Macht ist Recht – Paul Berwig
Macht ist Recht.
Es gibt zwei Sorten von Menschen, welche den Staat als Inhaber der Macht verehren, und ihm als solchem auch die Kompetenz zuerkennen, über die Begriffe von Recht und Unrecht zu entscheiden. Die eine dieser beiden Sorten wird gebildet von den extremen Monarchisten, für welche der Staat sich in dem Monarchen konzentriert, welch Letzterer die zur Bestimmung des wahren Rechtes erforderliche Weisheit direkt von Gott bezieht. Die andere der beiden erwähnten Menschensorten sind unsere strenggläubigen Republikaner, für welche das Menschengeschlecht mit den Pilgervätern, die Weltgeschichte mit Washington beginnt, und welche Niemanden als Mensch anerkennen, ohne dass er sich durch die vorschriftsmässige Feier des Sabbats und durch die richtige Begeisterung für den vierten Juli legitimiert.
Die Formel des Rechtes für die erstere der beiden Menschensorten heisst: „Der König will’s“, für die letztere: „Die Mehrheit regiert.“ Der Unterschied in diesen beiden Rechtsformeln mag auf den ersten Blick gross erscheinen, ist in Wirklichkeit aber ganz unwesentlich. In beiden ist Gott die Quelle der Rechtsbegriffe, Gott erleuchtet den Verstand des Königs, dass er nur das Rechte befiehlt, und Gott regiert die Majorität, dass sie nur den richtigen Stimmzettel in den Kasten werfen kann.
Nun gibt es heutzutage noch eine dritte Menschensorte, welche weder die Unfehlbarkeit des Königs, noch die der Majorität als selbstverständlich betrachtet. Die Zahl dieser Zweifler ist allem Anschein nach schon grösser, als die der Strenggläubigen. Mit dem Zweifel regt sich die Kritik, und diese bringt immer mehr Tatsachen zum Vorschein, welche sowohl den Willen des Königs, als auch das Votum der Majorität als die ungeeignetsten Autoritäten zur Bestimmung des Rechtes hinstellen. In der Wissenschaft hat man diese Tatsachen längst erkannt und auch praktisch anerkannt, indem man die Entscheidung wissenschaftlicher Fragen weder der offiziellen Diktatur eines Einzelnen, noch einem Majoritätsvotum anvertraut: „Über wissenschaftliche Fragen darf nicht abgestimmt werden!“
Warum macht man es in der Politik nicht auch so? Diese Frage gilt natürlich nur der letzten von den drei aufgeführten Menschensorten; die beiden ersteren handeln nämlich ganz konsequent, wenn sie Gehorsam, entweder gegen den Willen des Gottgesalbten, oder gegen das Votum der Majorität, als das höchste Gebot des Rechtes, verlangen; diese letzte Menschensorte aber, wie kommt sie dazu, so hartnäckig auf die Notwendigkeit der Herrschaft (wenn auch nicht eines Fürsten) so doch einer Majorität, hinzuweisen? Sie schwärmt bei allem scheinbaren Enthusiasmus für die Majoritätsherrschaft doch fast immer für Freiheit, was man beim besten Willen nicht anders deuten kann, als das Verlangen nach Einschränkung der Herrschaft.
Soviel ich sehen kann, sind es zwei Gründe, mit welchen diese Menschen ihr sonderbares Verhalten rechtfertigen wollen: Erstens glauben sie, und zwar mit Recht, dass die Menschheit das, was man Zivilisation nennt, nur bei geordnetem Zusammenleben bewahren und vervollkommnen kann; zweitens sind sie überzeugt, dass die sündige menschliche Natur immer dahin strebt, dass der Stärkere über den Schwächeren sich die Herrschaft aneigne, und dass diese Herrschaft am erträglichsten sei und dem Rechte am nächsten komme, wenn sie von der Majorität ausgeübt werde. Auch das ist richtig, ja es darf sogar behauptet werden, dass die wirkliche Majorität ihren Willen auch durchführen kann, weil sie die Macht dazu hat, und dass die Ausrottung dieser Macht eine Unmöglichkeit ist.
