Libertas

„Freiheit, nicht die Tochter, sondern die Mutter der Ordnung“ – Proudhon

Vertrauet alles der Freiheit.

Genosse Leahy macht das Zugeständnis: „Wir halten dafür, dass die Kosten aller Vorteile von denjenigen bestritten werden sollen, denen dieselben zugutekommen. Aber da die aus der Unterdrückung des Verbrechens entstehenden Vorteile allen gleichmässig zugutekommen, sollten auch die damit verbundenen Kosten nolens volens von allen gleichmässig getragen werden“, und verlangt dann für den Fall, dass er im Unrecht ist, mehr Licht von Liberty.

Ich habe die vollkommene Zuversicht, dass unser natürlicher Führer diesem Wunsche voll und ganz entsprechen wird; nichtsdestoweniger möchte auch ich meine Laterne schwingen und mein „barbarisches Gejohle“ dreingeben.

Der Fehler der „American Idea“ scheint in der Idee zu bestehen, dass man rechtlicherweise an einen Menschen die Forderung stellen könne, für Etwas zu zahlen, das ihm ohne seinen Wunsch und ohne seine Einwilligung zuteilwird, einfach weil der Händler darauf besteht, die Sache als einen Vorteil für ihn zu erklären. Wenigstens glaubt die „American Idea“ dies, wenn der Händler die Regierung ist und solche Dinge stellt, die sie als Vorteile ausgibt. Das ist in der Tat die amerikanische Idee, und eine teuflische Idee ist es, oben jener freiheitsmörderische Paternalismus, welchen unsere Kameraden Leahy und Allison an anderer Stelle so wacker bekämpfen.

Indem er auf das Kostenprinzip hinweist, scheint unser Mitstreiter Leahy offenbar der Ansicht zu sein, dass wir in unsere eigene Grube fallen, aber er vergisst, dass hinter dem Kostenprinzip das höhere Grundprinzip der Individualität liegt. Und aufgrund des Prinzips der freien Individualität kann man einem Menschen nichts abverlangen für einen Vorteil, oder für eine den Vorteil bezweckende Massregel, den er nicht freiwillig gutgeheissen hat. Gesetzt, zehn Lyncher hängen einen Strassenräuber in Missouri; können sie rechtlicherweise von den Herren Leahy und Allison, welche später des Weges daher fahren, verlangen, dass sie die Verantwortlichkeit wie die pekuniären Auslagen der Handlung mit ihnen teilen sollen aufgrund des angeblichen Vorteils? Können die Prohibitionisten die Nichtprohibitionisten rechtlicherweise zwingen, die Auslagen für die Durchführung der Antigetränkgesetze wie die Kosten der prohibitionistischen Propaganda bestreiten zu helfen, weil „die Unterdrückung der Trunksucht ein Vorteil ist“? Ist es nicht selbstverständlich, dass ich selber überzeugt sein muss, dass eine gegebene Handlung verbrecherisch ist und eine gegebene Methode die Unterdrückung derselben auch bewirkt, ehe man mich passenderweise zur Beisteuer zu dem Fond anhalten kann, welcher die Unterdrückung ermöglichen soll? Und selbst wenn ich davon überzeugt wäre, habe ich nicht ein Recht, die Beisteuer zu verweigern? Wenn nicht, warum nicht?

Ein Vorteil ist entweder eine freie Gabe, eine Ware im Markt oder eine gegen die Freiheit gerichtete Waffe. Wenn eine Gabe, dann ist keine Verschuldung damit bedingt; wenn eine Ware, dann hat der Käufer ein Recht zu sagen, ob er sie kaufen will oder nicht und welchen Preis er dafür geben oder nicht geben wird; wenn eine Waffe, dann seien alle auf der Hut!

Das Kostenprinzip der Freiheit verlangt, dass jeder Mensch die Konsequenzen seiner Handlungen selber trage, ausgenommen Andere lassen sich freiwillig herbei, dieselben mit ihm zu teilen. Beiläufige Vorteile sind wie die Gaben der Natur, „ohne Geldeswert und Preis“, und stehen allen frei, die sie aneignen können. Irgendein Versuch, sie abzuschätzen und eine Kompensation darauf zu erheben, würde, wenn erfolgreich (was er nie sein könnte, wenn es nicht um den Fetisch der Regierung wäre), die Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern und Bruder gegen Bruder stellen.

Gesetzt, ich wohne in einem Städtchen; kann mein Nachbar A, der mir gegenüber wohnt, mich zwingen, die Kosten des schönen Hauses, das er baut, wie des herrlichen Rasens, den er anlegt, mit ihm zu teilen, weil meine Aussicht infolge seiner „Verbesserungen“ bedeutend verschönert wird und der Wert meines Eigentums steigt? Kann der Nachbar B zu meiner Rechten, welcher einen hohen Zaun baut, um seinen Hof gegen die Strasse zu schützen, mich rechtlicherweise mit einem Teil der Auslagen dafür belasten, weil dadurch der Frost von meinen Gurken ferngehalten wird? Kann ich ehrlicherweise den Nachbar C zu meiner Linken, dessen Hof niedriger als der meine liegt, zwingen, die Kosten eines kostspieligen Düngers für meine Terrasse tragen zu helfen, weil in der Tat ein gut Teil dieses Düngers schliesslich auf sein Gebiet hinüber gespült wird? Wenn Herr Leahy diese Fragen mit „Nein“ beantwortet, dann muss er auch, um konsequent zu sein, mit „Nein“ antworten, wenn ich ihn frage, ob eine Anzahl meiner Nachbarn das Recht habe, eine Steuer von mir zu erheben für ein vor meinem Haus anzulegendes Trottoir aus Pflastersteinen, wenn ich Torf vorziehe, oder für die Salarierung eines die Strasse auf- und abwandelnden Polizisten, wenn ich es vorziehe, mich selber zu schützen.

Nein, Freund Leahy, jene „Freiheit“, die Sie in Ihrer „Idea“ als „die fundamentale und unerlässliche Bedingung alles Wachstums, aller Entwicklung, alles Fortschritts“ darstellen, ist die gleiche Freiheit jedes wie aller, auf eigene Weise zu arbeiten und über die Früchte dieser Arbeit nach eigenem Gutdünken zu verfügen, und Ihr Besteuerungsplan zur Unterdrückung des Verbrechens ist weiter nichts als ein sehr elastisches Halsband, welches schliesslich so gewiss zu Tode würgt wie der Strick des Henkers. Herr Tucker hatte eine Probefrage an Sie gestellt, und Ihre Beantwortung derselben beweist, dass Sie einen Standpunkt einnehmen, welcher mit dem Dienst der Freiheit unverträglich ist. Und wenn Sie Ihre Doktrin, welche die Erhebung einer Steuer für zufällige Vorteile rechtfertigt, weiter verfolgen, werden Sie keinen logischen Ruhepunkt finden diesseits des Staatskommunismus. Aber ich gebe mich diesbezüglich keiner Sorge hin, sondern sehe dem Tag entgegen, wo Ihre amerikanische Idee zur anarchischen Idee wird, und Sie mit Ihrem Wissen und Ihrer Beredsamkeit einer der freiesten Segler auf dem Meere der Freiheit und Allison Ihr ebenbürtiger Genosse.

Wollte ich Herrn Leahy den Vorschlag machen, das Gerichtswesen der Vereinigten Staaten durch Diebstahl aufrechtzuerhalten, so würde er verblüfft zurückschrecken und an die Austreibung des Teufels durch Beelzebub denken; doch das wäre genau sein eigener Vorschlag. Fast alle Menschen stimmen überein hinsichtlich der Natur des Raubs, indem sie denselben darin erblicken, einem Individuum gegen seine Einwilligung etwas abzunehmen, das ihm dem Recht nach zugehört. Herrn Leahys Regierung würde genau dies tun; folglich wäre seine Regierung ein Räuber. Alle Regierungen tun dies; folglich sind alle Regierungen Räuber. Das Verbrechen durch ein Verbrechen zu unterdrücken heisst nicht das Verbrechen zu unterdrücken, das heisst nur seine Form und seinen Sitz zu verändern. Anarchie allein bedeutet Ehrlichkeit.

Einen Eingriff in die Freiheit eines Menschen zu machen, unter dem Vorwand, seine Freiheit in Schutz zu nehmen, ist eine so fluchwürdige Heuchelei, wie sie Herr Leahy nur immer im Hause der „römischen Hure“, deren Zauber er erst jüngst infolge einer sich in ihm vollzogenen Läuterung abgeworfen hat, auffinden kann. Wenn irgendein privater Raufbold darauf bestehen sollte, Herrn Leahy „in Schutz“ zu nehmen und ihn dann zwingen wollte, für diesen „Schutz“ zu zahlen, so könnte er die Gewalttätigkeit einsehen; aber wenn der Staat dasselbe tut, ist er blind. Aber die Ehrlichkeit achtet weder Minoritäten noch Majoritäten, weder private noch öffentliche Angelegenheiten, sie kennt einzig die freie Einwilligung und den Austausch von Leistung gegen Leistung; und Ehrlichkeit und Freiheit bedingen eins das andere.

