Die Frauenfrage – Victor

„Die Frauenfrage.“

Möglicherweise auf Kosten meines Rufs als ein Radikaler, sicherlich aber zur Unterhaltung und Anregung der Leser von Libertas, gedenke ich in diesem Artikel einige konservative Gedanken in Bezug auf die sogenannte Frauenfrage auszusprechen. Ich unterziehe mich dieser Arbeit nicht so sehr, um meine eigenen Ansichten darzulegen, als vielmehr, um auf diese Weise eine gründliche Formulierung und Klarstellung der Ansichten Andersdenkender zu provozieren. Die Diskussion (wenn es so bezeichnet werden kann) der Frauenfrage beschränkte sich bisher auf Allgemeinheiten und Trivialitäten, während man es als ein absolutes Erfordernis eines fortschrittlichen und freisinnigen Denkers betrachtete, dass er sich zu dem Dogma von der Gleichheit der Geschlechter bekannte und sich mit billigem Geschwätz über die ökonomische Emanzipation, gleiche Rechte, etc., des „schwächeren Geschlechts“ abgab. Indem ich es ablehne, dieses Gerede papageienartig nachzuplappern, verlange eine solide Begründung des Standpunkts, den ich bei allem guten Willen zurzeit nicht als wohlbegründet erachten kann.

Aber man erlaube mir, zum voraus zu erklären, dass ich nicht ein Wort gegen die Forderung – welche, leider! nicht sehr laut und bestimmt ist seitens der Frauen einzuwenden habe, die sich in den Worten gibt, „Ein freies Feld und keine Vorrechte.“ Ich bekenne mich bedingungslos zur Freiheit für Mann, Weib und Kind. Soweit ich Proudhons Ansicht in Bezug auf die Aufgabe und Sphäre der Frau kenne, verwerfe ich sie gänzlich, während ich es als willkürlich, unlogisch und mit seiner ganzen Philosophie im Widerspruch stehend betrachte, dass er die Regelung der Familienverhältnisse aus dem Gebiet des freien Übereinkommens entfernt. Noch bin ich anderseits eifersüchtig auf die von der Bourgeoisie den Frauen erteilten Privilegien und erwiesenen Huldigungen, und teile nicht im Entferntesten die Meinung von E. Belfort Bax, welcher sich gegen eine angebliche von den Frauen über die Männer ausgeübte Tyrannei ereifert. Ohne die Existenz einer solchen „Tyrannei“ zu leugnen, behaupte ich, dass Herr Bax deren wabre Natur gänzlich verkennt. Männliche Herablassung betrachtet er als Unterwerfung; und die Merkzeichen weiblicher Degradation und Sklaverei verwandeln sich unter seinem schiefen Blick in Eigenschaften der Selbstherrlichkeit. Tchernychewsky bekundet die richtige Auffassung dieses Gegenstandes, wenn er Véra Pavlovna sagen lässt: „Männer sollten nicht die Hände der Frauen küssen, indem darin für Frauen eine Beleidigung liegt, denn es bedeutet, dass die Männer sie nicht als menschliche Wesen betrachten wie sich selbst, sondern der Ansicht huldigen, dass sie sich vor einer Frau in keiner Weise ihrer Würde begeben können, so tief unter ihnen steht sie, und dass keinerlei der Frau erzeigte affektierte Achtung ihre eigene Superiorität vermindern könne.“ Was Herrn Bax auf Seite der Männer als Servilität erscheint, ist eigentlich nur dem Schaden noch hinzugefügter Spott.

Indem ich also die Tatsache des Schadens und Spottes, über welche sich die Frau beklagt, anerkenne, sympathisiere ich mit ihrem Streben zur Erlangung des Rechts der Selbstbestimmung wie der Freiheit und Gelegenheit für ihre Entwicklung. Und wenn der Wunsch, ihres eigenen Glückes Schmied zu sein, den ganzen Inhalt und das ganze Wesen der Frauenfrage ausmachte, dann wäre letztere für mich eine überwundene Frage gewesen.

