Theorie und Praxis – Emma Heller Schumm
Theorie und Praxis.
Es ist die alte Geschichte, doch bleibt sie ewig neu. Ein Freund schreibt uns:
Ich lese Libertas regelmässig, muss aber gestehen, dass ich weiter davon entfernt bin, als je, ein Bekehrungskandidat zu sein. Ich glaube nicht, dass was in der Theorie wahr, in der Praxis anwendbar ist. Die aufs feinste ausgeführten Berechnungen in der Mathematik sind an und für sich richtig genug, – versuche sie praktisch anzuwenden, und die Feinheit geht verloren.
Nun, und was dann? Was ist der Schluss, den die Logik nicht nur unseres Freundes, sondern seiner unzähligen Glaubensgenossen aus dieser, der obigen Illustration entsprechenden Tatsache zu ziehen scheint? Dass wir der Mathematik den Rücken kehren und ihren Gesetzen zuwider unsere Vermessungen vornehmen, unsere Brücken bauen und unsere Maschinen konstruieren sollen; dass wir, weil es in der Praxis nicht möglich ist, zwei absolut parallele Linien zu ziehen, alle unsere Linien sich lieber gleich kreuzen lassen sollen; dass wir das Justieren und Polieren ganz unterlassen sollen, da das perpetuum mobile doch nicht dabei herauskommt? Nicht doch, es hat sich noch immer durch die Erfahrung erwiesen, dass in der angewandten Mathematik die grösste wissenschaftliche Genauigkeit die besten Erfolge erzielt, und dass ohne Richtscheit und Winkelmass selbst der einfachste Schuppen nicht hergestellt werden kann.
Aber die Menschen, die Menschen sind kein berechenbares Material. Es lässt sich einfach keine Theorie aufstellen, mit der Erwartung, dass die korrupten, schlechten, dummen und eigensinnigen Menschen derselben auch nur annähernd nahekommen. So wenden mir der unbekehrbare Leser von Libertas und seine Genossen ein. Und nun stehe ich vor dem geflügelten Wort, das wie ein Kaltwasserguss das Feuer einer jeden idealen Bestrebung abzukühlen sucht: „Was in der Theorie wahr ist, ist nicht immer in der Praxis ausführbar.“ Doch ich will mich von dieser Fledermaus – ein Vogel ist es doch nicht –, die mir bei jedem Schritt, den ich aus meiner Klause wage, gegen den Kopf anprallt, nicht so leicht verblüffen lassen, und will erst einmal untersuchen, wie weit diese viel gepriesenen Flügel sie zu tragen imstande sind.
Also wahr, richtig muss die Theorie doch sein, wenn sie überhaupt in Betracht kommen soll. Was aber macht die Wahrheit oder Richtigkeit einer Theorie aus? Doch nur die wissenschaftlich zu begründende Tatsache, auf der sie ruht.
Wenn der Grundsatz, dass der mit fünf gesunden Sinnen begabte Mensch nur in der Freiheit sich vollkommen entwickeln und glücklich fühlen kann – das ist die ganze dem Anarchismus zu Grunde liegende Theorie – richtig ist, so ist es auch wahr, dass nichts als die Freiheit imstande ist, den Menschen zum Glücke zu führen, ebenso sehr, wie es wahr ist, dass nichts als die Befolgung der Gesetze unserer physischen Natur unser körperliches Wohlbefinden sichern kann. Wir mögen diese Gesetze noch nicht genau kennen, und diejenigen, die wir kennen, mögen wir unter Umständen nicht imstande sein, zu befolgen, aber die Tatsache bleibt bestehen, dass wir uns weder vollkommener Gesundheit noch vollkommener Kraft erfreuen können, solange wir in dieser Beziehung unwissend und unvermögend bleiben. Deshalb forschen auch Ärzte und Männer der Wissenschaft unermüdlich nach diesen Gesetzen und es fällt ihnen nicht ein, ihre Forschungen einzustellen, weil wir doch wahrscheinlich diese Gesetze, wenn sie aufgefunden sind, nicht ganz genau werden befolgen können, und den Laien fällt es nicht ein, ihre Bemühungen als nutzlos oder gar lächerlich und tollhäuslerisch hinzustellen.