„Wo bleibt denn da der Anarchist?“, wird mancher verwundert fragen; der hat ja ebenso wenig Lust, in den „Urzustand“ zurückzukehren, wie Herr Boppe, und für das Vergnügen, seinem Stammverwandten, dem Affen, wieder brüderlich die Hand zu reichen, kann er sich auch nicht begeistern, und trotz alledem glaubt er auch nicht an ein mögliches Avancement zum Engel, von welchem selbst Herr Boppe grosses Heil für den Anarchismus erwartet. Ja, dieser Anarchist wird noch Herrn Boppe dazu treiben, die individuelle Freiheit gegen ihn zu verteidigen; denn er bekennt sich zu dem Grundsatze: „Macht ist Recht.“ Aha! Jetzt haben wir’s; das ist Einer von den Dynamitanarchisten!
Diese Besorgnisse und Vermutungen sind alle falsch. Als Anarchist bekämpfe ich den Staat eben weil er es verhindert, dass Macht auch Recht sei. Die Ansicht ist eben falsch, dass der Staat, ob monarchisch oder republikanisch, der wirklichen Macht die Sorge für das Recht anvertraue, sondern beide fesseln die Macht in ihrer natürlichen Tendenz, das wirkliche Recht auszuführen.
Die wirkliche Macht ist die Summe der vereinten Kräfte der meisten Menschen in einer gesellschaftlichen Organisation. Das wirkliche Recht (insofern es nämlich praktische Bedeutung hat) ist die Summe der individuellen Wünsche dieser Majorität. Ein absolutes Recht lässt sich überhaupt nicht aufstellen. Die Begründung unserer Rechtsbegriffe ist in dem Sprichwort gegeben: „Was du nicht willst, das mau dir tu’, das füg’ auch keinem Andern zu.“ Hiernach müssen wir das, was wir für uns selber als Recht beanspruchen, auch Andern als solches zugestehen, und die Handlungen, welche wir als ein uns zugefügtes Unrecht betrachten würden, auch, wenn sie gegen Andere gerichtet sind, als solches ansehen. Macht jemand in dieser Beziehung einen Unterschied zwischen sich und Anderen, so gerät er mit sich selbst in Widerspruch, und mit dem Nachweis dieses Widerspruches überführt man ihn eines Unrechtes. Weiter aber kann unsere Definition von Recht und Unrecht nicht gehen. Wenn es z. B. ein chinesischer Mandarin für Recht hält, dass er sich selber auf Befehl seines Herren den Bauch aufschlitze, so kann man ihm auch nicht beweisen, dass es unrecht sei, wenn er willkürlich mit dem Leben seiner Untergebenen verfährt.
Hat denn nun die Macht, wie ich sie vorhin definiert habe, eine natürliche Tendenz, das soeben erklärte Recht auszuüben? Liegt in jedem Individuum von Natur die Neigung, keinen Unterschied in der Auffassung des eigenen Rechtes und des fremden zu machen? Es wäre eine starke Anmassung, diese Frage zu bejahen. Nein, auch bei dem besten Menschen wird noch ein Unterschied zu Gunsten des eigenen Ich gemacht. In einer Gesellschaft aber, wo jedes Ich den gleichen Spielraum hat, wird diesem Hang zur ungleichartigen Beurteilung des Rechtes eine natürliche Grenze gesetzt; das Streben des Einen nach Bevorzugung seines Ichs, wird durch das gleiche Streben des Anderen in Schranken gehalten, und der beständige Widerstand hemmt die Entwicklung der natürlichen bösen Neigung. Der Massstab des Rechtes wird jedem beständig vor Augen gehalten, und er lernt das Recht Anderer respektieren, weil er über sein eigenes beständig zu wachen hat. So bildet sich denn in der freien Gesellschaft aus der Summe der individuellen Kräfte die wirkliche Macht, welche die Summe der individuellen Wünsche als wirkliches Recht zur Ausführung bringt. Hier ist Macht auch Recht.