Fürs Erste sind die Frauen Sklaven des Kapitals. Soweit ist ihre Sache die Sache auch der Männer, obwohl das Joch des Kapitalismus mit erdrückenderer Wucht auf ihnen lastet. Diese Sklaverei würde Staat und Gesetz nicht einen einzigen Tag überdauern, denn ihr Fortbestand zieht seine Nahrung aus keiner andern Wurzel.

Ausser dieser Last der ökonomischen Abhängigkeit, sind die Frauen noch dem Elend unterworfen, das Eigentum, die Werkzeuge und die Spielpuppen der Männer zu sein, ohne die Macht, gegen den Gebrauch ihrer Person, ohne ein Mittel, gegen den Missbrauch derselben seitens ihrer männlichen Beherrscher zu protestieren und sich zu wehren. Diese Sklaverei ist durch Sitte, Vorurteil, Überlieferung und die herrschenden Anschauungen über Moral und Reinheit geheiligt. Intelligenz ist das Heilmittel dafür. Männliche Rohheit und Grausamkeit werden in demselben Grabe verschwinden, in welchem aller Aberglauben und alle fixe Ideen der Männer wie Frauen für ewig bei Seite gelegt werden.

Normale ökonomische Verhältnisse wie vermehrte Gelegenheiten für intellektuelle Entwicklung sind in diesem Falle, wie in allen andren auf das soziale Problem bezüglichen Fällen, die unerlässlichen Bedingungen des Fortschritts. Es wäre müssig, die Möglichkeit irgendeiner Veränderung unter den heutigen industriellen und politischen Einrichtungen zu besprechen. Die Frau muss sich heutzutage damit begnügen, die ihrem Herzen zunächst liegende Sache indirekt zu fördern. Sie muss einfach ihre Macht – und selbst der Selbstsüchtigste unter uns wird ihr mehr Macht wünschen – mit derjenigen des Mannes vereinigen zu dem Versuch, zwischen Kapital und Arbeit die gerechten Beziehungen zu schaffen. Und erst nachdem die materielle Grundlage der neuen sozialen Ordnung erfolgreich gelegt sein wird, wird die eigentliche Frauenfrage hervortreten und die Aufmerksamkeit für sich in Anspruch nehmen.

Lassen Sie uns hier den Versuch machen, das Problem, das Heilmittel, sowie den Gedankengang, aus welchem sich erstere ergeben, kurz zusammenzufassen, soweit wir den Standpunkt der fortgeschrittensten Radikalen in unseren Reihen verstehen.

„Die Frau muss im Genuss gleicher Rechte und gleicher Freiheit und mit dem Manne in jeder Hinsicht auf gleichem Fusse stehen. Sie müssen ihre Verträge auf der Basis absolut gleicher Bedingungen abschliessen.“ Wie ist dieses Verhältnis herzustellen und aufrechtzuerhalten?

„Für Frauen, welche frei sein und bleiben wollen, ist die ökonomische Unabhängigkeit die erste und wichtigste Erwägung. Wenn die Frau aufhört, für sich selber zu sorgen und sich für ihren Lebensunterhalt an den Mann zu wenden beginnt, entäussert sie sich ihrer Unabhängigkeit, ihrer Würde und der Gewalt, sich Achtung zu verschaffen. Volle Kontrolle über ihre eigene Person wie über ihre Sprösslinge ist das nächste wesentliche Erfordernis. Sie muss sich niemals des Rechts begeben, über ihre Reize frei zu verfügen, und an niemand muss sie aus Privilegium abtreten, die Bedingungen zu bestimmen, unter welchen sie den Beruf der Mutterschaft übnehmen soll. Ewige Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit.“

