird? Wenn Herr Leahy diese Fragen mit „Nein“ beantwortet, dann muss er auch, um konsequent zu sein, mit „Nein“ antworten, wenn ich ihn frage, ob eine Anzahl meiner Nachbarn das Recht habe, eine Steuer von mir zu erheben für ein vor meinem Haus anzulegendes Trottoir aus Pflastersteinen, wenn ich Torf vorziehe, oder für die Salarierung eines die Strasse auf- und abwandelnden Polizisten, wenn ich es vorziehe, mich selber zu schützen.

Nein, Freund Leahy, jene „Freiheit“, die Sie in Ihrer „Idea“ als „die fundamentale und unerlässliche Bedingung alles Wachstums, aller Entwicklung, alles Fortschritts“ darstellen, ist die gleiche Freiheit jedes wie aller, auf eigene Weise zu arbeiten und über die Früchte dieser Arbeit nach eigenem Gutdünken zu verfügen, und Ihr Besteuerungsplan zur Unterdrückung des Verbrechens ist weiter nichts als ein sehr elastisches Halsband, welches schliesslich so gewiss zu Tode würgt wie der Strick des Henkers. Herr Tucker hatte eine Probefrage an Sie gestellt, und Ihre Beantwortung derselben beweist, dass Sie einen Standpunkt einnehmen, welcher mit dem Dienst der Freiheit unverträglich ist. Und wenn Sie Ihre Doktrin, welche die Erhebung einer Steuer für zufällige Vorteile rechtfertigt, weiter verfolgen, werden Sie keinen logischen Ruhepunkt finden diesseits des Staatskommunismus. Aber ich gebe mich diesbezüglich keiner Sorge hin, sondern sehe dem Tag entgegen, wo Ihre amerikanische Idee zur anarchischen Idee wird, und Sie mit Ihrem Wissen und Ihrer Beredsamkeit einer der freiesten Segler auf dem Meere der Freiheit und Allison Ihr ebenbürtiger Genosse.

Wollte ich Herrn Leahy den Vorschlag machen, das Gerichtswesen der Vereinigten Staaten durch Diebstahl aufrechtzuerhalten, so würde er verblüfft zurückschrecken und an die Austreibung des Teufels durch Beelzebub denken; doch das wäre genau sein eigener Vorschlag. Fast alle Menschen stimmen überein hinsichtlich der Natur des Raubs, indem sie denselben darin erblicken, einem Individuum gegen seine Einwilligung etwas abzunehmen, das ihm dem Recht nach zugehört. Herrn Leahys Regierung würde genau dies tun; folglich wäre seine Regierung ein Räuber. Alle Regierungen tun dies; folglich sind alle Regierungen Räuber. Das Verbrechen durch ein Verbrechen zu unterdrücken heisst nicht das Verbrechen zu unterdrücken, das heisst nur seine Form und seinen Sitz zu verändern. Anarchie allein bedeutet Ehrlichkeit.

Einen Eingriff in die Freiheit eines Menschen zu machen, unter dem Vorwand, seine Freiheit in Schutz zu nehmen, ist eine so fluchwürdige Heuchelei, wie sie Herr Leahy nur immer im Hause der „römischen Hure“, deren Zauber er erst jüngst infolge einer sich in ihm vollzogenen Läuterung abgeworfen hat, auffinden kann. Wenn irgendein privater Raufbold darauf bestehen sollte, Herrn Leahy „in Schutz“ zu nehmen und ihn dann zwingen wollte, für diesen „Schutz“ zu zahlen, so könnte er die Gewalttätigkeit einsehen; aber wenn der Staat dasselbe tut, ist er blind. Aber die Ehrlichkeit achtet weder Minoritäten noch Majoritäten, weder private noch öffentliche Angelegenheiten, sie kennt einzig die freie Einwilligung und den Austausch von Leistung gegen Leistung; und Ehrlichkeit und Freiheit bedingen eins das andere.

