Libertas

„Freiheit, nicht die Tochter, sondern die Mutter der Ordnung“ – Proudhon

Rache.

EIN OFFENER BRIEF AN DIE KOMMUNISTISCHEN ANARCHISTEN CHICAGOS.

Krieg und Autorität sind Gefährten, so sind Frieden und Freiheit. … Blutvergiessen ist an und für sich ein reiner Verlust.

B. R. Tucker.

An dem Rande des Grabes, gleichsam in der Gegenwart unserer gemordeten Toten, die Herzen schwellend von den wechselnden Empfindungen der Freude und der Verzweiflung, des Ruhmes und des Bedauerns, des Stolzes und des Schmerzes, das Echo der edlen Sterbeworte noch in Euren Ohren wieder klingend, fandet Ihr, die kommunistischen Anarchisten Chicagos, Euch Angesicht zu Angesicht mit der ernsten Frage: „Was nun? Männer der Anarchie wollet Ihr Euch rächen?“

Und mit Stimmen laut und leise, wild, entschlossen und feierlich, nahmt Ihr den furchtbaren Eid: „Wir wollen!“

Und auch wir, die individualistischen Anarchisten der Welt, die wir jene toten Helden geliebt und geehrt hatten, obwohl wir während ihres Lebens nicht immer mit ihnen auf gleichen Pfaden wandeln konnten, wir auch echo'ten jenes feierliche Gelübde: „Wir wollen!“

Doch wie? Diese Frage tritt nun in den Vordergrund. Soll es durch Krieg sein? Sollen wir mit Robert Reitzel* Blut für Blut verlangen und lernen bitterlich zu hassen? Sollen wir diese Leute, welche unsre Teuren erschlagen haben, nun mit dem heimlichen, furchtbaren Schatten unserer unerbittlichen Rache verfolgen? Soll die Keule sie niederstrecken in der Finsternis, der vergiftete Dolch sie durchbohren beim Strahl der Mittagssonne, die furchtbaren Vulkane des Dynamits donnernd ihr Verdammungsurteil verkünden in den stillen Stunden der Mitternacht?

Oder sollen wir uns in unserer Macht erheben, in Horden, gleich den heulenden Wölfen der Steppe, und in einer Revolution des Blutes, furchtbar durch Schwert, Bombe und Fackel, ihre Städte, Kerker, Gerichtshäuser, Paläste und Salons in rauchende Trümmer stürzen, ihre Armeen und Polizeimächte in blutige Fragmente zerreissen, und so durch die furchtbaren Gewalten des Hasses und der Furcht die Toten rächen und der Freiheit eine Gasse bahnen? Mit bleichen, verzerrten Gesichtern, wutgeblendeten Augen und knirschenden Zähnen haben Tausende geantwortet: „Ja!“ Doch bestimmt und ohne Zögern antworten wir: „Nein!“

Und doch wenn je seit der Dämmerzeit der Geschichte eine so niederträchtige Tat an so unschuldigen Menschen verübt wurde, dass dieselbe unzweifelhaft den Krieg rechtfertigte, so steht dieser Gerichtsmord derselben gleich. Die Tyrannenhand der Gewalt war blutdürstend ausgestreckt und die Adern unserer Bravsten und Beredtesten wurden geleert, um ihr den Becher zu füllen.

Doch, Kameraden, cui bono? Welchen Nutzen hätte das Blutvergiessen jemals gebracht? Welche Flecken hätte es je ausgelöscht – nein, hat es dieselben nicht nur unter einem noch dunkleren Flecken verborgen? Lasst die törichte Einbildung der Blutsühne für immer und in allen ihren Formen abgetan sein.

Ihr sagt, dass der Krieg Dynastien gestürzt, Throne zertrümmert, Tyrannen getötet, Armeen vernichtet und Völker befreit habe. Zugegeben; doch was war alles dieses wert? Der Krieg stürzte einen König, damit ein anderer Monarch herrschen möge; aus den zertrümmerten Thronen wurden andere, festere gebaut; jene toten Tyrannen, gleich toten Fliegen, haben andere und wieder andere gezeugt; für jede zerstörte Armee wurden zehntausend neue ins Leben gerufen, und die durch den Krieg befreiten Völker wurden nie zu freien Menschen.

Ihr sagt mir, dass durch Konflikt und Kampf die Menschheit Kraft entwickelt und das Überleben der Passendsten erlangt habe. Auch das ist teilweise wahr. Der Kampf mit Menschen, wie der Kampf mit der Natur, entwickelt Muskelkraft, Mut und Gehirn; allein das beweist nicht, dass der Kampf mit Menschen nicht viel kostspieliger und viel weniger erfolgreich ist, als der Kampf mit der Natur. Gleich der Kassavawurzel hat das Übel stets die Tendenz, sein Gift zu verflüchtigen und harmlos zu werden, doch so lange noch irgend Gift zurückbleibt, ist es immer ein Übel. Menschliche Wohlfahrt ist menschliches Glück und das Glück, welches mit dem Kriege kommt, kommt meist trotz desselben. Obgleich es sentimental klingen mag, so erkläre ich es dennoch als meine aufrichtige Überzeugung, dass die zarte Liebe und das vergebungsvolle Mitleid der Frauen und die hilflosen Rufe der Säuglinge zur Verewigung alles dessen, was edel ist in der Menschennatur, mehr beigetragen haben, als alle wilde Leidenschaft, aller tierischer Hass und alle brutale Gewalt seit undenklichen Zeiten. Der milde Forscher, welcher in seinem stillen Zimmer sitzend die Natur um ihre Geheimnisse befragt und ihre Antworten seinen Mitmenschen vermittelt, leistet der Freiheit bessere Dienste, als wenn ein Gottesgericht jeden Herrscher auf der runden Erde, vom russische Zaren bis zu einem Chicagoer Polizisten, erschlüge. Doch wenn Wissen im Allgemeinen so viel wert ist, dann ist die Wissenschaft im Dienste wahrer Freiheit und der Organisation freier Menschen von ganz unberechenbarem Wert. Die Welt hat des Blutes genug gehabt. Seit undenklichen Zeiten hat alltäglich die Sonne herabgeschaut auf menschliche Wesen im tödlichen Kampfe miteinander ringend. Seit undenklichen Zeiten verschwand dieselbe Sonne allnächtlich hinter Wolken des Pulverdampfes und der Schlachtfelder Staub und erhob sich allmorgendlich durch blutgeschwängerte Nebel über ein leichenbedecktes Gefild. Allnächtlich blickte der Silbermond herab auf Wall und Lagerstatt, während Helm und Schwert in seinem Strahle glitzerten, bis der Glutschein brennender Städte ihn erblassen liess. Seit tausenden von Jahren starrten alltäglich aus den bleichen, verzerrten Gesichtern der Erschlagenen die seelenlosen Augen empor zum Azurgewölbe des Tages und dem gestirnten Dom der Nacht. Unerschöpflich floss der Wunden Purpurquelle. Fortwährend tönten der Opfer Sterbeseufzer. Unaufhörlich klangen der Wittwen und Waisen Klagen. Und doch, was nützte alles Dieses? Ist es nicht genug? Es gab eine Zeit, da auch mich ein Kriegsrausch beherrschte. Ich verehrte die Macht und glaubte an der Menschheit Erlösung durch sie. Gleich dem Streitrosse erfüllte mich das Rollen der Trommel und der Hörner schriller Klang mit fieberhafter Ungeduld. Ich zerrte gleich dem Hunde an der Koppel, wenn ich den gemessnen Schritt bewaffneter Scharen hörte, wallende Banner und Federn, schäumende Rosse und blitzende Waffen sah. Doch ach! Es war eines Toren hirnlose Begeisterung. Es liegt ein fluchwürdiger Rausch in dem Pomp und der Leidenschaft des Krieges, höllischer als Haschisch, wirrer als Opium oder Alkohol, die Kräfte des Verstandes überwältigend, gleich den hinterlistigen Dämpfen eines Giftes uns zu unsrer Vernichtung lockend wie der tosende Fall oder die schwindelnde Höhe.

Gerade diese berauschende Eigenschaft des Krieges ist es, Kameraden, welche denselben gefährlich macht. Sie zerstört die Individualität und lähmt das Wachstum der freien Vernunft. Sie zieht die Menschen in heulenden, irren Herden, um das Gebot ihrer schlauen und unerbittlichen Herren auszuführen. Der Söldner gibt nichts um Freiheit und kann nicht. Er ist macht trunken. Er ist abwechselnd und gleichzeitig ein Sklave und ein Tyrann. Er ist ein Räuber ohne Reue, ein Mörder ohne Zögern, ein Brandstifter ohne Veranlassung. Er entsagt seinem freien Willen, vergisst, dass er ein Mensch ist und wird ein Hund, der zerfleischt, auf wen er gerade gehetzt wird. Er ist ebenso eine Todesmaschine, wie das Gewehr, das er trägt.