Vorstehendes ruft mir ein Argument ins Gedächtnis zurück, das mir einige Male in dieser Form vorgelegt wurde: Gesetzt ein fremder Feind machte einen Angriff auf eine Gruppe von Anarchisten; könnten letztere nicht mit vollem Rechte die unter ihnen weilenden Feiglinge und Schmarotzer zwingen, an der Verteidigung Teil zu nehmen oder wenigstens die Kosten derselben tragen zu helfen? Ich verneinte die Frage, denn solcher Zwang wäre gleichsam eine Regierung, indem der empfangene Vorteil ein rein zufälliger wäre, da sich die Andern sowieso hätten verteidigen müssen, einerlei, ob die gemeineren Naturen anwesend waren oder nicht. Die Sache möchte anders liegen, wenn die Zusammenlebenden einen Schutz- und Trutzbund gebildet hätten und sich gegenseitig durch ein freiwilliges Übereinkommen verpflichtet gewesen wären; aber selbst für diesen Fall schien es mir, dass die Freiheit kein anderes Verfahren gegen diese Wort- brüchigen sanktionieren würde, als den spontanen „Boykott“ der natürlichen Verachtung und die Lösung aller Gemeinschaft mit ihnen. Darauf wurde erwiedert, dass eine solche Lauheit verderblich wäre, und dass das Beispiel erfolgreicher Feigheit und Niedertracht die Schutzvereine demoralisieren und zur Auflösung derselben führen würde. Hierauf warf ich ein, dass man für die Aufrechterhaltung dieser Vereinigungen auf die natürlichen Agentien vertrauen könne ohne alle invasive Gewalt.

Zum Beispiel. Wenn, nachdem der Feind zurückgeschlagen wäre und die Feiglinge sich ins Fäustchen lachten ob des für sie kostenfreien Schutzes, eine Deputation des Feindes mit diesem Auftrag zurückkehren sollte: „Wir werden Euch nicht wieder belästigen, denn wir haben erfahren, dass Ihr zu mutig und zu mächtig für uns seid; aber wir haben wahrgenommen, dass es Feiglinge unter Euch gibt, die sich weigerten, sich an der Verteidigung zu beteiligen; da sie Euch nicht beigestanden, braucht Ihr ihnen nicht beizustehen; und wenn Ihr uns versprecht, Euch neutral zu verhalten, wenn wir sie plündern, werden wir sie für Euch bestrafen und ewig Eure Freunde sein“ – was dann? Wenn die Feiglinge geplündert werden, werden sie eine Lehre daraus ziehen, sich das nächste Mal an der gemeinsamen Verteidigung prompt zu beteiligen. Wenn die Braven zu grossmütig wären, um die Plünderung der Feigen zu gestatten, würden letztere immerhin die ihnen drohende Gefahr erkennen und in den neuen Motiven des Schamgefühls und der Dankbarkeit eine weitere Veranlassung für künftige Mitwirkung erblicken; das Resultat würde in einen wie im andern und in allen Fällen dasselbe sein, – nämlich, dass sich die Menschen stets gegen die Gefahr verbünden werden so lange sie existiert. Gerade wie die erkannten Bedingungen (und viele nicht erkannten) des normalen Lebens die Menschen moralisch machen ohne das Christentum; gerade wie die Befriedigung des Geühlslebens edle Herzen vereinigt ohne die Ehe, – gerade so werden die sozialen Momente des Verlassenseins, der Furcht, der Sympathie, der Freundschaft, der Liebe, des Ehrgeizes, der Bequemlichkeit, des Bedürfnisses der gegenseitigen Hilfeleistung und der Gewohnheit die Menschen zusammenführen und sie veranlassen, sich gegenseitig zu schützen. Und die sorgsam gepflegte Liebe zur Freiheit wird sie davor bewahren, einander gleich zu werden und dem Stillstand zu verfallen, wie es noch in allen erzwungenen Vereinigungen zugetroffen ist; ihre Verträge, auf der Freiwilligkeit beruhend, werden sich als vollkommen harmonisch erweisen, während ihre Misshelligkeiten, von aller Invasion frei, das Minimum von Disharmonie enthalten werden.

Also nochmals: vertrauet alles der Freiheit.

J. WM. LLOYD.

(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 4–5.)

Anmerkungen

Ein Saatkorn gepflanzt.

Zeit: Donnerstag, den 17. Mai, 7:30 Uhr Abends.

Ort: Wohnung des Redakteurs von Libertas, 10 Garfield Ave., Crescent Beach, Revere (ein Town in den Vorstädten Bostons).

Dramatis Personae: Charles F. Fenno, sogenannter Steuereinnehmer von Revere, und der Redakteur von Libertas.

Auf ein Anklopfen an seine Vordertür öffnet der Redakteur von Libertas dieselbe und findet sich einem Manne gegenüber, den er nie vorher gesehen hat, und der sich als Fenno zu erkennen gibt.

Fenno. – „Wohnt Herr Tucker hier?“

Redakteur von Libertas. – „So heisse ich, mein Herr.“

F. – „Ich komme wegen der Kopfsteuer.“

R. von L. – „Nun?“

F. – „Nun, ich komme dieselbe zu kollektieren.“

R. von L. – „Bin ich Ihnen etwas schuldig.“

F. – „Doch wohl.“

R. von L. – „Habe ich mich je bereit erklärt, Ihnen etwas zu zahlen?“

F. – „Nicht eben das, aber Sie waren hier wohnhaft am ersten Mai letzten Jahres und die Gemeinde legte Ihnen eine Steuer von einem Dollar auf.“

R. von L. – „O, es ist also nicht eine Sache des Übereinkommens?“

F. – „Nein, es ist eine Sache des Zwangs.“

R. von L. – „Aber ist das nicht eigentlich ein mildes Wort dafür? Ich nenne es Raub.“

F. – „Nun, genug, Sie kennen das Gesetz; es bestimmt, dass alle Personen im Alter von zwanzig Jahren und darüber, die am ersten Mai in einem Orte wohnen“ –

R. von L. – „Ja, ich kenne das Gesetz, aber das Gesetz ist der grösste aller Räuber.“

F. – „Das mag sein, aber ich will das Geld.“

R. von L. (indem er einen Dollar aus der Tasche nimmt und Fenno darreicht) – „So sei’s denn. Ich weiss, Sie sind stärker als ich, weil eine Menge andrer Räuber hinter Ihnen stehen, und dass Sie die Macht haben, mir diesen Dollar abzunehmen, wenn ich Ihnen denselben verweigere. Wüsste ich nicht, dass Sie stärker sind als ich, würde ich Sie die Treppe hinunterwerfen. Aber da ich weiss, dass Sie stärker sind, gebe ich Ihnen den Dollar gerade wie ich ihn jedem andren Strassenräuber darreichen würde. Sie haben jedoch kein besseres Recht, denselben zu nehmen, als in das Haus zu treten und alles Andre zu nehmen, was Sie ergreifen können, und ich sehe nicht ein, warum Sie das nicht tun.“

F. – „Haben Sie Ihre Steuerrechnung bei sich?“

R. von L. – „Ich nehme nie eine Quittung für Geld, das man mir stiehlt.“

F. – „O, so ist’s?“

R. von L. – „Ja, so ist’s.“

Und die Tür schloss sich in Fennos Gesicht.

Er schien ein harmloser und unschuldiger Mensch zu sein, ohne eine Ahnung des schändlichen Charakters seines Amts, und ich vermute, er wundert sich jetzt noch, wenn er nicht mit seinen Mitbürgern die Sache bespricht, über den eigentümlichen Sonderling, der in No. 10 Garfield Ave. wohnt, und fragt sich wohl, ob es nicht geraten wäre, denselben schnurstracks in einer Irrenanstalt unterzubringen. Falls er seine Unterredung im Lichte des unten folgenden Artikels aus der Feder J. Wm. Lloyds wieder erwägen sollte, würde er vielleicht entdecken, dass die Tollheit der Anarchisten, welche den „Steuereinnehmer“ zu umgehen versuchen, nicht ohne Methode ist.

T.

(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 4.)

Anmerkung

Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.

☞ Wir ersuchen die Leser um Nachsicht, wenn Libertas für die nächste Zukunft unregelmässig und nur in längeren Zwischenräumen erscheint. Die dem Blatte bisher zuteil gewordene Unterstützung reicht nicht aus, um dasselbe alle vierzehn Tage herauszugeben. Aber es liegt nicht im Sinne von Libertas, den Kampfplatz zu verlassen. Sobald es die Unterstützung zulässt, wird Libertas wieder alle vierzehn Tage regelmässig erscheinen. Wir werden die nächste Nummer gegen Ende Juni herausgeben.

(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 4.)

Anmerkung

Diese Mitteilung der Redaktion greift den Umstand auf, dass die Nummer 6 der Libertas nicht schon am 26.05., sondern erst am 02.06.1888 erschienen ist. Die Anzahl Abonnenten reichte nicht aus, um die Zeitung tatsächlich alle 14 Tage erscheinen zu lassen. Rückblickend wissen wir, dass die Libertas zwei Ausgaben später schliesslich eingestellt werden musste. Trotzdem erschienen die Nummern 6 und 7 noch im gewohnten Umfang von 8 Seiten, während die letzte Ausgabe 8 nur noch vier Seiten umfasste.