Vorstehendes ruft mir ein Argument ins Gedächtnis zurück, das mir einige Male in dieser Form vorgelegt wurde: Gesetzt ein fremder Feind machte einen Angriff auf eine Gruppe von Anarchisten; könnten letztere nicht mit vollem Rechte die unter ihnen weilenden Feiglinge und Schmarotzer zwingen, an der Verteidigung Teil zu nehmen oder wenigstens die Kosten derselben tragen zu helfen? Ich verneinte die Frage, denn solcher Zwang wäre gleichsam eine Regierung, indem der empfangene Vorteil ein rein zufälliger wäre, da sich die Andern sowieso hätten verteidigen müssen, einerlei, ob die gemeineren Naturen anwesend waren oder nicht. Die Sache möchte anders liegen, wenn die Zusammenlebenden einen Schutz- und Trutzbund gebildet hätten und sich gegenseitig durch ein freiwilliges Übereinkommen verpflichtet gewesen wären; aber selbst für diesen Fall schien es mir, dass die Freiheit kein anderes Verfahren gegen diese Wort- brüchigen sanktionieren würde, als den spontanen „Boykott“ der natürlichen Verachtung und die Lösung aller Gemeinschaft mit ihnen. Darauf wurde erwiedert, dass eine solche Lauheit verderblich wäre, und dass das Beispiel erfolgreicher Feigheit und Niedertracht die Schutzvereine demoralisieren und zur Auflösung derselben führen würde. Hierauf warf ich ein, dass man für die Aufrechterhaltung dieser Vereinigungen auf die natürlichen Agentien vertrauen könne ohne alle invasive Gewalt.

Zum Beispiel. Wenn, nachdem der Feind zurückgeschlagen wäre und die Feiglinge sich ins Fäustchen lachten ob des für sie kostenfreien Schutzes, eine Deputation des Feindes mit diesem Auftrag zurückkehren sollte: „Wir werden Euch nicht wieder belästigen, denn wir haben erfahren, dass Ihr zu mutig und zu mächtig für uns seid; aber wir haben wahrgenommen, dass es Feiglinge unter Euch gibt, die sich weigerten, sich an der Verteidigung zu beteiligen; da sie Euch nicht beigestanden, braucht Ihr ihnen nicht beizustehen; und wenn Ihr uns versprecht, Euch neutral zu verhalten, wenn wir sie plündern, werden wir sie für Euch bestrafen und ewig Eure Freunde sein“ – was dann? Wenn die Feiglinge geplündert werden, werden sie eine Lehre daraus ziehen, sich das nächste Mal an der gemeinsamen Verteidigung prompt zu beteiligen. Wenn die Braven zu grossmütig wären, um die Plünderung der Feigen zu gestatten, würden letztere immerhin die ihnen drohende Gefahr erkennen und in den neuen Motiven des Schamgefühls und der Dankbarkeit eine weitere Veranlassung für künftige Mitwirkung erblicken; das Resultat würde in einen wie im andern und in allen Fällen dasselbe sein, – nämlich, dass sich die Menschen stets gegen die Gefahr verbünden werden so lange sie existiert. Gerade wie die erkannten Bedingungen (und viele nicht erkannten) des normalen Lebens die Menschen moralisch machen ohne das Christentum; gerade wie die Befriedigung des Geühlslebens edle Herzen vereinigt ohne die Ehe, – gerade so werden die sozialen Momente des Verlassenseins, der Furcht, der Sympathie, der Freundschaft, der Liebe, des Ehrgeizes, der Bequemlichkeit, des Bedürfnisses der gegenseitigen Hilfeleistung und der Gewohnheit die Menschen zusammenführen und sie veranlassen, sich gegenseitig zu schützen. Und die sorgsam gepflegte Liebe zur Freiheit wird sie davor bewahren, einander gleich zu werden und dem Stillstand zu verfallen, wie es noch in allen erzwungenen Vereinigungen zugetroffen ist; ihre Verträge, auf der Freiwilligkeit beruhend, werden sich als vollkommen harmonisch erweisen, während ihre Misshelligkeiten, von aller Invasion frei, das Minimum von Disharmonie enthalten werden.

Also nochmals: vertrauet alles der Freiheit.

J. WM. LLOYD.

(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 4–5.)