Auch zu Gunsten des Meuchelmords lässt sich Etwas sagen, denn Meuchelmörder haben der Freiheit einige gute Dienste geleistet. Der Meuchelmörder erhält und entwickelt seinen Verstand und seine Individualität. Da der dritte Schritt in seiner Laufbahn (nach Vorbereitung und Tat) das Märtyrertum ist, so entwickelt er sittlichen Mut der höchsten Art. Wenn er ist, was er sein sollte, so ist er gleich Brutus, ein Fürst unter Menschen. Doch dieses Hilfsmittel, um erfolgreich zu sein, sollte allgemein und häufig angewendet werden. Das ist unmöglich. Es ist wohl den innersten Neigungen und Instinkten der Menschennatur zu sehr entgegengesetzt. Der Meuchelmörder um der Freiheit willen ist ein seltenes Produkt. Die Eigenschaften, welche nötig sind, um einen Menschen human genug zu machen, dass er freudig für die Freiheit zu sterben und doch ohne Zittern und Zagen, in kaltem Blute menschliches Leben zu zerstören vermag, sind einander zu entgegengesetzt, als dass dieselben oft in derselben Brust vereint gefunden werden könnten. Tyrannen sind auf ihrer Hut, kühn und wohl bewacht. Der Mörder vermag gegen sie nur einen Schlag zu führen und dieser, wie die Statistik lehrt, ist gewöhnlich ein Fehlschlag, welcher jedoch ihn selbst tötet. Es ist zu viel gutes Material in dem Tyrannenmörder, als dass dasselbe auf diese Weise verschwendet werden sollte. Er ist zu wertvoll als ein Lehrer und Agitator der stillen radikalen Revolution, als dass er sein Leben wegwerfen sollte in dem Versuche, eine einzige der gesellschaftlichen Pestbeulen zu öffnen. Er vermag nur wenig, selbst wenn er am erfolgreichsten ist, und unter allen Umständen fordert seine Tat eine blutige Vergeltung von Seiten derjenigen, welche er reizt, auf diejenigen, welche er liebt, heraus; jede Schraube der Regierung wird fester angezogen. Schlimmer noch als alles Andere, seine Tat erfüllt mit Grauen manche, die wir gewinnen möchten, und veranlasst dieselben, sich zurückzuhalten. Dieses Mittel ist zu wirkungslos, zu kostbar. Lasst es uns für immer bei Seite legen. Die Freiheit beginnt im Gehirn, pulsiert im Herzen und schafft in der Hand des Individuums. Jede weise, weitreichende Idee, jede sanfte, liebende Empfindung, jeder erhabene und ehrenhafte Instinkt, jedes zarte Mitgefühl und edle Streben bahnen den Weg für die Freiheit. Jedes Flüstern der Selbstachtung zieht sie an wie ein Magnet; jedes furchtlose Wort, jeder Ausdruck der Selbstständigkeit bringt uns auf ihre Seite. Jeder Schmerz, jede Schmach erduldet zur Wahrung menschlicher Würde und gleicher Rechte erhebt uns zu der glorreichen Höhe der Kinder der Freiheit. Was immer das Individuum eifersüchtig macht und besorgt um seine Würde und sein unbeschränktes Wachstum als eine selbstständige Person und sorgsam in Betracht der Würde und Wohlfahrt anderer, weil es erkennt, dass ihr Glück für sein eigenes unentbehrlich ist, alles dieses schafft der Freiheit eine Stätte; und was immer seine Individualität verwischt und ihn achtlos macht, sei es auch in noch so geringem Grade, für die Sympathien, welche ihn an seine Mitmenschen fesseln, wirkt gegen sie. Individualität, Solidarität, diese beide zerstört der Krieg zu gleicher Zeit, während der Meuchelmord letztere vernichtet.

Wenn wir dann, die wir die Freiheit lieben und ihr folgen, sei sie auch noch so fern; wenn wir, die wir ihr Licht im Herzen haben, sei es auch noch so schwach; wenn wir es vermögen, Meuchelmörder und Söldner, Sklaven und Tyrannen, Schlächter und Vernichter zu werden, zu töten durch Feuer und Schwert, zu vernichten, hassen und rächen; wenn wir dann (was noch von uns übrig) als Eroberer stehen auf einer Trümmerwelt und uns frei erklären, was dann? Dieses. Wir werden finden, dass wir die Lehren des Krieges zu wohl gelernt haben, dass wir den Pfad der Freiheit verloren, ihr Licht verlöscht haben, dass wir den anderen Menschen gleich geworden sind, dass selbst die Kinder, die wir in den Jahren des Kampfs gezeugt, auf ihren Seelen den Stempel der Ungerechtigkeit tragen, dass die Welt noch ist, wie sie zuvor war, und wir schlechter, und dass das ganze traurige Geschäft von Neuem begonnen werden muss.

Ihr könnt nicht frei sein, wenn nicht Eure Mitmenschen es auch sind. Ihr vermögt nicht, andere durch Furcht zu befreien; Ihr könnt sie nicht befreien, indem Ihr sie hasst; und jedes Mal, dass Ihr die blinden, störrischen, unwissender. Leidenschaften in Sachen der Freiheit aufreizt, gelingt es Euch nur, Steine des Anstosses in ihren Pfad zu wälzen. Die Freiheit vermag nur durch die Entwicklung zu kommen, das Wachstum, die Fortbildung der menschlichen Vernunft durch Erziehung, bis die Menschen endlich die überwältigende Bedeutung der Freiheit für ihr eigenes Glück einsehen. Jeder einflussreiche Mann so gewonnen, ist mehr wert, als die Eroberung einer Stadt, es ist ein Gewinn für alle Zeiten.

Keiner kann das Ende eines Waffenganges voraussehen. Wenn wir Blut trinken, können wir auch in Blut ertrinken; wenn wir zum Schwert greifen, mögen wir auch durch dasselbe sterben; unsere Fahnen können genommen, unsere Kanonen vernagelt werden.

Doch wenn wir alle Drohungen und Gewalttaten bei Seite legen, dann sind wir unverwundbar, unwiderstehlich. Was vermögen Gerichte, Könige, Armeen, Advokaten und Polizisten gegen Autoren und Denker, Philosophen, Dichter und Drucker, gegen Logik und Sympathie? Lasst sie es versuchen. Brecht eine Feder, und dieselbe schreibt mit Flammenschrift am Mittagshimmel; zerstört eine Presse, und deren Tinte wird auf ewig die Blätter der Geschichte beflecken; unterdrückt einen Schriftsteller, und ein jeder liest seine Werke; verurteilt eine Propaganda, und ihr macht Euch zum Hauptapostel derselben; nehmt einen Kolporteur gefangen, und die Winde des Himmels werden seine Schriften über alle Zonen der Erde zerstreuen.

Diejenigen, welche gegen das Wissen kämpfen, finden sich in dem Netze des Unsichtbaren. Wesenlose Dolche durchbohren sie; sie kämpfen wütend, doch fallen alle ihre Streiche zurück auf den eignen Körper; es quält sie das Bewusstsein, dass sie als Werkzeuge gebraucht werden, um ihre eigene Niederlage zu erkämpfen.

Wenn Tausende auf dem Schlachtfelde fallen, wer fragt darnach? Wenn eine Million Krieger fielen, dann würde die Ruhmesgöttin den Sieger nur auf die Schulter klopfen und sagen: „Das war ein glorreicher Sieg“; doch wenn auch nur eine Strafe verhängt wird über einen unschuldigen Mann, welcher die Wahrheit lehrt und die Gewalt hasst, dann lauscht die Welt in atemloser Aufmerksamkeit und sollte er geopfert werden, so weint die Menschheit um ihren Geliebten.

Das Blut eines Söldners ist nicht mehr wert, als der Rost am Laufe seines Gewehrs; doch wenn das Blut eines Unschuldigen vergossen wird, dann schleicht sich der Verrat in das Lager und die Scham entweicht mit dem Banner. Ein Märtyrer gewinnt einen grösseren Sieg, als ein Regiment Soldaten in Schlachtordnung je zu gewinnen hoffen dürfen, und sein Sieg ist gewiss, während ihrer sehr ungewiss ist.

Ich sage Euch, Kommunisten von Chicago, dass Eure acht Märtyrer mehr zur Förderung Eurer Sache getan haben, als die Zerstörung von acht Städten wie Chicago. Doch ich sage Euch wiederum, dass das Blut des ersten Menschen, den Ihr aus Rache ermordet, die Hälfte ihres Werkes auslöschen wird, und wenn die erste Dynamitbombe, von Eurer rachedürstenden Hand geschleudert, durch das Fenster eines Salons bricht und das zarte Fleisch unschuldiger Frauen und Kinder zerstückelt, dann wird ihr ganzes Werk ungetan sein. Wenn die Manen von Spies und Parsons dieses Leben wiedersehen könnten, würde der Anblick der blutenden Leichen ihrer Verfolger es sein, was ihnen die grösste Befriedigung gewähren würde? Nein, diese Männer waren zu edel, zu grossmütig, um an Blut und Schmerz Freude zu finden. Freiheit, Gerechtigkeit, Glück waren es, was sie liebten und für deren Förderung sie lebten und starben. Krieg war für sie nicht ein Ziel, sondern nur ein Mittel, und wenn wir ihre Ziele durch friedliche Mittel erreichen können, dann rächen wir sie auf die Art, welche sie selbst in ihren weisesten Augenblicken vorgezogen haben würden.

In der Propaganda der Freiheit kann es nur dann zu einem Fehlschlag kommen, wenn wir die Menschen uns missverstehen, fürchten und hassen ehren; Erfolg kann nur dann uns blühen, wenn wir den Verstand überzeugen und das Herz rühren.

Schwört, denn, Kommunisten Chicagos, wenn Ihr wollt, zu einer Rache durch Blut; wir schwören zu einer Rache durch Erfolg; wenn Eure Rache gelingt, so erwartet Euch schliesslich ein Fehlschlag; für uns gibt es keinen Fehlschlag.

J. WM. LLOYD.

*Um Missverständnissen vorzubeugen, sei hier bemerkt, dass Robert Reitzel, was immer seine Ansichten hinsichtlich der von den Revolutionären zu befolgenden Taktik sein mögen, kein Kommunist ist, sondern stark zum individuellen Anarchismus hinneigt.

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 7.)

Anmerkungen

  • Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
  • John William Lloyd (1857–1940) war ein US-amerikanischer Anarchist und Vertreter des individualistischen Anarchismus. Er schrieb viele Bücher und hunderte von Gedichten, die in anarchistischen Zeitschriften veröffentlicht wurden.
  • Lloyd spricht hier natürlich den Haymarket Riot im Mai 1886 in Chicago an. Vom 1. Mai an streikten Arbeiter, am 4. Mai warf jemand eine Bombe in die Menge der Protestierenden auf dem Haymarket, woraufhin die Polizei das Feuer auf die Menge eröffnete und eine bis heute unbekannte Zahl von Protestierenden verletzte oder tötete.
  • Im Nachgang wurden sieben Organisatoren des Protestes zum Tode verurteilt. Sechs der Urteile wurden am 11. November 1887 vollstreckt, einer der Verurteilen beging in seiner Zelle Selbstmord und zwei der Urteile wurden vom Gouverneur nach dem Gnadenrecht in lebenslange Haft umgewandelt. Ein weiterer Anarchist wurde zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt.
  • 1893 erliess der Gouverneur von Illinois einen Gnadenerlass für die drei Inhaftierten, die dadurch freikamen. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass alle Angeklagten unschuldig gewesen seien.
  • Unter den sechs Hingerichteten waren die im Text erwähnten Albert Parsons und August Spies. Zu Spies s. auch die Anmerkungen hier.
  • Der in der Fussnote erwähnte Robert Reitzel (1849–1898) war deutsch-amerikanischer Schriftsteller, Journalist und Herausgeber der Zeitschrift „Der arme Teufel“. Auch wenn Loyd hier versucht, Reitzel für den Individualanarchismus zu vereinnahmen, bewahrte dieser eine freundschaftlich-ironische Distanz zu seinen anarchistischen Zeitgenossen: „Ich überlasse es meinen Freunden Tucker und Most, auszufechten, wer den wahren Anarchismus vertritt, … ich bin nur ein armer Teufel, der sich über die Gesellschaft der Zukunft gar keine Gedanken macht, der jeden Zwang, jedes Unrecht bekämpft, jeder Wahrheit zujubelt, und wäre sie noch so schmerzlich, … und es so weit fertig gebracht hat, trotz Staat, Kirche und der ehrbaren öffentlichen Meinung unabhängig zu leben.“ (zit. n. Oliver Hemmerle: „Der arme Teufel.“ Eine transatlantische Zeitschrift zwischen Arbeiterbewegung und bildungsbürgerlichem Kulturtransfer um 1900. Münster 2002, S. 185). Der Streit, den Tucker und Most ausfochten, ist auch mehrmals Gegenstand in der Libertas.