„Da der Kommunismus das Grab der Individualität ist, muss sich die Frau davor hüten, je ihr eigenes Privatheim aufzugeben, über welches sie selbstherrlich waltet, um auf das Gebiet des Mannes überzugehen. Jemand muss in der Familie herrschen und die Chancen sind entschieden dagegen, dass die Oberherrlichkeit in ihre Hände gerate, selbst wenn dies der andern Alternative vorzuziehen sein sollte.“

„Das Ideal ist folglich: unabhängige Männer und Frauen, in unabhängigen Häuslichkeiten ein getrenntes und unabhängiges Leben führend, mit der vollen Freiheit, Verhältnisse einzugehen und zu lösen, wie mit vollkommen gleichen Gelegenheiten und Rechten an Glückseligkeit, Entwicklung und Liebe.“

Schön wie dieses Ideal einigen Leuten erscheinen mag, muss ich gestehen, dass es mich nicht mit Begeisterung erfüllt. Im Gegenteil erscheint es mir als unnatürlich, unmöglich und gänzlich utopisch. Indem ich die Freiheit bewillkommne, sehe ich keine solchen Resultate voraus.

Möge kein Leser voreilig meinen Mangel an nüchternem Denken verurteilen und mich für einen Sentimentalisten und Träumer erklären. Ich bin die Prosa und Nüchternheit selber. Der „moralische Sinn“ geht mir gänzlich ab. Das Verbrechen erweckt keine Indignation in meiner Brust, das Laster erfüllt mich nicht mit Abscheu. Die „Tugend“ besitzt in mir einen sehr kleinmütigen Verfechter. Zum Beispiel, das Gezeter und Geschrei gegen die Prostitution bewegt mich nie zu einem starken Gefühlsausbruch. Ich kann nicht anders, als es für durchaus passend und natürlich zu betrachten, dass eine Frau für den geschlechtlichen Verkehr mit Männern pekuniäre Vergütung akzeptiere, gerade wie sie eine solche Vergütung akzeptiert für andere Dienstleistungen, welche die Verausgabung von Zeit und Arbeitskraft bedingen. Die Idee der Heiligkeit des Geschlechts erscheint mir als ein Überbleibsel und Resultat des altertümlichen Kultus der Geschlechtsorgane, welchen die christliche Theologie unbewusster Weise assimilierte und ihren eignen mystischen Lehren einverleibte. Und, obgleich die Mysterien der Liebe noch unerklärt sind, so darf man doch a priori die Behauptung wagen, dass ein gut Teil dessen, was darüber geschrieben worden ist, Unsinn und pure Einbildung ist. Daraus mag man ersehen, dass, was ich über diesen Gegenstand zu sagen habe, nicht aus dem Gemüt stammt, sondern das Resultat ruhigen Denkens und reifer Überlegung ist.

„Das Recht“ ist ein wohlklingendes Synonym für „die Macht“, eine melodische und milde Bezeichnung, welche den religiösen Bunthornes das harsche „Macht“ ersetzt. Das „Recht“ an eine Sache bedeutet das Vermögen, dieselbe vorteilhaft zu sichern. Die Rechte eines Individuums sind durch seine körperlichen und geistigen Eigenschaften bestimmt. Dasselbe hat ein Recht, alles anzueignen und zu geniessen, was in seiner Macht liegt. Wenn alle Menschen intelligent und geistig frei wären, dann gäbe es keine Veranlassung für theoretische Aufklärung und die Propaganda des Prinzips der Rechtsgleichheit. Jeder verbliebe selbstverständlich im vollen Besitze seines Eigentums. Aber in Ermangelung dieser Intelligenz herrscht das Chaos. Einige bringen es fertig, Anteile zu erlangen, welche ihr individuelles Vermögen nach dieser Richtung weit übersteigen, und andere lassen es unwissender- und stupiderweise zu, dass pfiffige Leute sie mir nichts, dir nichts in ihren Dienst stellen und missbrauchen. Folglich ist es geboten, ihnen die Augen über die Tatsache zu öffnen, dass ihre Resultate ausser allem Verhältnis zu ihrer Verausgabung von Energie stehen, sowie sie über ihre vollkommene Fähigkeit zu belehren, sich den ganzen Ertrag zu verschaffen und zu behalten ohne irgendwelche äussere Unterstützung. Anstatt aber zu sagen, „Ihr könnt es nehmen“, sind wir genötigt, von ihrem „Recht“, es zu nehmen, zu sprechen, so haben Gaukler und listige Gauner ihre Ideen bezüglich der wahren und wirklichen Eigentumstitel verwirrt. Aber es ist klar, dass sich niemand über das Recht, etwas zu tun, das nicht getan werden kann, herumstreiten würde.