Anmerkungen

Ein Saatkorn gepflanzt.

Zeit: Donnerstag, den 17. Mai, 7:30 Uhr Abends.

Ort: Wohnung des Redakteurs von Libertas, 10 Garfield Ave., Crescent Beach, Revere (ein Town in den Vorstädten Bostons).

Dramatis Personae: Charles F. Fenno, sogenannter Steuereinnehmer von Revere, und der Redakteur von Libertas.

Auf ein Anklopfen an seine Vordertür öffnet der Redakteur von Libertas dieselbe und findet sich einem Manne gegenüber, den er nie vorher gesehen hat, und der sich als Fenno zu erkennen gibt.

Fenno. – „Wohnt Herr Tucker hier?“

Redakteur von Libertas. – „So heisse ich, mein Herr.“

F. – „Ich komme wegen der Kopfsteuer.“

R. von L. – „Nun?“

F. – „Nun, ich komme dieselbe zu kollektieren.“

R. von L. – „Bin ich Ihnen etwas schuldig.“

F. – „Doch wohl.“

R. von L. – „Habe ich mich je bereit erklärt, Ihnen etwas zu zahlen?“

F. – „Nicht eben das, aber Sie waren hier wohnhaft am ersten Mai letzten Jahres und die Gemeinde legte Ihnen eine Steuer von einem Dollar auf.“

R. von L. – „O, es ist also nicht eine Sache des Übereinkommens?“

F. – „Nein, es ist eine Sache des Zwangs.“

R. von L. – „Aber ist das nicht eigentlich ein mildes Wort dafür? Ich nenne es Raub.“

F. – „Nun, genug, Sie kennen das Gesetz; es bestimmt, dass alle Personen im Alter von zwanzig Jahren und darüber, die am ersten Mai in einem Orte wohnen“ –

R. von L. – „Ja, ich kenne das Gesetz, aber das Gesetz ist der grösste aller Räuber.“

F. – „Das mag sein, aber ich will das Geld.“

R. von L. (indem er einen Dollar aus der Tasche nimmt und Fenno darreicht) – „So sei’s denn. Ich weiss, Sie sind stärker als ich, weil eine Menge andrer Räuber hinter Ihnen stehen, und dass Sie die Macht haben, mir diesen Dollar abzunehmen, wenn ich Ihnen denselben verweigere. Wüsste ich nicht, dass Sie stärker sind als ich, würde ich Sie die Treppe hinunterwerfen. Aber da ich weiss, dass Sie stärker sind, gebe ich Ihnen den Dollar gerade wie ich ihn jedem andren Strassenräuber darreichen würde. Sie haben jedoch kein besseres Recht, denselben zu nehmen, als in das Haus zu treten und alles Andre zu nehmen, was Sie ergreifen können, und ich sehe nicht ein, warum Sie das nicht tun.“

F. – „Haben Sie Ihre Steuerrechnung bei sich?“

R. von L. – „Ich nehme nie eine Quittung für Geld, das man mir stiehlt.“

F. – „O, so ist’s?“

R. von L. – „Ja, so ist’s.“

Und die Tür schloss sich in Fennos Gesicht.

Er schien ein harmloser und unschuldiger Mensch zu sein, ohne eine Ahnung des schändlichen Charakters seines Amts, und ich vermute, er wundert sich jetzt noch, wenn er nicht mit seinen Mitbürgern die Sache bespricht, über den eigentümlichen Sonderling, der in No. 10 Garfield Ave. wohnt, und fragt sich wohl, ob es nicht geraten wäre, denselben schnurstracks in einer Irrenanstalt unterzubringen. Falls er seine Unterredung im Lichte des unten folgenden Artikels aus der Feder J. Wm. Lloyds wieder erwägen sollte, würde er vielleicht entdecken, dass die Tollheit der Anarchisten, welche den „Steuereinnehmer“ zu umgehen versuchen, nicht ohne Methode ist.

T.

(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 4.)

Anmerkung

Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.