Lichtstrahlen.

[H[err?]. C. Bechtold in der „Michigan Arbeiter-Zeitung.“]

Ich bin mir der Unzulänglichkeit des Einzelnen im Lebenskampf wohl bewusst, muss ich aber darum in der Herde aufgehen?

Zu seinem durch Arbeit selbst erworbenen Eigentum hat der Mensch ein unbestrittenes Recht, aber nicht zum Fremdtum, das er durch Nichtbezahlung oder ungenügende Bezahlung fremder Arbeit „erworben“ hat.

Ich fürchte weder Kanonen noch Bann, weder scharfe Federn noch giftige Zungen; ich trotze dem Hunger und der vielgestaltigen Lebensnot; aber vor der souveränen Dummheit habe ich schon oft die Waffen strecken müssen. Sie ist eine Grossmacht. Das wissen alle Tyrannen.

Ob die Anarchisten den Stein der Weisen gefunden haben, weiss ich nicht; aber so viel ist gewiss, dass kein Mensch über einen anderen herrschen sollte. Zeige mir einen Mann, der die politische Gewalt nicht missbraucht, und ich zeige dir einen Mann, der keine Anstrengungen macht, sie zu erlangen.

Wenn wir uns das Getreibe in den Parteien anschauen und ihre Verheissungen mit ihren Erfolgen vergleichen, dann überkommt uns ein tiefes Mitleid mit den Armen, die innerhalb der Parteigrenzen auf Erlösung hoffen. Wir halten nichts von Plattformen, gleichviel, ob sie aus einer handvoll Typen oder einer ganzen Lumberyard konstruiert sind. Als Köter der Dummen mögen sie dem Demagogentum dienen, für freie Menschen sind sie wertlos.

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 8.)

Anmerkungen

  • Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
  • Die „Michigan Arbeiter-Zeitung“ erschien täglich. Sie ist in N. W. Ayer & Son’s American Newspaper Annual: containing a Catalogue of American Newspapers, a List of All Newspapers of the United States and Canada, 1889, S. 997 gelistet.
  • Ein Herr C. Bechthold wird als Herausgeber/Redaktor aufgeführt (Quelle: „Indiana Tribüne“, Vol. 11, Nr. 228, 5. Mai 1888, S. 1): „Die andere Publikation ist die Michigan Arbeiter Zeitung. Dieselbe erscheint täglich in Detroit unter der Redaktion des Herrn C. Bechthold. Als Motto trägt sie an ihrer Spitze den Heine'schen Vers: ‚Alle Menschen, gleich geboren, sind ein adliges Geschlecht.‘“

Dichter und Staat.

[Georg Herwegh.]

Wenn ich irgendwo einmal sagte: Jeder echte Dichter sei eigentlich Demokrat, so muss ich hier diesen Ausdruck als den Begriff nicht ganz erschöpfend zurücknehmen. André Chenier war gewiss Demokrat, und die Republik hat ihn doch auf das Schaffot geschickt. Jeder Dichter steht in Opposition mit dem Staate, auch dem besten. – Diese Fassung des Begriffs wird richtiger lauten.

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 8.)

Anmerkungen

  • Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
  • Georg Friedrich Rudolf Theodor Andreas Herwegh (1817–1875) war ein revolutionärer gebürtiger deutscher Dichter des Vormärz und Übersetzer, der auf eigenen Wunsch ab 1843 auch die Schweizer Staatsbürgerschaft hatte. Im 19. Jahrhundert war er einer der populärsten deutschsprachigen politischen Lyriker und einer der bedeutendsten mit der deutschen Arbeiterbewegung verbundenen Dichter.
  • Dieses in der Libertas abgedruckte Zitat Herweghs stammt aus dessen Artikel Dichter und Staat in der Zeitschrift „Deutsche Volkshalle“ (Verlag Belle-Vue in Kreuzlingen) von 1839.
  • André Chénier (1762–1794) war ein französischer klassizistischer Autor, der vor allem als Lyriker bekannt ist. Am 25. Juli 1794, mit 31 Jahren, wurde Chénier guillotiniert, zwei Tage vor dem Sturz des Diktators Robespierre. Sein Werk blieb zu Lebzeiten praktisch ungedruckt. Einem breiten Publikum bekannt wurde er erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als seine Lyrik in einer Sammelausgabe erstmals erschien.

Was ist Freiheit?

[Karl Heinzen.]

Sie kann gedacht werden als ein bloss äusserer Zustand, welcher entsteht durch Entfernung aller hindernden Gewalt, und als eine innere Fähigkeit, welche in Bewusstsein und Willen von allem Gewalthinderns unabhängig ist. Man versetze einen Untertan aus dem Bereich seines Despoten in eine Republik und er ist ein Untertan geblieben, wie wir das ja täglich an Hunderten unsrer Landsleute bemerken können; man fessele einen Republikaner mit Ketten an die Stufen eines Thrones und er bleibt ein Republikaner. Wir haben es hier nur mit derjenigen Freiheit zu tun, welche ich als eine innere bezeichnete, da äussere Freiheit die notwendige Folge der innern ist und deshalb vorausgesetzt werden muss. Diese innere Freiheit aber bedarf ebenfalls wieder einer Definition. Ich mögte sie bezeichnen als die Fähigkeit der Intelligenz und des Willens, das Gesetz der Vernunft vollständig zu erkennen und im Streben nach dem Ideal der menschlichen Entwicklung zu realisieren. Da wir niemals dieses Ideal erreichen, so folgt daraus zwar, dass wir auch niemals die ganze Freiheit erringen; aber es genügt, sich klar darüber zu werden, dass der Freiheit widerstrebt, was der Vernunft widerstrebt, und dass die Freiheit die realisierte Vernunft ist. Denken wir uns alle Menschen durchaus vernünftig, so ist von keiner Unfreiheit mehr die Rede. Haben wir dies erkannt, so sind wir uns klar über die Aufgabe, auf dem Gebiete der Vernunft stets neue Eroberungen zu machen und die Grenze unserer Freiheit nicht enger zu stecken, als die Grenze dieser Eroberungen. Wir sind dann auch imstande, die Hindernisse unserer Freiheit kennenzulernen: und sie zu besiegen. Nur so gelangen wir dazu, wirklich freie Männer zu werden und, füge ich hinzu, es zu bleiben, denn die wahre Freiheit, die in uns realisierte Vernunft, ist unveräusserbar und unbesiegbar.

An den Begriff der Freiheit schliesst sich die Frage nach ihren fernern Erfodernissen an. Wie die Vernunft unteilbar ist und die Vernunft auf dem einen Gebiet nicht bestehen kann neben der Unvernunft auf einem andern, so ist auch die Freiheit unteilbar und es ist eine grosse Unklarheit, z. B. anzunehmen, man könne auf dem politischen Gebiete frei und auf dem religiösen ein Diener der Autorität sein, man könne als Publizist sich auf die politische Freiheit beschränken und müsse die religiöse Unfreiheit unangetastet lassen u.s.w. Nichts hat so sehr das Bedürfnis der Konsequenz wie die Freiheit und sie lässt sich vom Gebiete der Kunst und Sitte ebenso wenig zurückweisen wie vom Gebiete der Politik und Religion. Alles oder nichts, sagt Cäsar; die Freiheit streicht das Nichts und verlangt: alles.

So wie aber die Freiheit unteilbar ist und allgemein werden muss im ganzen Denk- und Willensgebiet des einzelnen Menschen, so ist sie auch geknüpft an das Bedürfnis, sich auszudehnen über das ganze Gebiet der Menschheit. Je freier ein Mensch ist, desto mehr fühlt er das Bedürfnis, alle Menschen frei zu sehen. Die Freiheit ist wie die Luft: wie diese jeden luftleeren Raum auszufüllen, so strebt die Freiheit sich in jedem freiheitslosen Raum und Kopf auszubreiten. Wäre die ganze Menschheit frei, einen Einzigen ausgenommen, die ganze Menschheit würde nicht ruhen können, bis sie auch diesen Einen frei gemacht hätte. Ein freier Mann kann so wenig einen Sklaven dulden wie ein Despot einen freien Mann. Ob ein Mensch wirklich frei ist, kann er ziemlich sicher daran erkennen, ob er seine Freiheit egoistisch auf sich zu beschränken, oder ob er sie auch Unfreien zuteilwerden zu lassen das Bedürfnis fühlt. Die Neutralität ist die Gesinnung der egoistischen Unfreiheit. Selbst der rechte Egoismus der Freiheit ist dieser Neutralität entgegen, denn der freie Mensch hat das Bedürfnis, mit freien Menschen zu verkehren, und er erkennt, dass die fremde Unfreiheit nur ein Hindernis seiner eignen Freiheit ist. Es gibt für den freien Mann keine grössere Qual, als das notgedrungene Verweilen unter Unfreien, die er nicht befreien kann.

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 8.)

Anmerkung

Zu Karl Heinzen s. die Anmerkungen hier.

In der Vorrede eines kleinen, aus mehreren Lieferungen bestehenden Werkes von Johannes Krieg, betitelt „Kampf und Harmonie“, und herausgegeben zu Communia, Iowa, im Jahr 1880, finde ich das soziale Problem wie die Lösung desselben, richtig formuliert wie folgt: „Die produzierende Menschheit hat keinen andern Feind, als das Vorrecht und zinstragende Kapital, hat noch keinen andern gehabt und wird nie einen andern haben, und alle Reformmassregeln, welche nicht die Beseitigung dieser Grundursache aller gesellschaftlichen Übel zum Zweck haben, sind eitel Spielwerk.“ Herr Krieg beklagt es ferner, dass es selbst hierzulande noch keine einzige Partei gebe, welche sich über die durch Gewohnheit geheiligte, aber für unsere Gesellschaftsverhältnisse von Grund aus überlebte und verkehrte repräsentative und administrative Regierungsform erheben könne; „denn anstatt die Vorrechte radikal zu beseitigen, suchen sie denselben für Regierungszwecke bloss andre Namen zu geben und sie auf andre Personen zu übertragen, selbst die in mancher Hinsicht bedeutsame sozialistische Arbeiterpartei nicht ausgenommen, deren Prinzipienwiderstreit unbegreiflich ist, da diese Partei beide extreme Gegensätze, das Vorrecht und zugleich die freie Konkurrenz, als gesellschaftliche Übel bekämpft, ihre Kraft für verschiedene Nebendinge zwecklos vergeudet und dadurch für den Hauptzweck, die Produzenten von dem Druck des Vorrechts und des zinstragenden Kapitals zu befreien, schwächt.“ Diese Anklage gegen die sozialistische Arbeiterpartei, welche vor acht Jahren gegen sie erhoben wurde, gilt auch noch heute.