Was wird von diesem Standpunkt aus aus der Forderung gleicher Rechte und Gelegenheiten in den Beziehungen der Geschlechter? „Worte, Worte, Worte“, ohne Sinn und Bedeutung. Was nützen der Frau alle Protestationen und Forderungen nach Gleichstellung mit dem Manne, da die Natur sie doch mit so entschiedenen Nachteilen auf den Lebenspfad gesetzt hat? Um einen ihrer stärksten natürlichen Triebe zu befriedigen, muss sie sich mit dem Manne in ein Verhältnis einlassen, dessen bürdevolle und schmerzliche Folgen sie allein zu tragen hat. Während die Beteiligung des Mannes dabei durchgängig eine angenehme ist, erkauft sich die Frau ihr Vergnügen zu einem enormen Preis. Und der Verlust der Frau ist hier des Mannes reiner Gewinn. Bis zu dem Augenblick, wo sich die Frau mit dem Manne zum Zwecke der Fortpflanzung verbindet, mag sie als dem Manne ebenbürtig betrachtet werden, – abgesehen von physischer Stärke, Gewicht und Qualität des Gehirns, etc., was hier weder besprochen werden kann noch muss. Unter gerechten und normalen Verhältnissen würde ein junges Mädchen in Bezug auf die Versorgung ihrer materiellen und geistigen Bedürfnisse dieselben gleichen Rechte geniessen, wie der junge Mann. Ökonomische Unabhängigkeit, Erziehung, Bildung und Veredlung, – alles dieses wäre innerhalb ihres individuellen Bereichs. Aber sobald sie mit dem Manne ein Liebesverhältnis eingeht und elterliche Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten übernimmt, ist alles plötzlich anders. Sie ist nicht länger die Ebenbürtige ihres männlichen Genossen. Einige Zeit vor und lange Zeit nach der Geburt ihres Kindes ist sie nicht imstande, ihre Unabhängigkeit zu bewahren und sich selber zu versorgen. Sie bedarf fremder Pflege, Hilfe und Dienste. Sie ist auf den Mann angewiesen, den sie zum Vater ihres Kindes gemacht hat, und dem aus dem neuen Verhältnis keine Unannehmlichkeiten erwachsen sind. Mit der Gleichheit der Bedingungen für die eigene Versorgung verschwindet jede andere Gleichheit – eine Tatsache, welche die Befürworter der Gleichberechtigung der Geschlechter nicht allein gut genug kennen, sondern die sie auch fortwährend als ein ausgezeichnetes Argument zu Gunsten der ökonomischen Unabhängigkeit der Frauen vorbringen. Sicherlich sollten sie also auch nicht die grausame, Illusion-zersetzende Tatsache der natürlichen Ungleichheit der Geschlechter vernachlässigen, welche aus der grossen Verschiedenheit der Folgen entsteht, welche der die Fortpflanzung bezweckende geschlechtliche Verkehr für die dabei Beteiligten nach sich zieht. Die Frauen müssen entweder von ihren männlichen Genossen die Deckung des bei dieser Gelegenheit für sie entstehenden Defizits erwarten, – und damit würde der Grund gelegt für den Despotismus auf der einen und die Unterwerfung auf der andern Seite, – oder aber sich den Lebensunterhalt sichern durch übermässige Arbeitsleistung oder ökonomische Haushaltung während den von den angeführten Bürden und Beschwerden freien Zwischenräumen, – und damit würde das Dasein für sie erschwert wie die Gelegenheit für Bildung und Lebensgenuss vermindert. In beiden Fällen – Ungleichheit.