Die bevorstehende Wahlkampagne.

Obgleich es wahr ist, dass Freihandel als eine ökonomische Massregel, wenn nicht durch andere Reformen ergänzt, den Opfern des heutigen Industriewesens kein Heil bringt und daher, von diesem Gesichtspunkt aus, nicht die Berücksichtigung der wahren Reformfreunde verdient, ist es dennoch nicht zu leugnen, dass eine Wahlkampagne, die sich um die Streitfrage Freihandel gegen Protektion dreht, sich nebenbei von unberechenbarem Wert für die anarchistische Bewegung und die Emanzipation des arbeitenden Volkes erweisen könnte. Dass in der bevorstehenden Kampagne diese Frage den Ausschlag geben wird, ist natürlich sehr unwahrscheinlich. Was immer auch einzelne Demokraten hier und dort sagen und tun mögen, die Parteimaschine und die Hauptmacher und einflussreichsten Organe der sogenannten Demokratie werden niemals zugeben, dass es zu einem offenen und ehrlichen Kampf zwischen Freihandel und Protektion komme. Aber wenn die Republikaner sich beharrlich weigern sollten, die apologetische Haltung der Steuerreformer, sowie ihre Protestationen, dass sie nicht zu Gunsten des Freihandels seien, zu berücksichtigen und es dahin bringen sollten, die Demokraten zu zwingen, schliesslich das Banner vollkommenen und absoluten Freihandels zu erheben, so würden sie den Anarchisten einen grossen Dienst erweisen und sich dieselben sehr verpflichten. Die Anarchisten könnten ihnen nicht versprechen, sich als ihre Verbündeten an der Politik zu beteiligen, und ihnen nicht helfen, ihre Gegner zu schlagen, aber sie würden sich gewiss verpflichten, den Demokraten keinerlei Unterstützung und Ermutigung zu geben.

Kein intelligenter Mensch kann sich in eine Diskussion der Tariffrage einlassen, ohne sich verpflichtet zu finden, seine Ansichten über die fundamentalen Prinzipien der sozialen und politischen Beziehungen auseinanderzusetzen. Den Tarif zu besprechen heisst in Wahrheit die beiderseitigen Vorzüge des Paternalismus und Laissez faire zu besprechen. Ein Protektionist, indem er seine Stellung verteidigt, kann sich nicht der Notwendigkeit entschlagen, die kommunistische Auffassung des Individuums und des Staates zu teilen, während ein Freihändler keine fünf Minuten auf die Widerlegung protektionistischer Argumente verwenden kann, ehe er dreist anarchistische Doktrinen ausspricht und verficht. Wie wäre es in der Tat möglich, in einer mehr oder weniger befriedigenden Weise der Protektion das Wort zu reden, ohne auf die Rechte der Allgemeinheit, die angemessene Ausübung von Zwang seitens der Majorität über eine abweichende Faktion, die vernunftgemässe Sphäre der staatlichen Tätigkeit und Kontrolle, die heilsamen Wirkungen künstlicher Regulierung und Einmischung in die natürlichen Betätigungen ökonomischer Gesetze, etc., hinzuweisen und darüber zu argumentieren? Auf der andern Seite, wie kann ein nachhaltiger Angriff auf Protektion, eine durchgreifende und konsequente Verteidigung der Freiheit gemacht werden, ohne eine logische Beweisführung zu Gunsten der Spontaneität, der Privatinitiative, der Selbstherrlichkeit des Individuums und der Wohltätigkeit der freien Konkurrenz? Die Vergangenheit hat gezeigt, dass diese Streitfrage nicht erörtert werden kann, ohne Herbeiziehung anderer, tiefergreifenderer und wesentlicheren Fragen. Und wir dürfen seitens der Führer und Organe der entgegengesetzten Parteien ein freies Umsichwerfen mit solchen Schlagwörtern wie Kommunist, Sozialist, Paternalist, Anarchist, Individualist, Naturalist, etc., erwarten.

Die Anarchisten können (und sollten deshalb) grossen Nutzen aus einer solchen Kampagne ziehen. Ohne sich nach dem Beispiel Georges und anderer Arbeiterpolitiker zu entehren und zu erniedrigen, können sie dem Kampfe zusehen und, indem sie sich von den Tagesereignissen belehren lassen, die Konzentration der öffentlichen Aufmerksamkeit wahrnehmen und dem Volke die logische Tragweite der infrage gezogener Prinzipien zeigen. In öffentlichen Versammlungen und in der Presse können wir sagen, was die Ämterjäger sich veranlasst fühlen, ungesagt zu lassen, und den Beweis führen, dass die wahre Streitfrage zwischen Protektion und Freihandel vom ökonomischen Gesichtspunkt eine Streitfrage zwischen absoluter Freiheit der Industrie und staatlichem Monopol, und vom politischen und ethischen Gesichtspunkt eine Streitfrage zwischen individueller Selbstherrlichkeit und zwangsmässigem Kommunismus ist.

VICTOR YARROS.

(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 1.)

Anmerkungen

  • Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
  • Henry George (1839–1897) war ein US-amerikanischer politischer Ökonom und der einflussreichste Befürworter einer Einheitssteuer auf Landbesitz (womit er wohl den Zorn der Individualanarchisten auf sich zog). George inspirierte die nach ihm benannte Philosophie des Georgismus, nach der jeder das besitzen solle, was er selbst durch Arbeit kreiert habe, und nach der die Erträge aus in der Natur aufgefundenen Gütern, d. h. Bodenrenten und Ressourcenrenten allen Menschen zu gleichen Teilen gehören sollten. Er war ausserdem ein Gegner des Protektionismus.
  • Mit der „bevorstehenden Wahlkampagne“ meint Yarros wohl die 26. Präsidentschaftswahl von 6. November 1888.
  • In den USA stritt man sich seit der Gründung unentwegt über Protektionismus und Freihandel. Einerseits ging es immer z. B. wieder um den Schutz der heimischen Textilindustrie gegen britische Importe, andererseits erzwangen die USA schon 1853 mit der Drohung eines Bombardements die Öffnung Japans für amerikanische Exporte. Ein guter Überblick über die historische Entwicklung kann man hier nachlesen.
  • Yarros spricht hier auch die Schutzzollpolitik der Nordstaaten an, welche sich bereits vor dem Bürgerkrieg (1861–65) im industriellen Aufbau befanden und daher ein Interesse an Protektionismus hatten. Die Republikaner, damals die Partei des Nordens, setzte sich nach dem Bürgerkrieg mit ihrer protektionistischen Handelspolitik durch. Der landwirtschaftliche Süden, vertreten durch die Demokraten, war hingegen an Freihandel, d. h. an Export von Baumwolle und Getreide nach England, sehr interessiert. Der Bürgerkrieg war also nicht nur ein Kampf um die nationale Einheit und die Sklavenbefreiung, sondern auch eine Auseinandersetzung zwischen Protektionismus (Industrie) gegen Freihandel (Landwirtschaft).

Rache.

EIN OFFENER BRIEF AN DIE KOMMUNISTISCHEN ANARCHISTEN CHICAGOS.

Krieg und Autorität sind Gefährten, so sind Frieden und Freiheit. … Blutvergiessen ist an und für sich ein reiner Verlust.

B. R. Tucker.

An dem Rande des Grabes, gleichsam in der Gegenwart unserer gemordeten Toten, die Herzen schwellend von den wechselnden Empfindungen der Freude und der Verzweiflung, des Ruhmes und des Bedauerns, des Stolzes und des Schmerzes, das Echo der edlen Sterbeworte noch in Euren Ohren wieder klingend, fandet Ihr, die kommunistischen Anarchisten Chicagos, Euch Angesicht zu Angesicht mit der ernsten Frage: „Was nun? Männer der Anarchie wollet Ihr Euch rächen?“

Und mit Stimmen laut und leise, wild, entschlossen und feierlich, nahmt Ihr den furchtbaren Eid: „Wir wollen!“

Und auch wir, die individualistischen Anarchisten der Welt, die wir jene toten Helden geliebt und geehrt hatten, obwohl wir während ihres Lebens nicht immer mit ihnen auf gleichen Pfaden wandeln konnten, wir auch echo'ten jenes feierliche Gelübde: „Wir wollen!“

Doch wie? Diese Frage tritt nun in den Vordergrund. Soll es durch Krieg sein? Sollen wir mit Robert Reitzel* Blut für Blut verlangen und lernen bitterlich zu hassen? Sollen wir diese Leute, welche unsre Teuren erschlagen haben, nun mit dem heimlichen, furchtbaren Schatten unserer unerbittlichen Rache verfolgen? Soll die Keule sie niederstrecken in der Finsternis, der vergiftete Dolch sie durchbohren beim Strahl der Mittagssonne, die furchtbaren Vulkane des Dynamits donnernd ihr Verdammungsurteil verkünden in den stillen Stunden der Mitternacht?

