Auf festem Grund und Boden – George Schumm

Auf festem Grund und Boden.

Ein alter Radikaler vom Schlage Karl Heinzens und ehemaliger Leser meiner „Radical Review“ schrieb mir kürzlich, er wolle auch ein Leser von Libertas werden, obgleich ihm das neue Blatt „keine richtige oder naturgemässe Fortsetzung des alten zu sein“ scheine. „Es ist da eine unvermittelte Lücke“, meint er, „ein Sprung, nicht vorwärts, sondern in die Luft.“

Das ist nun eine Beschuldigung, die mein Korrespondent nicht aufrechterhalten kann. Zwischen meinem früheren und meinem heutigen Standpunkt existiert weder eine unvermittelte Lücke, noch habe ich einen Sprung „in die Luft“ getan. Dass er diese Beschuldigung erheben konnte, liefert mir einen Beweis für seine geistige Konfusion. Wenn ich nicht genau mehr auf demselben Punkt stehe, den ich vor ein paar Jahren einnahm, so kann ich das damit erklären, dass ich seit jener Zeit infolge tieferer Einsicht in das Wesen des sozialen Problems in gerader Linie vorwärtsgeschritten bin. Von einem „Sprung in die Luft“ oder einer „unvermittelten Lücke“ kann da nicht die Rede sein.

Wenn mein Korrespondent ein fleissiger und aufmerksamer Leser der „Radical Review“ war, wird er sich erinnern, dass ich in derselben stets konsequent der echt demokratischen Ansicht gehuldigt habe, dass diejenige Regierung die beste sei, die am wenigsten regiere. Ich habe instinktiv nie viel von der Regiererei gehalten. Früh schon ward es mir klar, dass, wie mächtig auch eine Regierung sei, sie doch über keine Mittel verfüge, welche dem Fortschritt der Menschheit Vorschub zu leisten vermöchten. Es leuchtete mir ein, dass die gesellschaftliche Entwicklung wesentlich ein Naturprozess sei und dass man sich für den Fortschritt ausschliesslich auf die natürlichen Agentien verlassen müsse, welche im Zustand der Freiheit immer zur Geltung gelangen. Aber obwohl ich in Bezug auf diese Punkte mit mir im Reinen war und meine Tätigkeit mit dieser Anschauung in Einklang brachte, lebte ich doch noch in Unkunde hinsichtlich des wahren Wesens des Staates. In dem Streben nach Verbesserung der Volkslage hatte ich zwar längst schon auf alle Unterstützung seitens des Staats verzichtet, aber es war mir noch nicht klar geworden, wie gerade in ihm die fortschrittsfeindlichen Mächte und Interessen ihre Verkörperung finden, und dass man ihn folglich nicht einfach ignorieren könne, was ich ja tat, sondern dass man ihn energisch bekämpfen müsse. Diese Erkenntnis ist mir erst später gekommen. Indem ich aber bei diesem Punkt anlangte, habe ich nach meinem Korrespondenten einen Sprung „in die Luft“ getan. Meinem Dafürhalten nach war es ein Schritt in gerader Linie vorwärts.

