Eine Exkursion nach Plymouth Rock – George Schumm
Eine Exkursion nach Plymouth Rock.
Wenige Städte haben eine schönere Umgebung als Boston und Boston selber ist nicht ohne grossen Reiz. Überall kommt die Natur dem Gemüt und der Fantasie des Menschen entgegen. Alles ladet zu heiterem Lebensgenuss ein. Was einzig dazu erforderlich ist, ist eine unbefangene und freie Auffassung der Natur und des Lebens. Nirgends könnten sich freie Menschen mehr des Daseins freuen, als hier. Aber gerade das fehlt: freie Menschen, das Vorherrschen einer unbefangenen und natürlichen Welt- und Lebensanschauung. Infolgedessen hat das Leben in Neu-England einen düsteren Anstrich. Der Einladung der Natur, an den Sonntagen hinaus ins Freie zu ziehen, Gram und Sorge und Armut an die Seite zu schieben, und bei Wein und Bier und freudvollem Tanz und Spiel mit den Frauen [Freunden?; Wort unleserlich] sich zu freuen, darf man hier nur auf die Gefahr hin zu folgen wagen, mit dem Polizeistock und dem Gerichtshof in Berührung zu kommen. Der freie, frohe Lebensgenuss ist gesetzlich untersagt. Der fromme Puritaner könnte sich beim Anblick fröhlicher Feste die Augen verrenken.
Aber die Menschen wissen sich zu helfen. Wie „Mein Onkel Benjamin“ bemerkt, verkehrt die Fröhlichkeit immer mit der Knechtschaft; „das Volk trug Ketten, aber es tanzte darin, und wenn sie rasselten, so klang es wie Kastagnetten.“ Wenn man auf dem Lande nicht seine Feste feiern und der Freude leben darf, so wehrt’s einem doch niemand auf der See. Zwar wurde s. Z. der Menschenhandel auf der See durch die Gesetze des Landes als Kapitalverbrechen behandelt, (während sie ihn auf dem Boden der Republik beinahe ein Jahrhundert lang als ein heiliges Recht beschützten), und ein heidnischer Lebensgenuss ist im Auge des christlichen Gesetzes kaum ein geringeres Verbrechen als der Menschenhandel. Daraus könnte man schliessen, dass heidnischer Lebensgenuss auch auf der See wie ein Verbrechen behandelt würde, zumal ihm auf dem Lande keine so liebevolle Fürsorge zuteilwird, wie einst dem Menschenhandel. Das ist aber nicht der Fall. Wenn das Gesetz auch auf dem Lande das Heidentum lieber gleich mit Stumpf und Stiel ausrotten möchte, so gibt es demselben doch auf dem Meere die Zölle frei. So recht eigentlich das Sinnbild der Freiheit, ladet die See zudem zu heiterem Lebensgenuss geradezu ein. Diesen Umstand machten sich die Bostoner Turner am letzten Sonntag zu Nutze, indem sie für die Gelegenheit ein Dampfboot mieteten und eine Exkursion nach Plymouth Rock veranstalteten.
Stark besetzt, und reichlich mit den Gaben des Bacchus und Gambrinus versehen, verliess das Boot „Nantasket“ präzis zehn Uhr Vormittags unter den erhebenden Klängen der Musik das [sic!] Werft. Alles strahlte von Freude. Und immer lustiger wurde es, je weiter wir uns von den Marken des Gesetzes entfernten und mutig hinausstiessen auf das freie, herrenlose Gebiet des wild dahin wogenden Meeres. Der Anblick des ungebundenen und doch massvollen Verkehrs der Menschen an Bord des [sic!] „Nantasket“ liess eine Ahnung des Lebens aufsteigen, wie es sich einst unter der Freiheit gestalten wird. Hier wurde allerdings nur der freie Sonntag und die Freiheit Gambrins gefeiert. Es war das keine segelnde Republik, wie sie Garibaldi vorgeschwebt hatte, immer bereit, da zu landen, wo es für die Freiheit zu kämpfen gelten würde. Die Betrachtung, dass sich die Turner, wie überhaupt das freisinnige Deutschtum, nicht für die ganze und allseitige Freiheit zu begeistern vermögen, wirkt ernüchternd. Auch wir Anarchisten sind willens, für den freien Sonntag und für die Freiheit Gambrinus zu Felde zu ziehen, aber unsere Freiheitsliebe findet nicht hier ihre Grenze. Wir erheben die ganze und allseitige Freiheit auf unseren Schild. Ich habe Männer kennengelernt, die bereit gewesen waren, für die Trinkfreiheit ihr Leben einzusetzen, die sich aber allen darüber hinaus zielenden Freiheitsbestrebungen gegenüber entschieden feindlich verhielten. Die Münchener machen Revolution, wenn eine neue Steuer vom Bier erhoben werden soll, aber ich habe noch nicht gehört, dass sie für die Befreiung der Arbeit von der erdrückenden Last gesetzlicher Privilegien auch nur den kleinen Finger gerührt haben. Bei derartigen Betrachtungen kommt mir immer das Wort Heinzens in den Sinn: „Nieder mit dem Bier, solange es nicht heisst, hoch die Idee!“