☞ Wir ersuchen die Leser um Nachsicht, wenn Libertas für die nächste Zukunft unregelmässig und nur in längeren Zwischenräumen erscheint. Die dem Blatte bisher zuteil gewordene Unterstützung reicht nicht aus, um dasselbe alle vierzehn Tage herauszugeben. Aber es liegt nicht im Sinne von Libertas, den Kampfplatz zu verlassen. Sobald es die Unterstützung zulässt, wird Libertas wieder alle vierzehn Tage regelmässig erscheinen. Wir werden die nächste Nummer gegen Ende Juni herausgeben.

(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 4.)

Anmerkung

Diese Mitteilung der Redaktion greift den Umstand auf, dass die Nummer 6 der Libertas nicht schon am 26.05., sondern erst am 02.06.1888 erschienen ist. Die Anzahl Abonnenten reichte nicht aus, um die Zeitung tatsächlich alle 14 Tage erscheinen zu lassen. Rückblickend wissen wir, dass die Libertas zwei Ausgaben später schliesslich eingestellt werden musste. Trotzdem erschienen die Nummern 6 und 7 noch im gewohnten Umfang von 8 Seiten, während die letzte Ausgabe 8 nur noch vier Seiten umfasste.

Die bevorstehende Wahlkampagne.

Obgleich es wahr ist, dass Freihandel als eine ökonomische Massregel, wenn nicht durch andere Reformen ergänzt, den Opfern des heutigen Industriewesens kein Heil bringt und daher, von diesem Gesichtspunkt aus, nicht die Berücksichtigung der wahren Reformfreunde verdient, ist es dennoch nicht zu leugnen, dass eine Wahlkampagne, die sich um die Streitfrage Freihandel gegen Protektion dreht, sich nebenbei von unberechenbarem Wert für die anarchistische Bewegung und die Emanzipation des arbeitenden Volkes erweisen könnte. Dass in der bevorstehenden Kampagne diese Frage den Ausschlag geben wird, ist natürlich sehr unwahrscheinlich. Was immer auch einzelne Demokraten hier und dort sagen und tun mögen, die Parteimaschine und die Hauptmacher und einflussreichsten Organe der sogenannten Demokratie werden niemals zugeben, dass es zu einem offenen und ehrlichen Kampf zwischen Freihandel und Protektion komme. Aber wenn die Republikaner sich beharrlich weigern sollten, die apologetische Haltung der Steuerreformer, sowie ihre Protestationen, dass sie nicht zu Gunsten des Freihandels seien, zu berücksichtigen und es dahin bringen sollten, die Demokraten zu zwingen, schliesslich das Banner vollkommenen und absoluten Freihandels zu erheben, so würden sie den Anarchisten einen grossen Dienst erweisen und sich dieselben sehr verpflichten. Die Anarchisten könnten ihnen nicht versprechen, sich als ihre Verbündeten an der Politik zu beteiligen, und ihnen nicht helfen, ihre Gegner zu schlagen, aber sie würden sich gewiss verpflichten, den Demokraten keinerlei Unterstützung und Ermutigung zu geben.

Kein intelligenter Mensch kann sich in eine Diskussion der Tariffrage einlassen, ohne sich verpflichtet zu finden, seine Ansichten über die fundamentalen Prinzipien der sozialen und politischen Beziehungen auseinanderzusetzen. Den Tarif zu besprechen heisst in Wahrheit die beiderseitigen Vorzüge des Paternalismus und Laissez faire zu besprechen. Ein Protektionist, indem er seine Stellung verteidigt, kann sich nicht der Notwendigkeit entschlagen, die kommunistische Auffassung des Individuums und des Staates zu teilen, während ein Freihändler keine fünf Minuten auf die Widerlegung protektionistischer Argumente verwenden kann, ehe er dreist anarchistische Doktrinen ausspricht und verficht. Wie wäre es in der Tat möglich, in einer mehr oder weniger befriedigenden Weise der Protektion das Wort zu reden, ohne auf die Rechte der Allgemeinheit, die angemessene Ausübung von Zwang seitens der Majorität über eine abweichende Faktion, die vernunftgemässe Sphäre der staatlichen Tätigkeit und Kontrolle, die heilsamen Wirkungen künstlicher Regulierung und Einmischung in die natürlichen Betätigungen ökonomischer Gesetze, etc., hinzuweisen und darüber zu argumentieren? Auf der andern Seite, wie kann ein nachhaltiger Angriff auf Protektion, eine durchgreifende und konsequente Verteidigung der Freiheit gemacht werden, ohne eine logische Beweisführung zu Gunsten der Spontaneität, der Privatinitiative, der Selbstherrlichkeit des Individuums und der Wohltätigkeit der freien Konkurrenz? Die Vergangenheit hat gezeigt, dass diese Streitfrage nicht erörtert werden kann, ohne Herbeiziehung anderer, tiefergreifenderer und wesentlicheren Fragen. Und wir dürfen seitens der Führer und Organe der entgegengesetzten Parteien ein freies Umsichwerfen mit solchen Schlagwörtern wie Kommunist, Sozialist, Paternalist, Anarchist, Individualist, Naturalist, etc., erwarten.