„Geringe Kinderzahl“, so lautet zweifellos eine als Lösung dieser Schwierigkeit vorgeschlagene Antwort. Aber ist das zu wünschen und ist es im Einklang mit unserer Auffassung eines künftigen glücklichen Zustandes? Kinder sind eine Freude und ein Segen für Eltern, welche die Armut oder die Furcht vor der Armut nicht in unnatürliche, misstrauische, brutale und ewig unzufriedene Wesen verwandelt. Ich teile nicht gerade Herrn Lloyd’s Zweifel hinsichtlich der Vorzüglichkeit des Mottos, „Mehr und bessere Kinder“, im Vergleich mit dem Motto, „Weniger und bessere Kinder“; denn, obgleich kein Malthusianer, bin ich doch der Ansicht, dass einige Gesellschaftsklassen ihre Tätigkeit in Sachen der Fortpflanzung sehr wohl mässigen könnten. Aber ich glaube nicht, dass menschliches Glück etwas dabei gewänne, wenn die Einschränkung zum Extrem geführt würde. Ausserdem kann diese Kontrolle über die Natur einzig auf dem Wege künstlicher Schutzmittel oder durch Beobachtung der Enthaltsamkeit erfolgreich durchgeführt werden, – Methoden, die niemand empfehlen wird, es sei denn als notwendige Übel, zu welchen man aber nie greifen soll ohne triftige Gründe.

Allerdings, wenn – wie es ziemlich festgestellt zu sein scheint – geistige Betätigung, Zutritt zu andern Vergnügungen und im Allgemeinen eine komfortable Lebensstellung in der Tat eine Mässigung der Fruchtbarkeit und eine Verringerung der Geburten bewirken, dann wird dies letztere Problem unter den neuen Lebensbedingungen in sehr glücklicher Weise gelöst sein. Aber diese Aussicht, während sie die Herzen der Befürworter kleiner Familien erfreuen mag, schafft kaum eine Erleichterung für diejenigen, mit derer Lage wir hier hauptsächlich beschäftigt sind.

Voraussetzend, dass der Geschlechtstrieb bei den Frauen nicht stärker ist als bei den Männern (einige halten dafür, dass er viel stärker sei), wird sich bei diesem natürlichen Antagonismus stets ein Vorherrschen von Mächten und Einflüssen zu Gunsten des Mannes geltend machen. Der Mann hat kein Motiv, sich die Befriedigung des Geschlechtstriebs zu versagen ausser insofern, als er abgeneigt sein mag, Schmerz und Leiden zu verschulden oder auch nur seine Lieben dasselbe ertragen zu sehen, während die Frau, wie wir gesehen haben, ihre höchsten Interessen aufs Spiel setzt, wenn sie ihren natürlichen Trieben folgt.