Oder sollen wir uns in unserer Macht erheben, in Horden, gleich den heulenden Wölfen der Steppe, und in einer Revolution des Blutes, furchtbar durch Schwert, Bombe und Fackel, ihre Städte, Kerker, Gerichtshäuser, Paläste und Salons in rauchende Trümmer stürzen, ihre Armeen und Polizeimächte in blutige Fragmente zerreissen, und so durch die furchtbaren Gewalten des Hasses und der Furcht die Toten rächen und der Freiheit eine Gasse bahnen? Mit bleichen, verzerrten Gesichtern, wutgeblendeten Augen und knirschenden Zähnen haben Tausende geantwortet: „Ja!“ Doch bestimmt und ohne Zögern antworten wir: „Nein!“

Und doch wenn je seit der Dämmerzeit der Geschichte eine so niederträchtige Tat an so unschuldigen Menschen verübt wurde, dass dieselbe unzweifelhaft den Krieg rechtfertigte, so steht dieser Gerichtsmord derselben gleich. Die Tyrannenhand der Gewalt war blutdürstend ausgestreckt und die Adern unserer Bravsten und Beredtesten wurden geleert, um ihr den Becher zu füllen.

Doch, Kameraden, cui bono? Welchen Nutzen hätte das Blutvergiessen jemals gebracht? Welche Flecken hätte es je ausgelöscht – nein, hat es dieselben nicht nur unter einem noch dunkleren Flecken verborgen? Lasst die törichte Einbildung der Blutsühne für immer und in allen ihren Formen abgetan sein.

Ihr sagt, dass der Krieg Dynastien gestürzt, Throne zertrümmert, Tyrannen getötet, Armeen vernichtet und Völker befreit habe. Zugegeben; doch was war alles dieses wert? Der Krieg stürzte einen König, damit ein anderer Monarch herrschen möge; aus den zertrümmerten Thronen wurden andere, festere gebaut; jene toten Tyrannen, gleich toten Fliegen, haben andere und wieder andere gezeugt; für jede zerstörte Armee wurden zehntausend neue ins Leben gerufen, und die durch den Krieg befreiten Völker wurden nie zu freien Menschen.

Ihr sagt mir, dass durch Konflikt und Kampf die Menschheit Kraft entwickelt und das Überleben der Passendsten erlangt habe. Auch das ist teilweise wahr. Der Kampf mit Menschen, wie der Kampf mit der Natur, entwickelt Muskelkraft, Mut und Gehirn; allein das beweist nicht, dass der Kampf mit Menschen nicht viel kostspieliger und viel weniger erfolgreich ist, als der Kampf mit der Natur. Gleich der Kassavawurzel hat das Übel stets die Tendenz, sein Gift zu verflüchtigen und harmlos zu werden, doch so lange noch irgend Gift zurückbleibt, ist es immer ein Übel. Menschliche Wohlfahrt ist menschliches Glück und das Glück, welches mit dem Kriege kommt, kommt meist trotz desselben. Obgleich es sentimental klingen mag, so erkläre ich es dennoch als meine aufrichtige Überzeugung, dass die zarte Liebe und das vergebungsvolle Mitleid der Frauen und die hilflosen Rufe der Säuglinge zur Verewigung alles dessen, was edel ist in der Menschennatur, mehr beigetragen haben, als alle wilde Leidenschaft, aller tierischer Hass und alle brutale Gewalt seit undenklichen Zeiten. Der milde Forscher, welcher in seinem stillen Zimmer sitzend die Natur um ihre Geheimnisse befragt und ihre Antworten seinen Mitmenschen vermittelt, leistet der Freiheit bessere Dienste, als wenn ein Gottesgericht jeden Herrscher auf der runden Erde, vom russische Zaren bis zu einem Chicagoer Polizisten, erschlüge. Doch wenn Wissen im Allgemeinen so viel wert ist, dann ist die Wissenschaft im Dienste wahrer Freiheit und der Organisation freier Menschen von ganz unberechenbarem Wert. Die Welt hat des Blutes genug gehabt. Seit undenklichen Zeiten hat alltäglich die Sonne herabgeschaut auf menschliche Wesen im tödlichen Kampfe miteinander ringend. Seit undenklichen Zeiten verschwand dieselbe Sonne allnächtlich hinter Wolken des Pulverdampfes und der Schlachtfelder Staub und erhob sich allmorgendlich durch blutgeschwängerte Nebel über ein leichenbedecktes Gefild. Allnächtlich blickte der Silbermond herab auf Wall und Lagerstatt, während Helm und Schwert in seinem Strahle glitzerten, bis der Glutschein brennender Städte ihn erblassen liess. Seit tausenden von Jahren starrten alltäglich aus den bleichen, verzerrten Gesichtern der Erschlagenen die seelenlosen Augen empor zum Azurgewölbe des Tages und dem gestirnten Dom der Nacht. Unerschöpflich floss der Wunden Purpurquelle. Fortwährend tönten der Opfer Sterbeseufzer. Unaufhörlich klangen der Wittwen und Waisen Klagen. Und doch, was nützte alles Dieses? Ist es nicht genug? Es gab eine Zeit, da auch mich ein Kriegsrausch beherrschte. Ich verehrte die Macht und glaubte an der Menschheit Erlösung durch sie. Gleich dem Streitrosse erfüllte mich das Rollen der Trommel und der Hörner schriller Klang mit fieberhafter Ungeduld. Ich zerrte gleich dem Hunde an der Koppel, wenn ich den gemessnen Schritt bewaffneter Scharen hörte, wallende Banner und Federn, schäumende Rosse und blitzende Waffen sah. Doch ach! Es war eines Toren hirnlose Begeisterung. Es liegt ein fluchwürdiger Rausch in dem Pomp und der Leidenschaft des Krieges, höllischer als Haschisch, wirrer als Opium oder Alkohol, die Kräfte des Verstandes überwältigend, gleich den hinterlistigen Dämpfen eines Giftes uns zu unsrer Vernichtung lockend wie der tosende Fall oder die schwindelnde Höhe.

Gerade diese berauschende Eigenschaft des Krieges ist es, Kameraden, welche denselben gefährlich macht. Sie zerstört die Individualität und lähmt das Wachstum der freien Vernunft. Sie zieht die Menschen in heulenden, irren Herden, um das Gebot ihrer schlauen und unerbittlichen Herren auszuführen. Der Söldner gibt nichts um Freiheit und kann nicht. Er ist macht trunken. Er ist abwechselnd und gleichzeitig ein Sklave und ein Tyrann. Er ist ein Räuber ohne Reue, ein Mörder ohne Zögern, ein Brandstifter ohne Veranlassung. Er entsagt seinem freien Willen, vergisst, dass er ein Mensch ist und wird ein Hund, der zerfleischt, auf wen er gerade gehetzt wird. Er ist ebenso eine Todesmaschine, wie das Gewehr, das er trägt.

Auch zu Gunsten des Meuchelmords lässt sich Etwas sagen, denn Meuchelmörder haben der Freiheit einige gute Dienste geleistet. Der Meuchelmörder erhält und entwickelt seinen Verstand und seine Individualität. Da der dritte Schritt in seiner Laufbahn (nach Vorbereitung und Tat) das Märtyrertum ist, so entwickelt er sittlichen Mut der höchsten Art. Wenn er ist, was er sein sollte, so ist er gleich Brutus, ein Fürst unter Menschen. Doch dieses Hilfsmittel, um erfolgreich zu sein, sollte allgemein und häufig angewendet werden. Das ist unmöglich. Es ist wohl den innersten Neigungen und Instinkten der Menschennatur zu sehr entgegengesetzt. Der Meuchelmörder um der Freiheit willen ist ein seltenes Produkt. Die Eigenschaften, welche nötig sind, um einen Menschen human genug zu machen, dass er freudig für die Freiheit zu sterben und doch ohne Zittern und Zagen, in kaltem Blute menschliches Leben zu zerstören vermag, sind einander zu entgegengesetzt, als dass dieselben oft in derselben Brust vereint gefunden werden könnten. Tyrannen sind auf ihrer Hut, kühn und wohl bewacht. Der Mörder vermag gegen sie nur einen Schlag zu führen und dieser, wie die Statistik lehrt, ist gewöhnlich ein Fehlschlag, welcher jedoch ihn selbst tötet. Es ist zu viel gutes Material in dem Tyrannenmörder, als dass dasselbe auf diese Weise verschwendet werden sollte. Er ist zu wertvoll als ein Lehrer und Agitator der stillen radikalen Revolution, als dass er sein Leben wegwerfen sollte in dem Versuche, eine einzige der gesellschaftlichen Pestbeulen zu öffnen. Er vermag nur wenig, selbst wenn er am erfolgreichsten ist, und unter allen Umständen fordert seine Tat eine blutige Vergeltung von Seiten derjenigen, welche er reizt, auf diejenigen, welche er liebt, heraus; jede Schraube der Regierung wird fester angezogen. Schlimmer noch als alles Andere, seine Tat erfüllt mit Grauen manche, die wir gewinnen möchten, und veranlasst dieselben, sich zurückzuhalten. Dieses Mittel ist zu wirkungslos, zu kostbar. Lasst es uns für immer bei Seite legen. Die Freiheit beginnt im Gehirn, pulsiert im Herzen und schafft in der Hand des Individuums. Jede weise, weitreichende Idee, jede sanfte, liebende Empfindung, jeder erhabene und ehrenhafte Instinkt, jedes zarte Mitgefühl und edle Streben bahnen den Weg für die Freiheit. Jedes Flüstern der Selbstachtung zieht sie an wie ein Magnet; jedes furchtlose Wort, jeder Ausdruck der Selbstständigkeit bringt uns auf ihre Seite. Jeder Schmerz, jede Schmach erduldet zur Wahrung menschlicher Würde und gleicher Rechte erhebt uns zu der glorreichen Höhe der Kinder der Freiheit. Was immer das Individuum eifersüchtig macht und besorgt um seine Würde und sein unbeschränktes Wachstum als eine selbstständige Person und sorgsam in Betracht der Würde und Wohlfahrt anderer, weil es erkennt, dass ihr Glück für sein eigenes unentbehrlich ist, alles dieses schafft der Freiheit eine Stätte; und was immer seine Individualität verwischt und ihn achtlos macht, sei es auch in noch so geringem Grade, für die Sympathien, welche ihn an seine Mitmenschen fesseln, wirkt gegen sie. Individualität, Solidarität, diese beide zerstört der Krieg zu gleicher Zeit, während der Meuchelmord letztere vernichtet.