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 8.)

Anmerkungen

  • Communia ist eine sog. unincorporated community in Clayton County, Iowa, und wurde 1847 von Überlebenden der gescheiterten Siedlung New Helvetia / New Aarau im Osage County, Missouri, gegründet. Die Siedler stammten grösstenteils aus der Schweiz und angrenzenden deutschsprachigen Gebieten. Beide „Utopisten-Kolonien“ gründeten auf frühsozialistischen Idealen und Communia erhielt u. a. Mittel des „Deutschen Arbeiterbunds New York / German Workingmen’s League“. 1864 wurde die Kolonie Communia mit Gerichtsentscheid liquidiert, besteht aber bis heute weiter.
  • Die Geschichte Communias kann man u. a. in einer Publikation der State Historical Society of Iowa nachlesen: Schulz-Behrend, G., (1950) Communia, Iowa, A Nineteenth-Century German-American Utopia, Iowa Journal of History 48(1), 27–54 (PDF).
  • Über den erwähnten Johannes Krieg konnte bis zum heutigen Zeitpunkt nichts gefunden werden, allerdings erwähnt die oben genannte Publikation einen H. Krieg als einen der 14 Shareholder Communias im Jahr 1853 (S. 40). Auch das erwähnte Werk Kampf und Harmonie konnte nicht ausfindig gemacht werden.

Freidenkeriana.

Noch ehe Libertas das Licht der Welt erblickt hatte, erhob der „Freidenker“ seine Warnung gegen die Angekündigte. Er stellte sie als eine Verführerin hin, die gekommen sei, um unschuldige Herzen zu vergiften. Er meinte, sie könne nur Verwirrung in den Köpfen der Menschen anstiften und zu Unheil führen. Deshalb konnte er ihr auch kein günstiges Prognostikon stellen. Die für die bedrohte Unschuld zur Schau getragene Fürsorge war rührend. Als Libertas dann dennoch ihr Erscheinen machte, unterliess es der Freidenker, „sie irgendwie zu begrüssen oder auch nur mit einem Worte zu erwähnen, obwohl es ihm nicht unbekannt war, dass in dem neuen Blatte, was sonst auch seine Mängel sein mochten, das ganze Fühlen und Denken redlich strebender und nicht gerade auf den Kopf gefallener Menschen zum Ausdruck kam. Da gewöhnte ich mich allmählich an den Gedanken, dass sich der Freidenker“ nach dem Beispiel grosser Männer Libertas gegenüber in tiefes Schweigen zu hüllen entschlossen habe, um sie auf diese Weise seine ganze Geringschätzung fühlen zu lassen. Darin habe ich mich aber geirrt. Denn noch ehe Libertas im heissen Kampf der Freiheit sich ihre Sporen verdient hat, widmet ihr der „Freidenker“ plötzlich und ganz unerwartet eine längere Besprechung. Aber was für eine! Ich habe mich darüber zu beklagen, dass er in dieser Besprechung das Goethe’sche Xenion:

Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter,

zu getreulichst befolgt zu haben scheint. Wenigstens sind es hauptsächlich Gespenster, gegen die er zu Felde zieht.

Gleich im Anfang seiner Besprechung vermisst sich der „Freidenker“ zu dem Urteil, dass Libertas „in sehr unklarer und widerspruchsvoller Weise“ für den Anarchismus Propaganda mache. Ein solches Urteil käme nur einem Anarchisten oder doch nur einem Manne zu, welcher die Sache gründlich kennt, die Libertas vertritt. Der „Freidenker“, wie aus seinen Einwänden erhellt, versteht diese Sache nicht und sein Urteil über die Art und Weise, in welcher Libertas dieselbe vertritt, steht denn auch just auf derselben Stufe, wie das Urteil eines Stockkatholiken über die freidenkerische Propaganda des Atheismus. Überhaupt scheint der „Freidenker“ in der Bekämpfung des Anarchismus seine Waffen aus dem Arsenale der kirchlichen Gegner der natürlichen Weltanschauung zu holen. Er bekämpft die Opposition gegen den Staat mit genau denselben Argumenten, mit welchen einst die Dunkelmänner die Opposition gegen die Kirche bekämpften. Darüber braucht man sich übrigens nicht zu verwundern; denn gerade wie der gläubige Christ von der Zerstörung des Gottglaubens die Entfesselung aller bösen Triebe und die Auflösung der menschlichen Gesellschaft befürchtet, so prophezeit der „Freidenker“ von der Abschaffung des Staats das Hereinbrechen eines sozialen Chaos. Ich aber würde mich schämen, wenn ich noch im Banne dieses Aberglaubens stände.

Der Anarchismus, wie ihn der „Freidenker“ allwöchentlich seinen Lesern vorführt, ist allerdings eine Utopie. Nun hat Herr Boppe unstreitig das Recht, allerlei unmögliche Gedankendinge zu schaffen und dieselben zu eigenem Vergnügen wie zum Vergnügen seiner Leser wieder zu zerstören. Ganz unzulässig aber ist es, seine Auffassung des Anarchismus, ein von ihm willkürlich geschaffenes Gedankending, den Anarchisten unterzuschieben und letztere für den von ihm selber zu Tage geförderten Unsinn verantwortlich zu machen. Das ist nicht allein unrecht, das ist auch unehrlich. Wenn es dem „Freidenker“ Spass macht, meine Ansichten als aberwitzig zu charakterisieren, so mag er das immerhin tun; aber ich bestehe darauf, dass er seinen Lesern auch meine wirklichen Ansichten und nicht eine Fälschung derselben darbiete. Noch nicht ein einziges Mal habe ich den Anarchismus von dem Redakteur des „Freidenker“ unparteiisch und leidenschaftslos als Das dargelegt gesehen, als was er von den Anarchisten selber ausgegeben wird. Er verhält sich zu ihm in ähnlicher Weise, wie sich bis vor kurzem die christlichen Pfaffen zur Entwicklungslehre verhalten haben.

Weil er sich willkürlich ein Zerrbild des Anarchismus zurecht pinselt und sich beharrlich weigert, denselben im Sinne seiner intelligenten Bekenner aufzufassen, kann er es nicht verstehen, wie ich einer nach freiem Übereinkommen vereinbarten Organisation zum Schutze des auf der Arbeit begründeten Eigentums das Wort reden könne, während ich doch den Staat verwerfe. Darin erblickt er einen Widerspruch. Das kann er aber nur tun, indem er „Staat“ und „freiwillige Organisation“ in einen Topf wirft. Ich weiss nicht, was ich von dem Unterscheidungsvermögen eines Mannes halten soll, dem der zwischen den angeführten Kategorien obwaltende wesentliche Unterschied nicht sofort in die Augen springt. Zum tausendsten Mal, der Anarchismus schliesst die freiwillige Organisation zur Sicherung aller im Gebiet der wahren Freiheit liegenden Zwecke nicht aus. Was in aller Welt sollte Menschen, welche sich zu dem auf der Arbeit begründeten Eigentum wie zu der vollkommenen, gleichen Freiheit bekennen, verhindern, sich zu Schutz und Trutz freiwillig zu organisieren? Eine solche freiwillige Organisation ist aber nicht gleichbedeutend mit Staat. Der Staat, der historische Staat, beruht nicht auf einem Vertrag, wie einige Philosophen lehren, zumal nicht auf einem freiwilligen Vertrag. Er schliesst vielmehr jeden Gedanken der Freiwilligkeit aus und stützt sich auf die pure, nackte Gewalt. Der Staat verneint das auf der Arbeit begründete Eigentum – kennt der „Freidenker“ anderes Eigentum an? – wie die vollkommene, gleiche Freiheit der Individuen, indem er mittels Gewalt und Willkür in der Form von Bodenrente, Kapitalzins und Profit das Fremdentum schafft. Der Staat ist also das direkte Gegenteil der anarchistischen, freiwilligen Organisation. Wie unstatthaft, daher, letztere mit dem Staat zu identifizieren! Ich wenigstens fühle mich unter einem logischen Zwang, zwischen einer freiwilligen Organisation zur Sicherung und Förderung bestimmter vernünftiger und gerechter Zwecke und dem Staat zu unterscheiden, gerade wie ich auch zwischen einer freien Gemeinde und einer katholischen Kirchengesellschaft zur Zeit der Innocense unterscheide.

Nach dieser Ausführung dürfte es dem „Freidenker“ auch einleuchten, dass der Anarchismus nicht eine Rückkehr zur Natur im Sinne Rousseaus anstrebt, wie er in letzter Zeit wiederholt behauptete. Die Haltlosigkeit des Rousseau’schen Standpunktes ist wohl von niemand schärfer betont worden, als von Proudhon, dem eigentlichen Begründer des Anarchismus. Wie der „Freidenker“ das Märchen vom Urzustand als das Ideal des Anarchismus darstellen konnte, ist eins von den Dingen, die kein Mensch erklären kann.