Die Anarchisten können (und sollten deshalb) grossen Nutzen aus einer solchen Kampagne ziehen. Ohne sich nach dem Beispiel Georges und anderer Arbeiterpolitiker zu entehren und zu erniedrigen, können sie dem Kampfe zusehen und, indem sie sich von den Tagesereignissen belehren lassen, die Konzentration der öffentlichen Aufmerksamkeit wahrnehmen und dem Volke die logische Tragweite der infrage gezogener Prinzipien zeigen. In öffentlichen Versammlungen und in der Presse können wir sagen, was die Ämterjäger sich veranlasst fühlen, ungesagt zu lassen, und den Beweis führen, dass die wahre Streitfrage zwischen Protektion und Freihandel vom ökonomischen Gesichtspunkt eine Streitfrage zwischen absoluter Freiheit der Industrie und staatlichem Monopol, und vom politischen und ethischen Gesichtspunkt eine Streitfrage zwischen individueller Selbstherrlichkeit und zwangsmässigem Kommunismus ist.

VICTOR YARROS.

(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 1.)

Anmerkungen

  • Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
  • Henry George (1839–1897) war ein US-amerikanischer politischer Ökonom und der einflussreichste Befürworter einer Einheitssteuer auf Landbesitz (womit er wohl den Zorn der Individualanarchisten auf sich zog). George inspirierte die nach ihm benannte Philosophie des Georgismus, nach der jeder das besitzen solle, was er selbst durch Arbeit kreiert habe, und nach der die Erträge aus in der Natur aufgefundenen Gütern, d. h. Bodenrenten und Ressourcenrenten allen Menschen zu gleichen Teilen gehören sollten. Er war ausserdem ein Gegner des Protektionismus.
  • Mit der „bevorstehenden Wahlkampagne“ meint Yarros wohl die 26. Präsidentschaftswahl von 6. November 1888.
  • In den USA stritt man sich seit der Gründung unentwegt über Protektionismus und Freihandel. Einerseits ging es immer z. B. wieder um den Schutz der heimischen Textilindustrie gegen britische Importe, andererseits erzwangen die USA schon 1853 mit der Drohung eines Bombardements die Öffnung Japans für amerikanische Exporte. Ein guter Überblick über die historische Entwicklung kann man hier nachlesen.
  • Yarros spricht hier auch die Schutzzollpolitik der Nordstaaten an, welche sich bereits vor dem Bürgerkrieg (1861–65) im industriellen Aufbau befanden und daher ein Interesse an Protektionismus hatten. Die Republikaner, damals die Partei des Nordens, setzte sich nach dem Bürgerkrieg mit ihrer protektionistischen Handelspolitik durch. Der landwirtschaftliche Süden, vertreten durch die Demokraten, war hingegen an Freihandel, d. h. an Export von Baumwolle und Getreide nach England, sehr interessiert. Der Bürgerkrieg war also nicht nur ein Kampf um die nationale Einheit und die Sklavenbefreiung, sondern auch eine Auseinandersetzung zwischen Protektionismus (Industrie) gegen Freihandel (Landwirtschaft).