Wenn wir dann, die wir die Freiheit lieben und ihr folgen, sei sie auch noch so fern; wenn wir, die wir ihr Licht im Herzen haben, sei es auch noch so schwach; wenn wir es vermögen, Meuchelmörder und Söldner, Sklaven und Tyrannen, Schlächter und Vernichter zu werden, zu töten durch Feuer und Schwert, zu vernichten, hassen und rächen; wenn wir dann (was noch von uns übrig) als Eroberer stehen auf einer Trümmerwelt und uns frei erklären, was dann? Dieses. Wir werden finden, dass wir die Lehren des Krieges zu wohl gelernt haben, dass wir den Pfad der Freiheit verloren, ihr Licht verlöscht haben, dass wir den anderen Menschen gleich geworden sind, dass selbst die Kinder, die wir in den Jahren des Kampfs gezeugt, auf ihren Seelen den Stempel der Ungerechtigkeit tragen, dass die Welt noch ist, wie sie zuvor war, und wir schlechter, und dass das ganze traurige Geschäft von Neuem begonnen werden muss.

Ihr könnt nicht frei sein, wenn nicht Eure Mitmenschen es auch sind. Ihr vermögt nicht, andere durch Furcht zu befreien; Ihr könnt sie nicht befreien, indem Ihr sie hasst; und jedes Mal, dass Ihr die blinden, störrischen, unwissender. Leidenschaften in Sachen der Freiheit aufreizt, gelingt es Euch nur, Steine des Anstosses in ihren Pfad zu wälzen. Die Freiheit vermag nur durch die Entwicklung zu kommen, das Wachstum, die Fortbildung der menschlichen Vernunft durch Erziehung, bis die Menschen endlich die überwältigende Bedeutung der Freiheit für ihr eigenes Glück einsehen. Jeder einflussreiche Mann so gewonnen, ist mehr wert, als die Eroberung einer Stadt, es ist ein Gewinn für alle Zeiten.

Keiner kann das Ende eines Waffenganges voraussehen. Wenn wir Blut trinken, können wir auch in Blut ertrinken; wenn wir zum Schwert greifen, mögen wir auch durch dasselbe sterben; unsere Fahnen können genommen, unsere Kanonen vernagelt werden.

Doch wenn wir alle Drohungen und Gewalttaten bei Seite legen, dann sind wir unverwundbar, unwiderstehlich. Was vermögen Gerichte, Könige, Armeen, Advokaten und Polizisten gegen Autoren und Denker, Philosophen, Dichter und Drucker, gegen Logik und Sympathie? Lasst sie es versuchen. Brecht eine Feder, und dieselbe schreibt mit Flammenschrift am Mittagshimmel; zerstört eine Presse, und deren Tinte wird auf ewig die Blätter der Geschichte beflecken; unterdrückt einen Schriftsteller, und ein jeder liest seine Werke; verurteilt eine Propaganda, und ihr macht Euch zum Hauptapostel derselben; nehmt einen Kolporteur gefangen, und die Winde des Himmels werden seine Schriften über alle Zonen der Erde zerstreuen.

Diejenigen, welche gegen das Wissen kämpfen, finden sich in dem Netze des Unsichtbaren. Wesenlose Dolche durchbohren sie; sie kämpfen wütend, doch fallen alle ihre Streiche zurück auf den eignen Körper; es quält sie das Bewusstsein, dass sie als Werkzeuge gebraucht werden, um ihre eigene Niederlage zu erkämpfen.

Wenn Tausende auf dem Schlachtfelde fallen, wer fragt darnach? Wenn eine Million Krieger fielen, dann würde die Ruhmesgöttin den Sieger nur auf die Schulter klopfen und sagen: „Das war ein glorreicher Sieg“; doch wenn auch nur eine Strafe verhängt wird über einen unschuldigen Mann, welcher die Wahrheit lehrt und die Gewalt hasst, dann lauscht die Welt in atemloser Aufmerksamkeit und sollte er geopfert werden, so weint die Menschheit um ihren Geliebten.

Das Blut eines Söldners ist nicht mehr wert, als der Rost am Laufe seines Gewehrs; doch wenn das Blut eines Unschuldigen vergossen wird, dann schleicht sich der Verrat in das Lager und die Scham entweicht mit dem Banner. Ein Märtyrer gewinnt einen grösseren Sieg, als ein Regiment Soldaten in Schlachtordnung je zu gewinnen hoffen dürfen, und sein Sieg ist gewiss, während ihrer sehr ungewiss ist.

Ich sage Euch, Kommunisten von Chicago, dass Eure acht Märtyrer mehr zur Förderung Eurer Sache getan haben, als die Zerstörung von acht Städten wie Chicago. Doch ich sage Euch wiederum, dass das Blut des ersten Menschen, den Ihr aus Rache ermordet, die Hälfte ihres Werkes auslöschen wird, und wenn die erste Dynamitbombe, von Eurer rachedürstenden Hand geschleudert, durch das Fenster eines Salons bricht und das zarte Fleisch unschuldiger Frauen und Kinder zerstückelt, dann wird ihr ganzes Werk ungetan sein. Wenn die Manen von Spies und Parsons dieses Leben wiedersehen könnten, würde der Anblick der blutenden Leichen ihrer Verfolger es sein, was ihnen die grösste Befriedigung gewähren würde? Nein, diese Männer waren zu edel, zu grossmütig, um an Blut und Schmerz Freude zu finden. Freiheit, Gerechtigkeit, Glück waren es, was sie liebten und für deren Förderung sie lebten und starben. Krieg war für sie nicht ein Ziel, sondern nur ein Mittel, und wenn wir ihre Ziele durch friedliche Mittel erreichen können, dann rächen wir sie auf die Art, welche sie selbst in ihren weisesten Augenblicken vorgezogen haben würden.

In der Propaganda der Freiheit kann es nur dann zu einem Fehlschlag kommen, wenn wir die Menschen uns missverstehen, fürchten und hassen ehren; Erfolg kann nur dann uns blühen, wenn wir den Verstand überzeugen und das Herz rühren.

Schwört, denn, Kommunisten Chicagos, wenn Ihr wollt, zu einer Rache durch Blut; wir schwören zu einer Rache durch Erfolg; wenn Eure Rache gelingt, so erwartet Euch schliesslich ein Fehlschlag; für uns gibt es keinen Fehlschlag.

J. WM. LLOYD.

*Um Missverständnissen vorzubeugen, sei hier bemerkt, dass Robert Reitzel, was immer seine Ansichten hinsichtlich der von den Revolutionären zu befolgenden Taktik sein mögen, kein Kommunist ist, sondern stark zum individuellen Anarchismus hinneigt.

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 7.)