Nach einer nahezu vierstündigen Fahrt langten wir in Plymouth Rock an. Die Stunde, die uns zum Aufenthalte daselbst gewährt war, wurde zur Aufsuchung der reichlich vorhandenen geschichtlichen Denkmäler benutzt. Hier landeten bekanntlich im Winter des Jahres 1620 jene Pilgrime, die auf der „Mayflower“ ein Reich suchten, das nicht von dieser Welt war, das Reich der Gedanken- und Gewissensfreiheit. Ihrer Gesinnungen wegen im alten Vaterlande verketzert und verfolgt, unterzogen sie sich selbstvertrauend und hoffnungsvoll den Entbehrungen und Mühseligkeiten, welche die Gründung eines freien Gemeinwesens in dem neuen Weltteil damals mit sich brachte. Anders als die Abenteurer, die sich auf die Jagd nach Gold begaben, waren diese Menschen ausgezogen, um einen Fleck Erde zu suchen, auf dem sie frei und sorglos ihrem besseren Selbste leben konnten. Leider vergassen sie später, als sie die Freiheit für sich errungen hatten, die Segnungen derselben auch den ihrem engeren Kreise fernstehenden Menschen zuteilwerden zu lassen. Ja, aus Verfolgten wurden sie selber zu Verfolgern. Das gilt namentlich von den Puritanern, welche bald nach der Niederlassung der Pilgrime auf Plymouth Rock von England herüberkamen und neue Ansiedlungen gründeten. Indem ich aber im Geiste durch die Zeiten zu ihnen hinüberschweifte, entdeckte ich immerhin manche Berührungspunkte und vieles, das mich sympathisch ansprach; wenn nicht die Gesamtheit, so doch bemerkenswerte Einzelheiten, welche auf das wahrhaft Grosse hinwiesen. Auch konnte ich, der ich mit meinen Gesinnungsgenossen selber in eine neue Welt gezogen bin, in die Welt des Anarchismus, mir einigermassen das harte und beschwerliche Leben mit seinen unendlichen Kämpfen und Sorgen vergegenwärtigen und würdigen, welches hier das Los der Pilgrime und Puritaner wurde. Haben wir doch ähnliche Pioniersarbeiten zu verrichten. Und obgleich der Felsen von Plymouth, wie ein deutsch-amerikanischer Dichter singt, noch keine goldnen Früchte getragen hat, so fand ich es doch schön und passend, dass ein „dankbares Volk“ auf einem auf einer Anhöhe errichteten, noch unvollendeten Monument im Namen „der religiösen und bürgerlichen Freiheit“ das Gedächtnis dieser Pioniere feiert, aber es erschien mir als eine traurige Illustration zu dieser Freiheit, „Pilgrim Hall“ mit ihren Sehenswürdigkeiten am Sonntage geschlossen zu finden. Mit grossem Interesse las ich auf einem Steine den Wortlaut des Vertrags, wonach die Passagiere an Bord der „Mayflower“ sich vereinbarten, auf dem neuen Grund und Boden ein freies, auf „gleichen und gerechten Gesetzen“ beruhendes Gemeinwesen zu gründen; es erweckte aber eine tiefe Wehmut in meiner Brust, als ich weiter las, dass dieser Vertrag am 11. November 1620 ausgefertigt und unterzeichnet wurde und sich mir die Betrachtung aufdrängte, dass die hier geborene Freiheit an einem anderen 11. November in Chicago erwürgt und zu Grabe getragen wurde.
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Weitere Betrachtungen überlasse ich dem Leser. Hier nur noch die Frage: werden die Menschen ewig um die Freiheit kämpfen, nur um sie nach errungenem Sieg wieder zu zertreten? Heinzen verglich einmal die Freiheit mit dem Meer. Aller Unrat und aller Schmutz der Welt wird dem Meere zugeführt, aber mit selbstreinigender Kraft erhält es sich ewig frisch und klar und rein. Wird die Erkenntnis niemals tagen, dass auch die Freiheit ihrem innersten Wesen gemäss mit selbstreinigender Kraft alle schmutzigen, unsittlichen und feindlichen Elemente der Gesellschaft unerbittlich ausscheidet und nur das Reine, Gesunde und Starke duldet? Nur an diese Erkenntnis knüpfe ich meine Hoffnungen für die Freiheit.
G.S.
(Libertas 7, Samstag, 30. Juni 1888, S. 5.)
Anmerkungen
- Plymouth Rock ist heute noch ein beliebtes Ausflugsziel.
- Der Name des Boots, „Nantasket“ bezieht sich auf einen Strand in der Umgebung Bostons.
- Mein Onkel Benjamin (Mon oncle Benjamin) ist ein humoristisch-satirischer Roman des Franzosen Claude Tillier (1801–1844) aus dem Jahre 1843. Eine Übersetzung ins Amerikanische fertigte Benjamin Tucker an.
- Zum Publizisten Karl Heinzen s. die Anmerkungen hier.