Das ist etwas wesentlich Anderes, als der heutige Staat. Dieser Staat ist eine künstliche Maschinerie, welche die wirkliche Macht in ein willenloses Werkzeug verwandelt; welche das lebendige Rechtsgefühl durch tote Formeln ersetzt, und dem Ohnmächtigsten Gelegenheit bietet, die Macht nach seinem Willen zu lenken.
Ich habe schon öfters die Äusserung gehört, dass die Deutschen selber Schuld daran wären, dass sie sich zu Kanonenfutter gebrauchen lassen; sie brauchten ja einfach nicht zu gehen, wenn sie zur Fahne gerufen und in den Krieg geschickt würden, was könnten ihnen dann ihre Herrscher anhaben? Ja, das ist es eben; diese gewaltigen Millionen sind eher imstande, wider ihren Willen, auf Befehl eines Einzelnen ganz Europa in einen Trümmerhaufen zu verwandeln, als ihrem gemeinsamen sehnlichsten Wunsche gemäss, friedlich zu Hause zu bleiben. So aber ist es in anderen Staaten auch. Wer kann da noch behaupten, dass die Macht regiert?
Ist es in der Republik wesentlich anders? Viele meinen es, obwohl die Tatsachen das Gegenteil bezeugen. Ich entsinne mich, einst gelesen zu haben, dass in dem freien Massachusetts zweitausend bewaffnete Männer einen entlaufenen Sklaven wieder zurücktransportierten, obwohl sie das Sklavenjagdgesetz verabscheuten und, nur ihren Gefühlen folgend, den Sklaven lieber gegen seine Verfolger verteidigt hätten. Zeigt sich da die Macht nicht auch unter jenem geheimnisvollen Banne, welcher mehr vermag, als ihr eigener Wille? Herr Boppe stellte einst die kühne Frage, gegen wen denn das Volk in einer Republik Revolution machen sollte, ob etwa gegen sich selbst? Gleichzeitig behauptet aber derselbe Herr Boppe, dass in einer Monarchie die Revolution unvermeidlich sei. Ich möchte nun gern wissen, gegen wen das Volk dort revoltiert; etwa gegen den Fürsten und die paar Adligen, – die Millionen gegen wenige Hunderte? Lächerlich! Das Volk revoltiert immer gegen sich selber; denn ausser ihm gibt es keine Macht, auch in Russland nicht. Die Soldaten, die Polizei und die Henker kommen sämtlich aus dem Volke, und es gibt immer genug von der Sorte, die sich eher den Schädel einschlagen lassen, als dass sie sich von dem Banne befreien könnten, der ihre Handlungen der Kontrolle ihres eigenen Willens entzieht.
Instinktiv fühlen es die herrschenden Klassen wohl, dass ihre Herrschaft nicht auf ihrer Macht beruht, darum zittern sie beständig vor der Gefahr, dass die wirkliche Macht zum Selbstbewusstsein erwachen könnte; darum nähren sie so geflissentlich den Glauben, dass der Gehorsam eine so hohe Tugend, ein Selbstzweck wäre; darum endlich suchen sie durch wütende Verfolgung und Verketzerung alle Jene unschädlich zu machen, welche über die wirkliche Macht und das derselben entsprechende Recht Klarheit verbreiten.
Der trügerische Unterschied, welcher zwischen Monarchie und Republik gemacht wird, schrumpft erheblich zusammen, wenn man erkennt, dass die Macht in jedem Staate in der Majorität, nahezu der Totalität des Volkes ruht. Nur der Grad, in welchem diese Macht ihres eigenen Willens beraubt wird, ist das Wesentliche im Unterschiede. Die Macht wird stets von ihren eigenen Kreaturen tyrannisiert. Die Tyrannei ist um so drückender, je heiliger und unverletzlicher die Macht die von ihr selbst geschaffenen Herren ihres Willens hält. Die Heiligkeit und Unverletzlichkeit ist aber die vornehmste Stütze des Staates. Der Staat muss daher in demselben Masse weichen, in welchem die wirkliche Macht Besitz von ihrem Rechte ergreift.
PAUL BERWIG.
(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 8.)
Anmerkungen
- Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
- Zu C. Hermann Boppe siehe die Anmerkungen hier.