Anmerkungen

  • Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
  • John William Lloyd (1857–1940) war ein US-amerikanischer Anarchist und Vertreter des individualistischen Anarchismus. Er schrieb viele Bücher und hunderte von Gedichten, die in anarchistischen Zeitschriften veröffentlicht wurden.
  • Lloyd spricht hier natürlich den Haymarket Riot im Mai 1886 in Chicago an. Vom 1. Mai an streikten Arbeiter, am 4. Mai warf jemand eine Bombe in die Menge der Protestierenden auf dem Haymarket, woraufhin die Polizei das Feuer auf die Menge eröffnete und eine bis heute unbekannte Zahl von Protestierenden verletzte oder tötete.
  • Im Nachgang wurden sieben Organisatoren des Protestes zum Tode verurteilt. Sechs der Urteile wurden am 11. November 1887 vollstreckt, einer der Verurteilen beging in seiner Zelle Selbstmord und zwei der Urteile wurden vom Gouverneur nach dem Gnadenrecht in lebenslange Haft umgewandelt. Ein weiterer Anarchist wurde zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt.
  • 1893 erliess der Gouverneur von Illinois einen Gnadenerlass für die drei Inhaftierten, die dadurch freikamen. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass alle Angeklagten unschuldig gewesen seien.
  • Unter den sechs Hingerichteten waren die im Text erwähnten Albert Parsons und August Spies. Zu Spies s. auch die Anmerkungen hier.
  • Der in der Fussnote erwähnte Robert Reitzel (1849–1898) war deutsch-amerikanischer Schriftsteller, Journalist und Herausgeber der Zeitschrift „Der arme Teufel“. Auch wenn Loyd hier versucht, Reitzel für den Individualanarchismus zu vereinnahmen, bewahrte dieser eine freundschaftlich-ironische Distanz zu seinen anarchistischen Zeitgenossen: „Ich überlasse es meinen Freunden Tucker und Most, auszufechten, wer den wahren Anarchismus vertritt, … ich bin nur ein armer Teufel, der sich über die Gesellschaft der Zukunft gar keine Gedanken macht, der jeden Zwang, jedes Unrecht bekämpft, jeder Wahrheit zujubelt, und wäre sie noch so schmerzlich, … und es so weit fertig gebracht hat, trotz Staat, Kirche und der ehrbaren öffentlichen Meinung unabhängig zu leben.“ (zit. n. Oliver Hemmerle: „Der arme Teufel.“ Eine transatlantische Zeitschrift zwischen Arbeiterbewegung und bildungsbürgerlichem Kulturtransfer um 1900. Münster 2002, S. 185). Der Streit, den Tucker und Most ausfochten, ist auch mehrmals Gegenstand in der Libertas.

Lichtstrahlen.

[H[err?]. C. Bechtold in der „Michigan Arbeiter-Zeitung.“]

Ich bin mir der Unzulänglichkeit des Einzelnen im Lebenskampf wohl bewusst, muss ich aber darum in der Herde aufgehen?

Zu seinem durch Arbeit selbst erworbenen Eigentum hat der Mensch ein unbestrittenes Recht, aber nicht zum Fremdtum, das er durch Nichtbezahlung oder ungenügende Bezahlung fremder Arbeit „erworben“ hat.

Ich fürchte weder Kanonen noch Bann, weder scharfe Federn noch giftige Zungen; ich trotze dem Hunger und der vielgestaltigen Lebensnot; aber vor der souveränen Dummheit habe ich schon oft die Waffen strecken müssen. Sie ist eine Grossmacht. Das wissen alle Tyrannen.

Ob die Anarchisten den Stein der Weisen gefunden haben, weiss ich nicht; aber so viel ist gewiss, dass kein Mensch über einen anderen herrschen sollte. Zeige mir einen Mann, der die politische Gewalt nicht missbraucht, und ich zeige dir einen Mann, der keine Anstrengungen macht, sie zu erlangen.

Wenn wir uns das Getreibe in den Parteien anschauen und ihre Verheissungen mit ihren Erfolgen vergleichen, dann überkommt uns ein tiefes Mitleid mit den Armen, die innerhalb der Parteigrenzen auf Erlösung hoffen. Wir halten nichts von Plattformen, gleichviel, ob sie aus einer handvoll Typen oder einer ganzen Lumberyard konstruiert sind. Als Köter der Dummen mögen sie dem Demagogentum dienen, für freie Menschen sind sie wertlos.

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 8.)

Anmerkungen

  • Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
  • Die „Michigan Arbeiter-Zeitung“ erschien täglich. Sie ist in N. W. Ayer & Son’s American Newspaper Annual: containing a Catalogue of American Newspapers, a List of All Newspapers of the United States and Canada, 1889, S. 997 gelistet.
  • Ein Herr C. Bechthold wird als Herausgeber/Redaktor aufgeführt (Quelle: „Indiana Tribüne“, Vol. 11, Nr. 228, 5. Mai 1888, S. 1): „Die andere Publikation ist die Michigan Arbeiter Zeitung. Dieselbe erscheint täglich in Detroit unter der Redaktion des Herrn C. Bechthold. Als Motto trägt sie an ihrer Spitze den Heine'schen Vers: ‚Alle Menschen, gleich geboren, sind ein adliges Geschlecht.‘“

Dichter und Staat.

[Georg Herwegh.]

Wenn ich irgendwo einmal sagte: Jeder echte Dichter sei eigentlich Demokrat, so muss ich hier diesen Ausdruck als den Begriff nicht ganz erschöpfend zurücknehmen. André Chenier war gewiss Demokrat, und die Republik hat ihn doch auf das Schaffot geschickt. Jeder Dichter steht in Opposition mit dem Staate, auch dem besten. – Diese Fassung des Begriffs wird richtiger lauten.

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 8.)

Anmerkungen

  • Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
  • Georg Friedrich Rudolf Theodor Andreas Herwegh (1817–1875) war ein revolutionärer gebürtiger deutscher Dichter des Vormärz und Übersetzer, der auf eigenen Wunsch ab 1843 auch die Schweizer Staatsbürgerschaft hatte. Im 19. Jahrhundert war er einer der populärsten deutschsprachigen politischen Lyriker und einer der bedeutendsten mit der deutschen Arbeiterbewegung verbundenen Dichter.
  • Dieses in der Libertas abgedruckte Zitat Herweghs stammt aus dessen Artikel Dichter und Staat in der Zeitschrift „Deutsche Volkshalle“ (Verlag Belle-Vue in Kreuzlingen) von 1839.
  • André Chénier (1762–1794) war ein französischer klassizistischer Autor, der vor allem als Lyriker bekannt ist. Am 25. Juli 1794, mit 31 Jahren, wurde Chénier guillotiniert, zwei Tage vor dem Sturz des Diktators Robespierre. Sein Werk blieb zu Lebzeiten praktisch ungedruckt. Einem breiten Publikum bekannt wurde er erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als seine Lyrik in einer Sammelausgabe erstmals erschien.

Was ist Freiheit?

[Karl Heinzen.]

Sie kann gedacht werden als ein bloss äusserer Zustand, welcher entsteht durch Entfernung aller hindernden Gewalt, und als eine innere Fähigkeit, welche in Bewusstsein und Willen von allem Gewalthinderns unabhängig ist. Man versetze einen Untertan aus dem Bereich seines Despoten in eine Republik und er ist ein Untertan geblieben, wie wir das ja täglich an Hunderten unsrer Landsleute bemerken können; man fessele einen Republikaner mit Ketten an die Stufen eines Thrones und er bleibt ein Republikaner. Wir haben es hier nur mit derjenigen Freiheit zu tun, welche ich als eine innere bezeichnete, da äussere Freiheit die notwendige Folge der innern ist und deshalb vorausgesetzt werden muss. Diese innere Freiheit aber bedarf ebenfalls wieder einer Definition. Ich mögte sie bezeichnen als die Fähigkeit der Intelligenz und des Willens, das Gesetz der Vernunft vollständig zu erkennen und im Streben nach dem Ideal der menschlichen Entwicklung zu realisieren. Da wir niemals dieses Ideal erreichen, so folgt daraus zwar, dass wir auch niemals die ganze Freiheit erringen; aber es genügt, sich klar darüber zu werden, dass der Freiheit widerstrebt, was der Vernunft widerstrebt, und dass die Freiheit die realisierte Vernunft ist. Denken wir uns alle Menschen durchaus vernünftig, so ist von keiner Unfreiheit mehr die Rede. Haben wir dies erkannt, so sind wir uns klar über die Aufgabe, auf dem Gebiete der Vernunft stets neue Eroberungen zu machen und die Grenze unserer Freiheit nicht enger zu stecken, als die Grenze dieser Eroberungen. Wir sind dann auch imstande, die Hindernisse unserer Freiheit kennenzulernen: und sie zu besiegen. Nur so gelangen wir dazu, wirklich freie Männer zu werden und, füge ich hinzu, es zu bleiben, denn die wahre Freiheit, die in uns realisierte Vernunft, ist unveräusserbar und unbesiegbar.

An den Begriff der Freiheit schliesst sich die Frage nach ihren fernern Erfodernissen an. Wie die Vernunft unteilbar ist und die Vernunft auf dem einen Gebiet nicht bestehen kann neben der Unvernunft auf einem andern, so ist auch die Freiheit unteilbar und es ist eine grosse Unklarheit, z. B. anzunehmen, man könne auf dem politischen Gebiete frei und auf dem religiösen ein Diener der Autorität sein, man könne als Publizist sich auf die politische Freiheit beschränken und müsse die religiöse Unfreiheit unangetastet lassen u.s.w. Nichts hat so sehr das Bedürfnis der Konsequenz wie die Freiheit und sie lässt sich vom Gebiete der Kunst und Sitte ebenso wenig zurückweisen wie vom Gebiete der Politik und Religion. Alles oder nichts, sagt Cäsar; die Freiheit streicht das Nichts und verlangt: alles.