Ferner, „wenn die Redakteure der Libertas zeitweilig die Diktatur ausüben könnten, so wären sie unfähig, Gesellschaftszustände zu schaffen und zu erhalten, die nicht aus der Volksinitiative hervorgegangen wären.“ Das hält der „Freidenker“ uns vor! Haben wir denn das je geleugnet und geht es auch nur aus einem unsrer Worte hervor, als ob wir uns etwas von der Ausübung einer Diktatur versprächen? Was sich Herr Boppe eigentlich unter Anarchismus vorstellen mag!? Der Anarchismus trägt sich ja nicht mit der Idee, irgendein Gesellschaftszustand dem Volke aufzuzwingen; was er verlangt, ist einfach die Wegräumung der gesetzlichen Hindernisse, welche die freie Entwicklung eines bessern Gesellschaftszustandes als der heutige unmöglich machen. Diese gesetzlichen Hindernisse, deren Beseitigung er anstrebt, sind die die Ausbeutung der Arbeit zur Folge habenden Privilegien und Monopole, der Staat. Er verlangt die Abschaffung dieser Hindernisse, damit die Entwicklung in der Richtung eines höheren Gesellschaftszustandes um so rascher vor sich gehen könne. Dieser Entwicklungsprozess wird voraussichtlich auch unter den veränderten und günstigeren Bedingungen langsam genug vor sich gehen, aber wir setzen unser Vertrauen auf allen Fortschritt ausschliesslich in die natürlichen Agentien der Freiheit und es ist uns noch nie auch nur im Traume eingefallen, der Volksinitiative vorzugreifen. Das ist vielmehr eine Sünde, die dem „Freidenker“ selber anhaftet. Er setzt kein Vertrauen in den langsamen, im Zustande der Freiheit vor sich gehenden und ausschliesslich durch die tausendfachen Agentien der Privatinitiative zu fördernden Fortschritt; er verlangt, dass der Staat sich quasi in eine Moralbehörde umwandle und dem Fortschritt durch Gewalt Vorschub leiste. Im Interesse von Freiheit, Bildung und Wohlstand für alle würde er mich zwingen, öffentliche Schulen, Museen, Bibliotheken, Theater und wer weiss was nicht alles erhalten zu helfen. Und dabei erhebt er gegen die Anarchisten den Vorwurf, der Volksinitiative vorgreifen zu wollen, – gegen die Anarchisten, welche einzig und allein die erzwungene Tributpflichtigkeit der Arbeit zu Gunsten der privilegierten Klassen bekämpfen, für die tausendgestaltige Privatinitiative freies Feld fordern und allen Zwang über die Grenze der Sicherung des auf der Arbeit begründeten Eigentums wie der gleichen Freiheit aller hinaus und im Interesse auch der sonst an und für sich gerechtfertigtsten Zwecke strengstens verurteilen!

Ich eile zum Schluss. Aber es ist noch ein Punkt in der Besprechung, welche der „Freidenker“ Libertas zuteilwerden lässt, der meine Richtigstellung herausfordert. Hätte irgendein anderer Mensch meine Auslassungen über Stimmzettel und Dynamit in Nummer 3 dieses Blattes in der Weise des „Freidenker“ kommentiert, so würde ich zum mindesten einen gelinden Zweifel in seine intellektuelle und moralische Integrität setzen müssen. Wie konnte Herr Boppe nach Durchlesen jenes Artikels die Behauptung übers Land verbreiten, dass ich für Dynamit sei, nicht allein, um einen Willkürherrscher zu stürzen oder um Press-, Rede- und Agitationsfreiheit herzustellen, sondern auch um „schliesslich doch gewiss jenes anarchistische Freiheitsideal zu sichern, welches dem Einzelnen schrankenlose Freiheit insofern wenigstens sichert, dass sein Tun und Lassen keinem Zwang irgendwelcher Art, auch nicht solchem, wie ihn jede Organisation zur Erreichung oder Sicherung gewisser Zwecke in Form von zum voraus bindenden Verpflichtungen voraussetzt, unterworfen ist“, etc. Wie konnte sich der „Freidenker“ zu einer solchen Verdrehung und Fälschung meines Standpunkts herbeilassen? Hatte ich nicht die Grenzen genau angegeben, innerhalb welcher ich die Anwendung des Dynamits rechtfertigte, und hatte ich nicht ausdrücklich betont, dass das Wesen des Anarchismus, sofern es sich um den positiven Teil desselben handle, alles Operieren mit Gewaltmitteln ausschliesse? Hatte ich es nicht klargemacht, dass die Verwirklichung des anarchistischen Ideals ausschliesslich der friedlichen Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens im Zustande der Freiheit überlassen werden müsse? Nach dem „Freidenker“ verpönt Libertas den Stimmzettel, weil er „eine verabscheuungswerte staatliche Erfindung“ sei und die „vorerstige“ Anwendung des Dynamits aus Humanitätsgefühl. Ist das der Wahrheit gemäss? Hatte ich nicht andere, und zwar bessere Gründe für unsere Verwerfung dieser Dinge angegeben? Hatte ich nicht unsere Verwerfung von Dynamit wie Stimmzettel auf die Tatsache gegründet, dass diese Dinge an und für sich die Herausbildung des Ideals der Freiheit nicht zu fördern vermögen, aus inneren Gründen nicht, weil die gesellschaftliche Entwicklung wesentlich andere Agentien bedinge?

Doch hier muss ich abbrechen. Vorläufig spreche ich dem „Freidenker“ das Recht ab, eine Sache zu definieren und auszulegen, ehe er sie verstehen gelernt hat, und ich gebe mich der Hoffnung hin, dass, wenn er sich das nächste Mal mit Libertas befasst, er ihrem Streben ein grösseres Verständnis entgegenbringen möge.

G.S.

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 5 und 8.)

Anmerkungen

  • Zu Herrn Boppe und dem „Freidenker“ vgl. die Anmerkungen hier.
  • Xenien (griechisch), ursprünglich „Gastgeschenke“, nannte der römische Dichter Martial (1. Jahrhundert n. Chr.) das 13. Buch seiner Epigramme, die als Begleitverse zu Geschenken gedacht waren. Goethe übernahm diesen Titel im ironischen Sinne für Distichen, die er gemeinsam mit Schiller verfasst hatte. Die Xenien erschienen in Schillers Musenalmanach auf das Jahr 1797. Die Manuskriptabschrift mit insgesamt 676 Xenien ist noch heute erhalten.

Revolutionäre Schauspiele.

Das waren tiefe und wertvolle Betrachtungen, die Colonel Ingersoll neulich im „Truth Seeker“ und einer andern New Yorker Zeitung bezüglich der respektiven Nützlichkeit der Kirche und der Bühne für die Zivilisation anstellte. Wer das Drama am meisten liebt, hasst die Kirche, und wer um den Ruhm und die Sicherheit der Kirche am meisten besorgt ist, muss in dem Drama deren gefährlichsten und erfolgreichsten Rivalen erkennen. Einem Dichter wird es nachgesagt, dass er die Bemerkung gemacht habe, wenn es ihm gestattet sei, des Volkes Lieder zu schreiben, es ihm gleichgültig sei, wer es regiere und kontrolliere. So können wir sagen, gebt uns eine freie, unabhängige Bühne, und wir werden uns fürderhin nicht mehr um die Kanzel bekümmern. Aber unglücklicherweise ist sogar das Theater durch habsüchtige Moralisten und heuchlerische Puristen in eine Schule zur Pflege des Aberglaubens und der Unwissenheit umgewandelt worden. „Wilhelm Tell“ ist von der deutschen Bühne verbannt, „Germinal“ von der französischen, und „Ostler Jo“ kann nicht von einer Dame in der fashionablen Gesellschaft von Washington vorgetragen werden, ohne ihr das zornige Missvergnügen des Pöbels der respektablen Narren und Humbuger zuzuziehen. Die Bourgeoisie hat dem Theater sogar ein demütigender Kompromiss mit den kriechenden Kreaturen der orthodoxen Kanzel aufgezwungen, sodass heutzutage mit Ausnahme einiger sehr wenigen Schauspiele die Lehren der Bühne nicht heilsamer und nicht vernünftiger sind, als die Predigten solcher Hanswurste wie Talmage, Dix, Jones oder Small.

Um so wertvoller sind die Ausnahmen. Ich möchte die Aufmerksamkeit von Radikalen und von Personen mit fortschrittlichen Ideen und Sympathien auf einige derselben lenken.

Kein Egoist sollte es versäumen, Gilbert und Sullivans komische Oper, „The Pirates of Penzance“, zu sehen. Die Schönheit der Pflicht und die Heiligkeit des gegebenen Worts bilden die „Moral“ dieses reizenden Stückes. Und Revolutionäre sollten meilenweit gehen, um die Gelegenheit wahrzunehmen, „The Queen’s Favorite“ zu sehen. Es ist eine herrliche und vorzügliche Satire der Farce der parlamentarischen Agitation, der Politik, der Diplomatie und der Regierungsgeschäfte im Allgemeinen. Ein solches Schauspiel ist so viel wert, wie zehn Bände über Zivildienstreform, Steuerreform, Mietkasernenreform oder politische Verbesserungen. Ich kann mich hier nicht auf eine gründlichere Besprechung einlassen, aber ich kann den Lesern von Libertas die Versicherung geben, dass, wenn sie das Schauspiel einmal gesehen haben, die Erinnerung an dasselbe ihnen stets eine tiefe Befriedigung und lebhaften Genuss bereiten wird.

„Henrietta“, eine besonders für Robson und Crane geschriebene Komödie (von Ingersoll enthusiastisch bewundert), welche dieselbe mit absoluter Vollendung spielen, ist geradezu erstaunlich in ihrer kühnen, schonungslosen Verurteilung des Hazardspiels, der Spekulation, der Unehrlichkeit und Unsittlichkeit des modernen Geschäftslebens. Man wundert sich, wie es auch nur eine einzige Nacht von den Baumwollenkönigen, den Kohlenbaronen, den Napoleons der Wall Street, den Eisenbahnmagnaten und all den herrschenden Mächten in der Handelswelt geduldet wird. Dass es geduldet wird, dazu sollten sich alle Freunde des Fortschritts Glück wünschen. Man kann sich keine bessere Satire auf die New Yorker Gesellschaft mit ihren fashionablen Kirchen, Protzenklubs und Geschäftsverhandlungen denken. „Henrietta“ wird mehr Gutes tun, als all das Pathos und die Beredsamkeit, womit die Adler der ethischen Bewegungen die Geschäftsleute beschwören, ihre Handlungen zu moralisieren.

„Henrietta“ und „The Queen’s Favorite“ sind keine unbedeutenden Faktoren in der Revolution, welche alle Dinge neu gestaltet, und aus Anerkennung ihres Einflusses und Wertes sollten sie sogar „nach der Revolution“ erhalten und geschätzt werden. Wenn einst die Kirche begraben und vergessen und die politische Maschine aus der Welt gefegt sein wird, werden sich die Menschen der freien Gesellschaft noch immer an diesen beiden Stücken ergötzen. Vive la Révolution Sociale!

V. YARROS.

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 5.)