Betrachten wir die Sache ein wenig genauer. Ich habe einfach die Jefferson’sche Devise, dass diejenige Regierung die beste sei, die am wenigsten regiere, logisch bis zur Verneinung jeder Regierung ausgeführt. Und so befinde ich mich jetzt auf einem Standpunkt, der nicht sehr weit von demjenigen entfernt ist, den Karl Heinzen behauptete. Ich erwähne das, weil mein Korrespondent diesen grossen Denker nicht im Verdacht hat, je einen Sprung in die Luft getan zu haben. Karl Heinzen war aber ein Verfechter des Individualismus bis hart an die Grenze, wenn nicht über dieselbe hinaus, die auf anarchistisches Gebiet streift. Er nannte sich allerdings nicht Anarchist; vielmehr hätte er diese Bezeichnung wohl abgelehnt. Aber ich habe kaum einen andern Mann kennengelernt, in dem das anarchistische Grundprinzip von der Selbstherrlichkeit des Individuums in so hohem Masse zum Ausdruck gelangte wie in Karl Heinzen. Wenn es je einen Menschen gab, der sein eigenes Gewissen sich zum Leitstern nahm und der kein höheres Gesetz je anerkannte als das im eignen Wesen sich offenbarende, so war er es. Und in Übereinstimmung mit diesem Grundzug seines Charakters verwies er den Staat auf das allerkleinste Gebiet und forderte für die individuelle Initiative den grösstmöglichen Spielraum. Nach seiner Auffassung waren Staat und Volk nicht sich deckende Begriffe, und er hegte ein wohlbegründetes Misstrauen gegen den ersten. Er nahm Anstoss sogar an dem Wort Demokratie, weil es den Begriff der Herrschaft ausdrücke, aber wo Herrschaft sei, auch Diener sein müssen, und ein [freies?; Wort unleserlich] Volk weder die einen noch die anderen kenne. Und ihm zufolge fällt mit dem Begriff der Herrschaft auch der Begriff der Regierung. Die Privatinitiative wollte er möglichst uneingeschränkt. „Was der Einzelne oder eine Assoziation von Einzelnen tun kann, soll der Staat nicht tun.“ Dies wollte er namentlich in Bezug auf das Verkehrs- und Erwerbsleben beachtet wissen. Deshalb opponierte er heftig der Agitation im „Bunde der Radikalen“ zu Gunsten der Verstaatlichung der Eisenbahnen, Telegraphen, u. s. w. Dass unsere heutigen Eisenbahnmagnaten im Stande sind, Erpressungen zu üben und das Volk auszubeuten, dafür machte er nicht den Individualismus verantwortlich, sondern da schrieb er ganz richtig dem Staate selber zur Last. Es ist daher auch ein Irrtum seitens des „Freidenkers“, wenn er unlängst behauptete, Heinzen habe die Verstaatlichung des Verkehrswesens nicht prinzipiell, sondern aus opportunen Gründen bekämpft. Dass der Staat die Post besorgt, schien Heinzen „mehr eine traditionelle, im despotischen Interesse begründete Einrichtung als ein Bedürfnis zu sein.“

Das ist alles in vollkommener Übereinstimmung mit anarchistischen Anschauungen. Wenn Heinzen diese Anschauungsweise nicht konsequent durchgeführt hat, so verschlägt das nichts gegen den Anarchismus. Ein anderer grosser Denker, nebenbei bemerkt, und ein Zeitgenosse Heinzens, Ralph Waldo Emerson, führte diese Anschauungsweise konsequent durch und sah eine Zeit ab, in welcher der politische Staat in Wegfall kommen wird und freie Individuen seine Stelle einnehmen werden.

Und damit genug. Mit diesem Hinweis auf den Heinzen’schen Individualismus, für den ich bei meinem Korrespondenten ein grösseres Verständnis voraussetze als für den Anarchismus, obgleich richtig verstanden und konsequent durchgeführt, beide Begriffe sich decken und eigentlich kein Unterschied zwischen ihnen herrscht, hoffe ich dargetan zu haben, dass es mit der „unvermittelten Lücke“ und dem „Sprung in die Luft“ nichts ist und dass ich mich heute mehr denn je auf festem Grund und Boden befinde.

G.S.

(Libertas 2, Samstag, 7. April 1888, S. 5 und 8.)

Anmerkungen

Bei der angesprochenen „Radical Review“ handelte es sich um eine englischsprachige radikal-liberale, freidenkerische Wochenzeitung, welche 1883–1884 in Chigago erschien und ebenfalls von George Schumm und Emma Heller Schumm herausgegeben wurde. Beide wurden in den USA geboren, doch sie bewegten sich lange in einem deutschstämmigen „48er“-Milieu. Dieses bestand aus geflüchteten Radikalen aus dem Gebiet des Deutschen Bundes. Einer dieser 48er war auch der Schriftsteller und Publizist Karl Heinzen (1809–1880), ein Unterstützer der badischen Revolution. Er gründete in den USA u. a. den im Text erwähnten „Bund der Radikalen“ (Marek Czaja (2006): Die USA und ihr Aufstieg zur Weltmacht um die Jahrhundertwende: Die Amerikaperzeption der Parteien im Kaiserreich, Historische Forschungen Band 82, Berlin: Duncker & Humblot, S. 75.).

Eintrag Radical Review Eintrag der Radical Review in: N. W. Ayer & Son’s American Newspaper Annual: containing a Catalogue of American Newspapers, a List of All Newspapers of the United States and Canada, 1884, Volume 2, S. 978. (Quelle: UNT Digital Library)