So wie aber die Freiheit unteilbar ist und allgemein werden muss im ganzen Denk- und Willensgebiet des einzelnen Menschen, so ist sie auch geknüpft an das Bedürfnis, sich auszudehnen über das ganze Gebiet der Menschheit. Je freier ein Mensch ist, desto mehr fühlt er das Bedürfnis, alle Menschen frei zu sehen. Die Freiheit ist wie die Luft: wie diese jeden luftleeren Raum auszufüllen, so strebt die Freiheit sich in jedem freiheitslosen Raum und Kopf auszubreiten. Wäre die ganze Menschheit frei, einen Einzigen ausgenommen, die ganze Menschheit würde nicht ruhen können, bis sie auch diesen Einen frei gemacht hätte. Ein freier Mann kann so wenig einen Sklaven dulden wie ein Despot einen freien Mann. Ob ein Mensch wirklich frei ist, kann er ziemlich sicher daran erkennen, ob er seine Freiheit egoistisch auf sich zu beschränken, oder ob er sie auch Unfreien zuteilwerden zu lassen das Bedürfnis fühlt. Die Neutralität ist die Gesinnung der egoistischen Unfreiheit. Selbst der rechte Egoismus der Freiheit ist dieser Neutralität entgegen, denn der freie Mensch hat das Bedürfnis, mit freien Menschen zu verkehren, und er erkennt, dass die fremde Unfreiheit nur ein Hindernis seiner eignen Freiheit ist. Es gibt für den freien Mann keine grössere Qual, als das notgedrungene Verweilen unter Unfreien, die er nicht befreien kann.

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 8.)

Anmerkung

Zu Karl Heinzen s. die Anmerkungen hier.

In der Vorrede eines kleinen, aus mehreren Lieferungen bestehenden Werkes von Johannes Krieg, betitelt „Kampf und Harmonie“, und herausgegeben zu Communia, Iowa, im Jahr 1880, finde ich das soziale Problem wie die Lösung desselben, richtig formuliert wie folgt: „Die produzierende Menschheit hat keinen andern Feind, als das Vorrecht und zinstragende Kapital, hat noch keinen andern gehabt und wird nie einen andern haben, und alle Reformmassregeln, welche nicht die Beseitigung dieser Grundursache aller gesellschaftlichen Übel zum Zweck haben, sind eitel Spielwerk.“ Herr Krieg beklagt es ferner, dass es selbst hierzulande noch keine einzige Partei gebe, welche sich über die durch Gewohnheit geheiligte, aber für unsere Gesellschaftsverhältnisse von Grund aus überlebte und verkehrte repräsentative und administrative Regierungsform erheben könne; „denn anstatt die Vorrechte radikal zu beseitigen, suchen sie denselben für Regierungszwecke bloss andre Namen zu geben und sie auf andre Personen zu übertragen, selbst die in mancher Hinsicht bedeutsame sozialistische Arbeiterpartei nicht ausgenommen, deren Prinzipienwiderstreit unbegreiflich ist, da diese Partei beide extreme Gegensätze, das Vorrecht und zugleich die freie Konkurrenz, als gesellschaftliche Übel bekämpft, ihre Kraft für verschiedene Nebendinge zwecklos vergeudet und dadurch für den Hauptzweck, die Produzenten von dem Druck des Vorrechts und des zinstragenden Kapitals zu befreien, schwächt.“ Diese Anklage gegen die sozialistische Arbeiterpartei, welche vor acht Jahren gegen sie erhoben wurde, gilt auch noch heute.

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 8.)

Anmerkungen

  • Communia ist eine sog. unincorporated community in Clayton County, Iowa, und wurde 1847 von Überlebenden der gescheiterten Siedlung New Helvetia / New Aarau im Osage County, Missouri, gegründet. Die Siedler stammten grösstenteils aus der Schweiz und angrenzenden deutschsprachigen Gebieten. Beide „Utopisten-Kolonien“ gründeten auf frühsozialistischen Idealen und Communia erhielt u. a. Mittel des „Deutschen Arbeiterbunds New York / German Workingmen’s League“. 1864 wurde die Kolonie Communia mit Gerichtsentscheid liquidiert, besteht aber bis heute weiter.
  • Die Geschichte Communias kann man u. a. in einer Publikation der State Historical Society of Iowa nachlesen: Schulz-Behrend, G., (1950) Communia, Iowa, A Nineteenth-Century German-American Utopia, Iowa Journal of History 48(1), 27–54 (PDF).
  • Über den erwähnten Johannes Krieg konnte bis zum heutigen Zeitpunkt nichts gefunden werden, allerdings erwähnt die oben genannte Publikation einen H. Krieg als einen der 14 Shareholder Communias im Jahr 1853 (S. 40). Auch das erwähnte Werk Kampf und Harmonie konnte nicht ausfindig gemacht werden.

Freidenkeriana.

Noch ehe Libertas das Licht der Welt erblickt hatte, erhob der „Freidenker“ seine Warnung gegen die Angekündigte. Er stellte sie als eine Verführerin hin, die gekommen sei, um unschuldige Herzen zu vergiften. Er meinte, sie könne nur Verwirrung in den Köpfen der Menschen anstiften und zu Unheil führen. Deshalb konnte er ihr auch kein günstiges Prognostikon stellen. Die für die bedrohte Unschuld zur Schau getragene Fürsorge war rührend. Als Libertas dann dennoch ihr Erscheinen machte, unterliess es der Freidenker, „sie irgendwie zu begrüssen oder auch nur mit einem Worte zu erwähnen, obwohl es ihm nicht unbekannt war, dass in dem neuen Blatte, was sonst auch seine Mängel sein mochten, das ganze Fühlen und Denken redlich strebender und nicht gerade auf den Kopf gefallener Menschen zum Ausdruck kam. Da gewöhnte ich mich allmählich an den Gedanken, dass sich der Freidenker“ nach dem Beispiel grosser Männer Libertas gegenüber in tiefes Schweigen zu hüllen entschlossen habe, um sie auf diese Weise seine ganze Geringschätzung fühlen zu lassen. Darin habe ich mich aber geirrt. Denn noch ehe Libertas im heissen Kampf der Freiheit sich ihre Sporen verdient hat, widmet ihr der „Freidenker“ plötzlich und ganz unerwartet eine längere Besprechung. Aber was für eine! Ich habe mich darüber zu beklagen, dass er in dieser Besprechung das Goethe’sche Xenion:

Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter,

zu getreulichst befolgt zu haben scheint. Wenigstens sind es hauptsächlich Gespenster, gegen die er zu Felde zieht.

Gleich im Anfang seiner Besprechung vermisst sich der „Freidenker“ zu dem Urteil, dass Libertas „in sehr unklarer und widerspruchsvoller Weise“ für den Anarchismus Propaganda mache. Ein solches Urteil käme nur einem Anarchisten oder doch nur einem Manne zu, welcher die Sache gründlich kennt, die Libertas vertritt. Der „Freidenker“, wie aus seinen Einwänden erhellt, versteht diese Sache nicht und sein Urteil über die Art und Weise, in welcher Libertas dieselbe vertritt, steht denn auch just auf derselben Stufe, wie das Urteil eines Stockkatholiken über die freidenkerische Propaganda des Atheismus. Überhaupt scheint der „Freidenker“ in der Bekämpfung des Anarchismus seine Waffen aus dem Arsenale der kirchlichen Gegner der natürlichen Weltanschauung zu holen. Er bekämpft die Opposition gegen den Staat mit genau denselben Argumenten, mit welchen einst die Dunkelmänner die Opposition gegen die Kirche bekämpften. Darüber braucht man sich übrigens nicht zu verwundern; denn gerade wie der gläubige Christ von der Zerstörung des Gottglaubens die Entfesselung aller bösen Triebe und die Auflösung der menschlichen Gesellschaft befürchtet, so prophezeit der „Freidenker“ von der Abschaffung des Staats das Hereinbrechen eines sozialen Chaos. Ich aber würde mich schämen, wenn ich noch im Banne dieses Aberglaubens stände.

Der Anarchismus, wie ihn der „Freidenker“ allwöchentlich seinen Lesern vorführt, ist allerdings eine Utopie. Nun hat Herr Boppe unstreitig das Recht, allerlei unmögliche Gedankendinge zu schaffen und dieselben zu eigenem Vergnügen wie zum Vergnügen seiner Leser wieder zu zerstören. Ganz unzulässig aber ist es, seine Auffassung des Anarchismus, ein von ihm willkürlich geschaffenes Gedankending, den Anarchisten unterzuschieben und letztere für den von ihm selber zu Tage geförderten Unsinn verantwortlich zu machen. Das ist nicht allein unrecht, das ist auch unehrlich. Wenn es dem „Freidenker“ Spass macht, meine Ansichten als aberwitzig zu charakterisieren, so mag er das immerhin tun; aber ich bestehe darauf, dass er seinen Lesern auch meine wirklichen Ansichten und nicht eine Fälschung derselben darbiete. Noch nicht ein einziges Mal habe ich den Anarchismus von dem Redakteur des „Freidenker“ unparteiisch und leidenschaftslos als Das dargelegt gesehen, als was er von den Anarchisten selber ausgegeben wird. Er verhält sich zu ihm in ähnlicher Weise, wie sich bis vor kurzem die christlichen Pfaffen zur Entwicklungslehre verhalten haben.