Anmerkungen

  • Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
  • Der erwähnte „The Truth Seeker“ ist eine seit 1873 erscheinende Zeitschrift der Freidenker-Bewegung, für den damals u. a. auch der Freidenker Robert Green Ingersoll (1833–1899) schrieb.
  • Bei den im Text erwähnten Werken handelt es sich um Wilhelm Tell von Schiller, Germinal von Zola, Die Piraten von Penzance von Gilbert und Sullivan und The Henrietta von Bronson Howard (1842–1908). Ostler Jo und The Queen's Favorite konnten bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht identifiziert werden.
  • Stuart Robson (1836–1903) und William H. Crane (1845–1928) waren damals für ihre gemeinsamen Auftritte v.a. in Shakespeare-Dramen bekannte Schauspieler.
  • „Talmage, Dix, Jones oder Small“: James Edward Talmage (1862–1933) war ein führender Mormone; Morgan Dix (1827–1908) ein bekannter religiöser Autor; beim erwähnten Jones handelt es sich vermutlich um Jenkin Lloyd Jones (1843–1918), ein unitarischer Theologe und Missionar; Small lässt sich nicht eindeutig zuordnen.

Wiederholte Vermeidung der Kernfrage.

Wie ich erwartet hatte, sträubt sich Herr Most in seiner Kontroverse mit mir über Privateigentum, Kommunismus und Staat noch so sehr wie je, auf den Kernpunkt der Sache einzugehen und den Versuch zu machen, meinen eigentlichen Standpunkt zu untergraben, und als einzige Antwort auf meine Herausforderung, das zu tun, versteckt er sich hinter dem Namen von Marx, nicht einmal auf eigene Rechnung den Gebrauch der Waffen wagend, mit denen letzterer jenen Standpunkt angriff. Herr Most hatte versprochen, sich zu Gunsten des Privateigentums zu erklären, wenn ich ihm beweisen werde, dass dasselbe mit Grossbetrieb ohne Ausbeutung der Arbeit vereinbar sei. Er hatte mich allerdings gewarnt, ihn zu diesem Zweck nicht auf Proudhons Banksystem zu verweisen. Aber ich erwiderte, dass er verpflichtet sei, meine Proposition aufgrund irgendeines Beweises, den ich vorbringen würde, zu akzeptieren oder aber die Hinfälligkeit meines Beweises zu demonstrieren, mit anderen Worten, dass er meine Beweisführung nicht zurückweisen könne, ohne sie vorher zu widerlegen. Dann sagte ich ihm, dass meine Beweisgründe genau in jenem Prinzip der Freiheit und der Organisation des Kredits beständen, welches in Proudhons Banksystem oder anderen Systemen ähnlicher Natur zum Ausdruck gelange, und ich verwies ihn auf eine unlängst veröffentlichte Abhandlung, in welcher ich den Prozess auseinandersetzte, durch welchen der frei organisierte Kredit den Wucher – d. h. die Ausbeutung der Arbeit – abschaffen und den Grossbetrieb mehr als je erleichtern würde, ohne das Privateigentum anzutasten.

Nun sollte man doch annehmen, dass in der hierauf erfolgten Antwort der angedeutete Prozess einer Prüfung unterworfen und der Fehler in demselben aufgedeckt werde. Aber hat sich Herr Most diese Mühe genommen? Nicht er. Seine einzige Antwort ist, dass er Proudhons Banksystem seit Marx für abgetan halte, dass dasselbe fünfzig Jahre hinter unsrer Zeit liege, und dass es durchaus nicht einleuchtend sei, dass die Behauptung irgendetwas für sich habe, dass unter den heutigen Vermögensungleichheiten ein jeder kreditfähig werden könne. Nein, Herr Most, und es ist auch durchaus nicht einleuchtend, dass je eine solche Behauptung von irgendeinem vernünftigen Verfechter der Organisation des Kredits aufgestellt worden ist. Die eigentliche Behauptung ist nicht, dass mit der Abschaffung der Monopolisierung des Kredits jedermann sogleich kreditfähig werden würde, sondern dass, wenn aller oder die Hälfte oder ein Viertel des Kredits, der unter einem freien System auf der Stelle disponibel wäre, zur Nutzanwendung gelangte, der Produktion und dem Unternehmen ein grosser Vorschub gegeben würde, welcher allmählich die Nachfrage nach Arbeit vervielfältigen und folglich den Arbeitslohn erhöhen und in letzter Folge die Zahl kreditfähiger Leute derartig vergrössern würde, bis schliesslich jeder Arbeiter imstande wäre, seinem Arbeitgeber zu erklären: „Sehen Sie, Boss, Sie sind ein guter Geschäftsführer und ich bin willens, unter ihrer Leitung auf einer streng rechtlichen Basis weiterzuarbeiten; aber sofern Sie sich nicht mit einem Ihrer Arbeitsleistung entsprechenden Anteil an unserm gemeinschaftlichen Produkt zufriedengeben und mir den Rest für meine Arbeitsleistung überlassen, werde ich nicht länger für Sie arbeiten, sondern ein eigenes Geschäft eröffnen mit dem Kapital, das ich jetzt auf meinen Kredit hin erlangen kann.“ Herrn Mosts Verdrehung der Behauptungen der Freunde des Freibankwesens zeigt, dass er deren Argumente oder System nicht kennt, was vielleicht auch seine Unwilligkeit erklärt, denselben anderswie zu begegnen, als durch ewige Wiederholungen des Zaubernamens Marx. Proudhons Banksystem mag fünfzig Jahre hinter der Zeit zurück sein, aber es liegt offenbar weit vor dem Punkt voraus, den Herr Most auf dem Pfade seiner ökonomischen Untersuchungen erreicht hat.

Selbst noch mehr auf der Hut ist der vorsichtige Redakteur der „Freiheit“ bei der Umgehung der folgenden Frage, die ich à propos seines Versprechens an ihn stellte: „Wenn der Kommunismus, wie Herr Most gewöhnlich behauptet, der Freiheit wirklich keinen Abbruch tut und an und für sich solch eine gute und vollkommene Sache ist, warum ihn dann fallen lassen zu Gunsten des Privateigentums, einfach weil die Möglichkeit nachgewiesen ist, dass letzteres nicht notwendigerweise die Ausbeutung der Arbeit bedinge? Sich bereit erklären, dies zu tun, heisst offenbar das Zugeständnis machen, dass, abgesehen von der Ausbeutung, das Privateigentum dem Kommunismus vorzuziehen ist und dass, unter Voraussetzung der Ausbeutung, der Kommunismus nur als das kleinere Übel gewählt wird.“ Herr Most wusste, dass er nimmermehr zugestehen dürfe, dass der Kommunismus die Freiheit beschränke. Doch konnte er die Frage nicht beantworten, ohne dies Zugeständnis zu machen. So liess er sie denn wohlweislich unberücksichtigt.

Aber was sagt er denn in seinem drei Spalten langen Artikel?

Nun, um einen Punkt zu erwähnen, versucht er, seine Leser glauben zu machen, dass ich meine mehr suggestiven als konklusiven Bemerkungen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, dass der kommunistische Standpunkt, gegründet wie er ist auf der Voraussetzung der Notwendigkeit grosser Kombinationen zwecks Grossbetriebs, bald untergraben werden möchte infolge der neuerdings sich kundgebenden Tendenz nach Vereinfachung und Wohlfeilmachung der Maschinen – ich sage, er versucht seine Leser glauben zu machen, dass ich diese Bemerkungen als ein wesentliches Glied in der Kette meiner Argumentation anführte. „Aufgrund solcher Einbildungen“, bemerkt er, „sollen wir uns überzeugen lassen, dass der privat-kapitalistische Anarchismus dem anarchistischen Kommunismus vorzuziehen sei“, ohne auch nur mit einem Worte meine ausdrückliche Erklärung zu beherzigen, dass ich die Idee auswarf, wofür sie wert war und sie als für meinen Standpunkt nicht wesentlich bezeichnete.

Nichtsdestoweniger ist es nicht leicht einzusehen, warum er diese Idee als so gänzlich chimärisch betrachten solle, da ihm doch bei dem Versuch, den Kommunismus als praktisch ausführbar hinzustellen, die Voraussetzung so leicht wird, dass die Zeit nicht mehr ferne sei, wo es einen solchen Überfluss an Produkten geben wird, dass die Individuen nicht mehr daran denken werden, sich über den Besitz derselben herumzustreiten, sondern wie Vögel im Hanfsamen leben werden. Von den beiden Hypothesen erscheint mir die letztere als die fantastischere. Gewiss werden noch grosse Fortschritte in der Richtung der Arbeitsersparung gemacht werden, und ich bezweifle nicht im Geringsten, dass bei einer besseren Gesellschaftseinrichtung jeder gesunde Mensch dereinst imstande sein wird, sich eine komfortable Existenz mittels sehr weniger Stunden Arbeit täglich zu erringen. Aber dass je ein solches Verhältnis zwischen menschlicher Arbeit und den Gegenständen menschlichen Verbrauchs obwalten wird, wie es jetzt zwischen Vogelarbeit und Hanfsamen besteht, oder dass Grund und Boden und anderes Kapital je in solchem Überfluss vorhanden sein werden, wie das bei Wasser, Luft und Licht der Fall ist, kann nicht zugegeben werden.

Sollten jedoch die Mittel zum Leben je so gänzlich ausser Beziehung mit menschlicher Arbeit geraten, dass alle Menschen sich zum gesamten Reichtum etwa in ähnlicher Weise verhalten werden, wie sie sich heutzutage zur Luft verhalten, dann werde ich zugeben, dass, soweit der materielle Genuss in Betracht kommt, der Kommunismus praktisch ausführbar (ich sage nicht, ratsam) sein wird, ohne Gefahr für die Freiheit. Bis dahin aber, darauf muss ich bestehen, wird seine Verwirklichung und Aufrechterhaltung einen Staat bedingen.

Doch, fragt mich Herr Most, wenn die Respektierung des Privateigentums denkbar ist ohne den Staat, warum ist dann der Kommunismus nicht ebenso denkbar? Einfach, weil die einzige Gewalt, die je nötig sein wird, um die Respektierung des Privateigentums zu sichern, die Gewalt der Defensive ist, die Gewalt, welche den Arbeiter im Besitze seines Erwerbs oder im freien Austausch desselben schützt, während die Gewalt, welche die Sicherung des Kommunismus benötigt, die Gewalt der Offensive ist, die Gewalt, welche den Arbeiter zwingt, seine Produkte mit den Produkten Aller zusammenzuwerfen und ihm verbietet, seine Arbeit wie seine Produkte zu verkaufen. Nun ist aber die Gewalt der Offensive das Prinzip des Staates, während die Gewalt der Defensive eine Seite des Prinzips der Freiheit ist. Das ist die Erklärung, warum das Privateigentum nicht einen Staat bedingt, während der Kommunismus ohne denselben unmöglich ist. Herr Most scheint von dem wirklichen Wesen des Staates so wenig zu verstehen wie von Proudhons Banksystem. Er bekundet sich in seiner Opposition gegen den Staat nicht als ein intelligenter Bekämpfer der Autorität, sondern einfach als ein Rebell gegen die bestehenden Gewalten.