Kommt es aber darauf an, die Gesetze der sozialen, geistigen und ethischen Gesundheit zu untersuchen, da wird es demselben Laien gleich angst und bange. Er fühlt, dass es ihm jetzt an seinen alten Schlendrian geht, dass er nicht mehr Gott einen guten Mann sein lassen kann, ohne vorher seinen Charakter einer Untersuchung unterworfen zu haben, dass er an alles einen neuen Massstab anlegen muss, an sein eigenes Gewissen, an sein Familien- und Geschäftsleben, an Staat und Gesellschaft, dass er, falls er die neue Lehre annimmt, sich gleich der ganzen denkfaulen, gewohnheitsduseligen Welt feindlich gegenüber stellen muss. Ich spreche jetzt nicht von dem Gegner, der sich aus wohldurchdachter Überzeugung oder aus Dummheit voll und ganz auf den Standpunkt stellt, dass unser Prinzip falsch ist, sondern von dem, der den Berg von Hindernissen und mühseliger geistiger Arbeit, die sich ihm bei dieser Frage in den Weg stellen, durch die bequeme Ausrede zu umgehen sucht: in der Theorie ist das Ding ganz richtig, aber praktisch unausführbar. Ist das Unehrlichkeit oder Dummheit?
Es ist entweder das Eine oder das Andere. Kein wahrhaft intelligenter Mensch kann der Konsequenz entgehen, dass was im Prinzip wirklich richtig, das heisst, kein blosses Hirngespinst oder phantastischer Traum ist, auch praktische Berücksichtigung finden muss, und in demselben Grade, in dem es vernachlässigt und vergewaltigt wird, Schaden und Leiden, Verlust und Unglück nach sich ziehen wird. Ein richtiges Prinzip ist sozusagen ein Naturgesetz und unerbittlich wie ein Naturgesetz. Es verlangt Gehorsam gleich einem Naturgesetz und bestraft jede Übertretung, wie die Natur sie bestraft. Pflanze die Eichel in eine Vase, die Vase zerspringt und die Pflanze verdirbt; pflanze sie in einen grossen Kübel, und das kleine Bäumchen ist ein elendes Exemplar im Vergleich mit dem Riesen auf der Wiese, der manches Menschenalter hindurch Wind und Wetter trotzt. Stecke das junge Mädchen in ein Kloster und mache eine Nonne aus ihr, du erzielst ein verkümmertes Dasein, das nie zur vollen Blüte gelangt. Die Menschen, wie sie sind, unedel, unzuverlässig, unschön an Leib und Seele, „nicht wert, dass man sich für sie opfert“, im Kampf uns Dasein entweder zu Blutsaugern oder zu elenden, ausgesaugten Krüppeln geworden, sind ein sprechendes Beispiel des Ungehorsams gegen ein richtiges Prinzip. Wir mögen geistig unfähig sein, dies zu verstehen, wir mögen die grossen Miseren der Welt nicht kennen, oder sie andern Ursachen zuschreiben, was soll aber dann das alberne Geschwätz von der Richtigkeit einer Theorie, die man nicht einmal als richtig anerkennt? Ist das nicht dumm und unehrlich zugleich?
Wer aber vorgibt, zu verstehen, um was es sich handelt, und demzufolge die Richtigkeit aber Unausführbarkeit der Theorie postuliert, der versteht entweder doch nicht, wovon er spricht, und sein unlogischer Geist zwingt uns keine Achtung ab, oder aber er versteht es und fürchtet sich vor den Konsequenzen, vor den etwaigen persönlichen Gefahren und Unbequemlichkeiten, die ihm aus einem offenen Bekenntnis erwachsen möchten. Er ist unehrlich, feige und verächtlich.
E.H.S.
(Libertas 7, Samstag, 30. Juni 1888, S. 4.)
Anmerkung
Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.