Indem ich es den Befürwortern des unabhängigen Heims überlasse, diese Schwierigkeiten für mich zu lösen, möchte ich hier die Frage aufwerfen, worin das Übel oder die Gefahr des Familienlebens bestehen würde, wenn es, nachdem unter einem rationelleren industriellen System die ökonomische Notwendigkeit desselben, soweit die Frau in Betracht kommt, beseitigt wäre, zur Förderung der höheren Zwecke und auf freien Wunsch beider Teile des Vertrags erhalten werden sollte? Warum sollten die Liebesverhältnisse nicht so ziemlich wie heute bleiben? Würde sich nicht nach Abschaffung der Tyrannei wie der impertinenten Einmischung von Staat und Kirche das Verhältnis zwischen Ehemann und Ehefrau stets als ein Verhältnis zwischen wahrhaft Liebenden erweisen? Zwischen wahrhaft Liebenden, die sich wirklich ergeben sind, ist das Verhältnis ein ideales. Aber die gesetzliche Ehe ist das Grab der Liebe; materielle Bedingungen wie die herkömmlichen Begriffe von Tugend und Moral zerstören die Individualität der verheirateten Frau, und sie wird zum Eigentum ihres Ehemannes. Man beseitige diese, und das Zusammenleben hört auf, ein Übel zu sein. Die Familienverhältnisse in jenem Zustand werden sich als vollkommen erweisen, solange sie überhaupt bestehen werden.

Die Leser von „Was tun?“ wissen, wie Tchernychewskys Heroen ihr eheliches Leben einrichteten. Dagegen wie gegen ähnliche Pläne gibt es keinen Einwand. Es hängt ab von Temperament und Geschmack der einzelnen Personen. Aber warum ein Mann für die Frau, die er liebt, kein „Heim gründen” soll, kann ich nicht einsehen. Während er den Lebensunterhalt besorgt, erzieht sie die Kinder und umgibt ihn mit Komfort. Wenn sie nicht mehr glücklich zusammen leben können, gehen sie auseinander. Und wie in der Welt des Handels die Furcht vor wahrscheinlicher Konkurrenz genügt, um ein monopolistisches Unrecht zu verhüten, ohne die Konkurrenz wirklich hervorzurufen, so wird auch in dem auf der Freiheit beruhenden Familienleben die Wahrscheinlichkeit oder vielmehr Gewissheit der Empörung seitens der Frau auf die geringste despotische Kundgebung hin den Mann zur Vorsicht in seinem Betragen ermahnen, und folglich zu Frieden und Achtung zwischen ihnen führen.

Ich verschliesse mich nicht gegen die Tatsache, dass mein Ideal das Element des Kommunismus enthält, und auch für die gegebene Zeit die Vereinigung der Liebe auf eine Person des entgegengesetzten Geschlechts bedingt. Aber solange dies eine spontane Folge der Freiheit ist, ist es theoretisch nicht mehr zu beklagen als besonders anzuempfehlen. Persönlich halte ich aber dafür, dass zwischen Liebenden der Kommunismus in einer Form unvermeidlich ist, und dass die „Varietät“ in der Liebe nur ein temporäres Bedürfnis einer gewissen Periode ist. Ein gewisses Mass von Erfahrung ist in Sachen der Liebe ebenso geboten, wie in irgendeinem andern Zweige menschlicher Angelegenheiten. Varietät mag ebenso gut die Mutter der Einheit (oder besser, der Zweiheit) sein, wie Freiheit die Mutter der Ordnung ist. Die Unbeständigkeit junger Leute ist sprichwörtlich. Aber die Freiheit, zu experimentieren und Studien in der Liebe zu machen, könnte dahin führen, dass jeder Apollo schliesslich seine Venus findet und sich mit ihr in ein harmonisches und idyllisches Leben zurückzieht.

Über die letzten beiden Phasen dieser Frage könnte noch viel mehr gesagt werden. Ich werde bei einer späteren Gelegenheit auf sie zurückkommen.

Meine Auslassungen sind weit davon entfernt, systematisch oder klar zu sein, aber es ist nicht meine Absicht, irgendetwas Positives und Endgültiges vorzubringen. Ich wünsche einfach, eine Diskussion anzuregen und von denjenigen Lesern von Liberty, welche, im Gegensatz zum Schreiber dieses, eine mehr oder weniger vollständige Lösung der „Frauenfrage“ im Geiste tragen, eine bestimmte und gründliche Erörterung derselben zu fordern.

VICTOR.

(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 6–7.)

Anmerkungen