Aber wozu sich überhaupt mit ihm in eine Kontroverse einlassen? Gesteht er nicht gleich im Anfang des Artikels, den ich hier bespreche, zu, dass er sich vergeblich „an den Kopf gefasst“ habe, dass sein Gehirn sich weigere, meine Unterscheidung zwischen dem individuellen Besitz seines Erwerbs seitens des Arbeiters einerseits und der Summe der gesetzlichen, den Inhabern des Reichtums gewährten Privilegien anderseits zu fassen? Ist da noch Hoffnung, dass solch ein Geist je ein ökonomisches Gesetz fassen wird? Der Grund, den er für seine Unfähigkeit, diese Unterscheidung zu erkennen, anführt, liegt in seiner Überzeugung, dass Privatbesitz und Privilegium untrennbar seien. Je mehr die Einen ihr Eigen nennen, sagt er, desto weniger können Andere imstande sein, zu besitzen. Das ist nicht der Fall, wo alles Eigentum sich auf die Arbeit gründet, und ich begünstige kein anderes Eigentum. Das gilt nur von dem auf wucherbasierten Eigentum. Aber der Wucher, wie bereits gezeigt wurde, beruht auf dem Privilegium. Wenn das Eigentum des Einen durch die verstärkte Produktivität seiner Arbeit anwächst, wächst auch das Eigentum Anderer, statt sich zu verringern, in nahezu demselben Grade. Dieses Jahr produziert A 100 an Hüten und B 100 an Schuhen. Jeder verbraucht 50 seines eigenen Produkts und tauscht die übrigen 50 aus gegen die übrigen 50 des Andern. Gesetzt nun, A’s Produktion bleibe sich für das nächste Jahr gleich, während diejenige B’s, ohne Extraarbeit, auf 200 steige. In diesem Falle werden A’s übrige 50, statt wie in diesem Jahr gegen B’s übrige 50 aufzugehen, gegen 100 von B’s Produkt aufgehen. Unter dem Privatbesitztum und in Abwesenheit des Wuchers bedeutet ein Mehr für den Einen nicht ein Weniger für den Andern, sondern ein Mehr für alle. Wo bleibt da das Privilegium?

Aber es kümmert Herrn Most eigentlich wenig, wie ein Mensch in ökonomischen Angelegenheiten denkt. Ihm ist jeder ein Bundesgenosse, der im Dynamit das Universalheilmittel erblickt. Wenn ich auch beweisen sollte, dass die Verwirklichung meiner ökonomischen Ansichten unser Gesellschaftssystem auf den Kopf stellen würde, er würde mich dennoch nicht als ein Revolutionär ansehen. Er erklärt rundweg, ich sei kein Revolutionär, weil ich bei dem Gedanken an die kommende Revolution (mittels Dynamit, meint er) eine Gänsehaut bekomme. Nun, ich gestehe freimütig, dass ich an dem Gedanken an Blutvergiessen, Verstümmelung und Tod keinen Gefallen finde. Meine Gefühle empören sich bei dem Gedanken an diese Dinge. Und wenn der Gefallen daran das Erfordernis eines Revolutionärs ist, dann bin ich kein Revolutionär. Wenn Revolutionär ein Synonym für Kannibale wird, dann schliessen Sie mich gefälligst aus. Aber obgleich sich meine Gefühle empören, so stehe ich doch nicht unter ihrer Herrschaft und gestatte ihnen nicht, mich zu einem Feigling zu machen. Mehr als vor Dynamit und Blut schrecke ich vor dem Gedanken eines permanenten Gesellschaftssystems zurück, welches das langsame Sterben und Verderben der fleissigsten und verdienstlichsten seiner Mitglieder zur Notwendigkeit macht. Sollte ich je überzeugt werden, dass eine Politik des Terrorismus befolgt werden müsse, um unser heutiges Gesellschaftssystem zu stürzen, so würden die lautesten Schreier nach Blut unserer Tage mich nicht in dem Stoizismus übertreffen, mit welchem ich dem Unvermeidlichen entgegensehen würde? In der Tat, konsequent bis ans Ende, habe ich die Überzeugung, dass unter solchen Umständen manche, die mich heute für hasenherzig halten, die Steinherzigkeit verurteilen würden, mit welcher ich jedes Gefühl des Mitleids den Forderungen des Terrorismus opfern würde. Es ist also weder Furcht noch Sentimentalität, was mich zur Opposition gegen die Anwendung der Gewalt bestimmt. Wie stupid, wie ungerecht daher von Herrn Most, mich als vor der sozialen Revolution drei Kreuze schlagend hinzustellen, einfach weil ich beharrlich gemäss meiner wohlbekannten Überzeugung handle, dass die Gewalt in der Volkswirtschaft die Wahrheit nicht an die Stelle der Lüge zu setzen vermag.

T.

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 4–5.)

Anmerkung

Tucker führt hier seine Diskussion mit Johann Most fort, welche in der Libertas 2 begann.

Staat und Gesellschaft.

„Sie da, hören Sie mal! Sie haben neulich gesagt, dass wir keinen Staat brauchten; na, das würde mal ’ne schöne Wirtschaft geben! Wenn nur eine ganz kleine Gesellschaft gemeinsam etwas beraten und ausführen will, so muss schon ein Präsident und müssen Beamte gewählt werden.“

Obige Worte wurden mir vor einiger Zeit flüchtig im Vorübergehen von einer weisen Frau zugeraunt. Ort, Zeit und Umgebung waren ungünstig für eine Diskussion; denn wir befanden uns an der Ausgangstür eines Saales; das Gedränge daselbst war ziemlich stark, da ein über Erwarten lang gewordener Vortrag überstanden und der hungrige Magen in Vorgeschmack des zu Hause harrenden Mittagsmahles zur Eile antrieb.

Was kann man unter solchen Umständen erwidern! Die Sprecherin schien auch auf eine Erwiderung gar nicht zu rechnen; denn als sie ihr geflügeltes Wort von sich gegeben, stürzte sie sich ins dichteste Gedränge. Ich hätte ihr nachrufen mögen: „Warum so eilig, Madam? Sie haben soeben ein grosses Wort ausgesprochen, welches sehr zu Gunsten der anarchistischen Lehren spricht. Diese Frage kann man nicht so kurz übers Knie brechen; ich kann Ihnen zeigen, dass Sie nicht gegen, wohl aber für den Anarchismus gesprochen haben.“

Ich musste diesmal aber meine Einwendungen für mich behalten; die Dame war bald im Gedränge verschwunden, und nur flüchtig konnte ich von ihrem triumphierenden Gesichte die Worte ablesen: „Von diesem Stoss erholt er sich nicht wieder!“

Ich habe obige Geschichte so ausführlich erzählt, weil sie charakteristisch ist für die Art und Weise, in der man gewöhnlich den Anarchismus abzutun versucht. Ein bis zwei stehende Redensarten, so ganz beiläufig hingeworfen, scheinen Jedem zu genügen, um die Haltlosigkeit der ganzen Lehre zu beweisen. Wozu sich auch erst auf einen Angriff vorbereiten! Wozu erst einen ordentlichen Anlauf nehmen, wenn es sich um einen so schwindsüchtigen Feind wie den Anarchismus handelt! Eine leise Berührung mit dem kleinen Finger muss ja die ganze Jammergestalt sofort über den Haufen werfen!

Es ist eigentlich zum Rasendwerden, dass man sich von den Menschen für so dumm ansehen lassen muss! Auch ist wenig Aussicht vorhanden, an dieser Sachlage etwas zu ändern; denn so oft und so gründlich man auch die alten, fadenscheinigen und abgetragenen Argumente gegen den Anarchismus widerlegen mag, immer werden sie einem mit der liebenswürdigsten Unverfrorenheit wieder unter die Nase gehalten.

Soeben kommt mir der „Freidenker“ vom 13. Mai zu Gesicht, und da sehe ich, dass Herr Boppe in einem Artikel: „Mensch und Staat“, auch wieder die alten, bekannten Beschwörungsformeln gegen den Anarchismus der Reihe nach aufmarschieren lässt. Ich muss beim Durchlesen des Schriftstückes unwillkürlich an den Kapuziner aus „Wallensteins Lager“ denken. Welche mögen wohl die Kroaten sein, die Herrn Boppe (drohend oder ermutigend?) die Worte zuflüstern:

Bleib da, Pfäfflein, fürcht dich nit; Sag dein Sprüchel und teils uns mit!

Die alte Geschichte vom „Urzustand“ will ich diesmal nicht auf Herrn Boppes Konto schreiben; denn die erzählt er augenscheinlich nur, weil die Kroaten sie durchaus hören wollen. Herr Boppe blamiert sich eigentlich durch diese Geschichte; denn er sagt weiterhin selbst, dass die Anarchisten dem „Staate“ eine „Gesellschaft“ substituieren wollen. Der letzte Teil des Artikels lässt übrigens für mich keinen Zweifel mehr darüber, dass Herr Boppe die Idee des Anarchismus ganz gut erfasst hat; ob es nun aber sein Eigendünkel ist, oder ob ihn die bösen Kroaten dazu zwingen, das Ding um jeden Preis anders zu nennen, das vermag ich nicht zu sagen. Weitere Belehrung würde ihm gegen diese beiden Vorgesetzten – Eigendünkel und Kroaten – nichts helfen können: Es ist Herr Boppes eigene Gewissenssache, ob er seiner bessern Einsicht oder seinen Vorgesetzten folgen will.

Es gibt aber noch andere Menschen, welche auch viel Albernes über den Anarchismus denken und sagen, aber nur, weil sie es nicht besser verstehen und weil sie sich zu sehr nach grossen Männern, wie Herr Boppe einer ist, zu richten pflegen; sie sind ehrlich, wie Herr Boppe auch, aber ausserdem lassen sie sich weder durch Eigendünkel noch durch Rücksicht auf Kroaten bestimmen, ihre bessere Erkenntnis einem früher verteidigten Irrtum preiszugeben. Solche Menschen habe ich im Auge, wenn ich es in dem Nachfolgenden unternehme, die Quelle aller gegenseitigen Missverständnisse zwischen Anarchisten und ehrlichen, denkenden Nicht-Anarchisten aufzudecken. Diese Quelle liegt in der Verwechslung zwischen Gesellschaft und Staat. Wenn einmal über diese beiden Begriffe die nötige Klarheit geschaffen sein wird, dann fallen die nichtigen Einwände gegen den Anarchismus in sich selbst zusammen. Wenn man erst begriffen haben wird, dass mit der Abschaffung des Staates nicht die Auflösung der Gesellschaft gemeint sein kann, wenn man zu der Einsicht gelangt sein wird, dass das Gute, welches die Menschen durch gemeinsame Anstrengung erreicht haben, nicht dem Staate, sondern der Gesellschaft zu verdanken ist, dann werden endlich auch dem modernen Don Quijote, welcher den „Riesen“ Anarchismus bekämpft, die Augen darüber aufgehen, dass sein „Rozinante“ ein alter Klepper und sein „Helm des Mambrinus“ ein blechernes Barbierbecken ist.