Weil er sich willkürlich ein Zerrbild des Anarchismus zurecht pinselt und sich beharrlich weigert, denselben im Sinne seiner intelligenten Bekenner aufzufassen, kann er es nicht verstehen, wie ich einer nach freiem Übereinkommen vereinbarten Organisation zum Schutze des auf der Arbeit begründeten Eigentums das Wort reden könne, während ich doch den Staat verwerfe. Darin erblickt er einen Widerspruch. Das kann er aber nur tun, indem er „Staat“ und „freiwillige Organisation“ in einen Topf wirft. Ich weiss nicht, was ich von dem Unterscheidungsvermögen eines Mannes halten soll, dem der zwischen den angeführten Kategorien obwaltende wesentliche Unterschied nicht sofort in die Augen springt. Zum tausendsten Mal, der Anarchismus schliesst die freiwillige Organisation zur Sicherung aller im Gebiet der wahren Freiheit liegenden Zwecke nicht aus. Was in aller Welt sollte Menschen, welche sich zu dem auf der Arbeit begründeten Eigentum wie zu der vollkommenen, gleichen Freiheit bekennen, verhindern, sich zu Schutz und Trutz freiwillig zu organisieren? Eine solche freiwillige Organisation ist aber nicht gleichbedeutend mit Staat. Der Staat, der historische Staat, beruht nicht auf einem Vertrag, wie einige Philosophen lehren, zumal nicht auf einem freiwilligen Vertrag. Er schliesst vielmehr jeden Gedanken der Freiwilligkeit aus und stützt sich auf die pure, nackte Gewalt. Der Staat verneint das auf der Arbeit begründete Eigentum – kennt der „Freidenker“ anderes Eigentum an? – wie die vollkommene, gleiche Freiheit der Individuen, indem er mittels Gewalt und Willkür in der Form von Bodenrente, Kapitalzins und Profit das Fremdentum schafft. Der Staat ist also das direkte Gegenteil der anarchistischen, freiwilligen Organisation. Wie unstatthaft, daher, letztere mit dem Staat zu identifizieren! Ich wenigstens fühle mich unter einem logischen Zwang, zwischen einer freiwilligen Organisation zur Sicherung und Förderung bestimmter vernünftiger und gerechter Zwecke und dem Staat zu unterscheiden, gerade wie ich auch zwischen einer freien Gemeinde und einer katholischen Kirchengesellschaft zur Zeit der Innocense unterscheide.

Nach dieser Ausführung dürfte es dem „Freidenker“ auch einleuchten, dass der Anarchismus nicht eine Rückkehr zur Natur im Sinne Rousseaus anstrebt, wie er in letzter Zeit wiederholt behauptete. Die Haltlosigkeit des Rousseau’schen Standpunktes ist wohl von niemand schärfer betont worden, als von Proudhon, dem eigentlichen Begründer des Anarchismus. Wie der „Freidenker“ das Märchen vom Urzustand als das Ideal des Anarchismus darstellen konnte, ist eins von den Dingen, die kein Mensch erklären kann.

Ferner, „wenn die Redakteure der Libertas zeitweilig die Diktatur ausüben könnten, so wären sie unfähig, Gesellschaftszustände zu schaffen und zu erhalten, die nicht aus der Volksinitiative hervorgegangen wären.“ Das hält der „Freidenker“ uns vor! Haben wir denn das je geleugnet und geht es auch nur aus einem unsrer Worte hervor, als ob wir uns etwas von der Ausübung einer Diktatur versprächen? Was sich Herr Boppe eigentlich unter Anarchismus vorstellen mag!? Der Anarchismus trägt sich ja nicht mit der Idee, irgendein Gesellschaftszustand dem Volke aufzuzwingen; was er verlangt, ist einfach die Wegräumung der gesetzlichen Hindernisse, welche die freie Entwicklung eines bessern Gesellschaftszustandes als der heutige unmöglich machen. Diese gesetzlichen Hindernisse, deren Beseitigung er anstrebt, sind die die Ausbeutung der Arbeit zur Folge habenden Privilegien und Monopole, der Staat. Er verlangt die Abschaffung dieser Hindernisse, damit die Entwicklung in der Richtung eines höheren Gesellschaftszustandes um so rascher vor sich gehen könne. Dieser Entwicklungsprozess wird voraussichtlich auch unter den veränderten und günstigeren Bedingungen langsam genug vor sich gehen, aber wir setzen unser Vertrauen auf allen Fortschritt ausschliesslich in die natürlichen Agentien der Freiheit und es ist uns noch nie auch nur im Traume eingefallen, der Volksinitiative vorzugreifen. Das ist vielmehr eine Sünde, die dem „Freidenker“ selber anhaftet. Er setzt kein Vertrauen in den langsamen, im Zustande der Freiheit vor sich gehenden und ausschliesslich durch die tausendfachen Agentien der Privatinitiative zu fördernden Fortschritt; er verlangt, dass der Staat sich quasi in eine Moralbehörde umwandle und dem Fortschritt durch Gewalt Vorschub leiste. Im Interesse von Freiheit, Bildung und Wohlstand für alle würde er mich zwingen, öffentliche Schulen, Museen, Bibliotheken, Theater und wer weiss was nicht alles erhalten zu helfen. Und dabei erhebt er gegen die Anarchisten den Vorwurf, der Volksinitiative vorgreifen zu wollen, – gegen die Anarchisten, welche einzig und allein die erzwungene Tributpflichtigkeit der Arbeit zu Gunsten der privilegierten Klassen bekämpfen, für die tausendgestaltige Privatinitiative freies Feld fordern und allen Zwang über die Grenze der Sicherung des auf der Arbeit begründeten Eigentums wie der gleichen Freiheit aller hinaus und im Interesse auch der sonst an und für sich gerechtfertigtsten Zwecke strengstens verurteilen!

Ich eile zum Schluss. Aber es ist noch ein Punkt in der Besprechung, welche der „Freidenker“ Libertas zuteilwerden lässt, der meine Richtigstellung herausfordert. Hätte irgendein anderer Mensch meine Auslassungen über Stimmzettel und Dynamit in Nummer 3 dieses Blattes in der Weise des „Freidenker“ kommentiert, so würde ich zum mindesten einen gelinden Zweifel in seine intellektuelle und moralische Integrität setzen müssen. Wie konnte Herr Boppe nach Durchlesen jenes Artikels die Behauptung übers Land verbreiten, dass ich für Dynamit sei, nicht allein, um einen Willkürherrscher zu stürzen oder um Press-, Rede- und Agitationsfreiheit herzustellen, sondern auch um „schliesslich doch gewiss jenes anarchistische Freiheitsideal zu sichern, welches dem Einzelnen schrankenlose Freiheit insofern wenigstens sichert, dass sein Tun und Lassen keinem Zwang irgendwelcher Art, auch nicht solchem, wie ihn jede Organisation zur Erreichung oder Sicherung gewisser Zwecke in Form von zum voraus bindenden Verpflichtungen voraussetzt, unterworfen ist“, etc. Wie konnte sich der „Freidenker“ zu einer solchen Verdrehung und Fälschung meines Standpunkts herbeilassen? Hatte ich nicht die Grenzen genau angegeben, innerhalb welcher ich die Anwendung des Dynamits rechtfertigte, und hatte ich nicht ausdrücklich betont, dass das Wesen des Anarchismus, sofern es sich um den positiven Teil desselben handle, alles Operieren mit Gewaltmitteln ausschliesse? Hatte ich es nicht klargemacht, dass die Verwirklichung des anarchistischen Ideals ausschliesslich der friedlichen Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens im Zustande der Freiheit überlassen werden müsse? Nach dem „Freidenker“ verpönt Libertas den Stimmzettel, weil er „eine verabscheuungswerte staatliche Erfindung“ sei und die „vorerstige“ Anwendung des Dynamits aus Humanitätsgefühl. Ist das der Wahrheit gemäss? Hatte ich nicht andere, und zwar bessere Gründe für unsere Verwerfung dieser Dinge angegeben? Hatte ich nicht unsere Verwerfung von Dynamit wie Stimmzettel auf die Tatsache gegründet, dass diese Dinge an und für sich die Herausbildung des Ideals der Freiheit nicht zu fördern vermögen, aus inneren Gründen nicht, weil die gesellschaftliche Entwicklung wesentlich andere Agentien bedinge?

Doch hier muss ich abbrechen. Vorläufig spreche ich dem „Freidenker“ das Recht ab, eine Sache zu definieren und auszulegen, ehe er sie verstehen gelernt hat, und ich gebe mich der Hoffnung hin, dass, wenn er sich das nächste Mal mit Libertas befasst, er ihrem Streben ein grösseres Verständnis entgegenbringen möge.

G.S.

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 5 und 8.)

Anmerkungen

  • Zu Herrn Boppe und dem „Freidenker“ vgl. die Anmerkungen hier.
  • Xenien (griechisch), ursprünglich „Gastgeschenke“, nannte der römische Dichter Martial (1. Jahrhundert n. Chr.) das 13. Buch seiner Epigramme, die als Begleitverse zu Geschenken gedacht waren. Goethe übernahm diesen Titel im ironischen Sinne für Distichen, die er gemeinsam mit Schiller verfasst hatte. Die Xenien erschienen in Schillers Musenalmanach auf das Jahr 1797. Die Manuskriptabschrift mit insgesamt 676 Xenien ist noch heute erhalten.