Der Anarchismus bekämpft nicht die Gesellschaft, sondern den Staat; der Anarchismus lehrt, dass Staat und Gesellschaft voneinander getrennt werden können; dass die Fortschritte in der Zivilisation nicht dem Staate, sondern der Gesellschaft zu verdanken sind; dass der menschliche Fortschritt mit einem Rückschritt des Staates, und umgekehrt ein Rückschritt der menschlichen Gesellschaft mit einem Umsichgreifen des Staates immer Hand in Hand gegangen sind und noch gehen. Der Anarchismus ignoriert nicht, wie seine Gegner, die Tatsache, dass der Staat gewissen unabweisbaren Erfordernissen des Fortschritts nur den Weg der gewaltsamen Revolution offen lässt und dann nach verhältnismässig grossen Opfern nur einen kleinen Gewinn übrig lässt.

Der Anarchismus erkennt eine natürliche Gleichberechtigung aller Menschen an, er kann sich für keine Zivilisation begeistern, welche einer künstlichen Ungleichmässigkeit der Menschenrechte Vorschub leistet; gleichzeitig aber vertritt er die Überzeugung, dass eine Gesellschaft, je mehr sie den Staat ganz abgestreift hat, eine umso natürlichere Grundlage eines ungehemmten, das Wohl aller gleichmässig fördernden, keiner gewaltsamen Revolution bedürfenden Fortschritts sein muss.

Das ist nun alles recht schön gesagt, aber verstanden wird es so ohne Weiteres noch nicht, zumal es so Viele nicht verstehen wollen. Die Frage bleibt noch offen: „Wo hört die Gesellschaft auf, wo fängt der Staat an, und umgekehrt?“ Die meisten Menschen sehen die Gesellschaft schon in die Grenzen des Staates übergehen, sobald dieselbe irgendwelche Form der Organisation annimmt. Diese sind mit dem Anarchismus bald fertig; denn ausserhalb des Staates können sie nun Herrn Boppes „Urzustand“ erblicken; wollen die Anarchisten diesen nicht, so können sie nur den Staat wollen, also ist „Abschaffung des Staats“ Phrase.

Wir stehen somit noch vor dem Problem, die Grenze anzugeben, welche eine organisierte, zivilisierte Gesellschaft nicht überschreiten darf, ohne dem Staat in die Klauen zu fallen; die Kenntnis dieser Grenze ist nötig, wenn man den Staat abschaffen will, ohne die Gesellschaft zu zerstören. Ich gebe zu, dass für die Meisten eine solche Grenze nicht sichtbar ist, da für sie Staat und Gesellschaft ineinanderfliessen; auf Grund dieses eignen Unvermögens aber gleich die Gegner unpraktische Schwärmer, Fantasten u. dgl. zu nennen, wie das heutzutage bei manchem Gebrauch ist, ist eines gebildeten Mannes nicht würdig. Dass ein Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft existiert, hat schon vor hundert Jahren Thomas Paine gesagt, und Thomas Paine pflegte sich bei dem, was er sagte, auch immer etwas zu denken. Seine darauf bezüglichen Worte lauten ungefähr so: „Viele Menschen haben Gesellschaft und Staat derartig miteinander verwechselt, dass sie wenig oder gar keinen Unterschied zwischen ihnen übrig gelassen haben. Die Gesellschaft entsteht durch unsere Bedürfnisse, der Staat durch unsere Schlechtigkeit. Die Gesellschaft ist in jedem Staate ein Segen, der Staat aber in seiner besten Form ein notwendiges Übel, in seiner schlimmsten aber, ein unerträgliches.“

Nach hundert Jahren sollten wir Paines Ideengang wenigstens so weit entwickelt haben, dass wir sagen könnten: „Der Staat ist im besten Falle ein schwer zu beseitigendes Übel.“

Doch ich will mich nicht weiter auf Autoritäten berufen; wir haben Beispiele genug, an welchen man wenigstens merken kann, dass ausser dem Staate noch eine Gesellschaft existiert, welche ganz anders arbeitet, als der Staat. In schwach besiedelten westlichen Gegenden kommt es oft vor, dass einige Desperados eine ganze Stadt tyrannisieren können. Die Organe des Staates erweisen sich machtlos dagegen, stecken manchmal sogar mit den Strolchen unter einer Decke. Endlich rafft sich die Gesellschaft auf, stellt den Staat mit seinen Gesetzen beiseite, organisiert ein Vigilanzkomité, und sofort macht das bisherige wüste Treiben der musterhaftesten Ordnung Platz. Dieselbe Bevölkerung, welche sich als freie Gesellschaft so gut zu helfen weiss, hatte auch als Staat fungiert, indem sie die Richter, Konstables, etc., erwählte und sich den Gesetzen unterstellte. In diesem Falle aber war sie ohnmächtig und hilflos, im andern nicht. So etwas sollte doch immerhin beweisen, dass Staat und Gesellschaft zwei verschiedene Dinge sind.

Heutzutage sehen wir, dass sich die Arbeiter in eine grosse Gesellschaft gruppieren. Sie haben dadurch schon Aufbesserung der Löhne, Verkürzung der Arbeitszeit, ja sogar schon einigen Schutz gegen willkürliche Entlassung erlangt. Stellenweise ist es ihnen auch gelungen, einen Teil der Staatsmaschine in ihre Gewalt zu bekommen. Sofort werden ihre besten Führer korrupt und unzuverlässig, die von ihnen erwählten Beamten üben Klassenjustiz gegen sie selber, und zur Besserung ihrer Verhältnisse wird von dieser Seite nichts mehr getan. Im ersten Falle gingen die Arbeiter vor als Gesellschaft, im zweiten als Staat. Zeigt sich hier kein Unterschied zwischen diesen beiden Dingen? Noch mehr! Schon das blosse Liebäugeln und Hinneigen der Gesellschaft zum Staat hat Korruption im Gefolge. Die Arbeitsritter und ihre Führer gingen mutig im Dienste der Gerechtigkeit voran und erzielten auch manches, solange sie sich bewusst blieben, dass sie ausserhalb des Staates ständen und diesen als ihren natürlichen Feind zu betrachten hätten. Wie ist das anders geworden, seitdem die innere Organisation der Form des Staates zustrebt und nach aussen hin freundschaftliche Beziehungen mit dem einstigen Feinde kultiviert werden!

Wenn jemand sich die Aufgabe stellte, gegen den Staat alle mögliche üble Nachrede zu erfinden, so könnte er unmöglich alles das aufbringen, was uns die nackten Tatsachen mit mathematischer Genauigkeit demonstrieren. Wer so die besten, die edelsten, die klarblickendsten Männer sofort stolpern und wanken und ihre heiligsten Grundsätze verleugnen sieht, sobald sie sich dem Staate nähern oder von der Wirksamkeit des Staates etwas erhoffen, der wird wohl kaum noch mit Zuversicht auf sich selber zu trauen wagen; der wird kaum noch den Mut haben, zu behaupten, dass seine eigenen Prinzipien vor der freundschaftlichen Berührung mit dem Staate stichhaltig sein müssten.

Es hilft hier den Freunden des Staates nichts, wenn sie sagen, dass man doch eigentlich keinen zwingenden Grund für diese sonderbaren Tatsachen sähe. Die Tatsachen sind einmal da und erscheinen mit einer solchen Regelmässigkeit in Verbindung mit dem Staate, dass in diesem letztern ein Grund dafür liegen muss, ganz gleich, ob man ihn sieht oder nicht. Dass man bei den bisherigen Verbesserungen und Ummodelungen des Staates jenen Grund noch nicht entfernt hat, zeigt die Tatsache, dass dieser neueste Staat noch ebenso korrumpierend, verpestend und degenerierend auf seine Subjekte wirkt wie der frühere. Ebenso zeigen aber auch die Tatsachen, dass die Gesellschaft allein nicht jene Pestatmosphäre des Staates um sich verbreiten muss. (Ich habe solche Tatsachen schon angeführt.) Dann haben wir endlich auch Beispiele, in welchen eine ursprünglich reine, d. h. von den Gebrechen des Staates freie Gesellschaft allmählich zum Staate degenerierte, wie bei den Arbeiterorganisationen der Fall war, welche das Feld ihrer Tätigkeit in die Politik verlegten.

Wenn wir nun die Unterschiede prüfen, welche zwischen einer als Staat existierenden und einer freien Gesellschaft bestehen; wenn wir ferner den Weg verfolgen, den eine ursprünglich freie, später aber zum Staat degenerierte Gesellschaft zurückgelegt hat, dann sollte es doch möglich sein, die charakteristischen Merkmale anzugeben, welche die Eigentümlichkeit des Staates ausmachen, und vor welchen sich die Gesellschaft zu hüten hat, wenn sie nicht wieder dem Staate zur Beute fallen will.

Der erste in die Augen fallende Unterschied zwischen dem Staat und den von mir als Beispiel angeführten Gesellschaften ist der Modus ihrer Entstehung. „Der Staat“, sagt Paine, „entsteht durch unsere Schlechtigkeit, die Gesellschaft aber durch unsere Bedürfnisse.“ Der Staat wurde noch ausnahmslos durch Waffengewalt gegründet, wobei die Triebfeder der Vorteil der Beherrscher war, den Bedürfnissen der Gesellschaft aber zuwidergehandelt wurde. Wo aber die Gesellschaft sich organisiert, wie in einem Vigilanzkomité, wie in einer Arbeitervereinigung, da geben die von der Gesellschaft empfundenen Bedürfnisse den Anstoss dazu, da macht es sich ganz von selbst, dass die fähigsten und besten Männer an die Spitze kommen; da fügt sich Jeder freiwillig in die als notwendig erkannte Disziplin, selbst wenn schwere Opfer damit verbunden sind; der Erfolg aber ist der, dass auch wirklich dem Bedürfnis Rechnung getragen wird. Halten wir daneben den Erfolg, welchen die aus denselben Elementen zusammengesetzte Gesellschaft zu verzeichnen hat, wenn sie sich als Staat organisiert, so wird der Unterschied in die Augen fallen. Die politische Arbeiterpartei von Milwaukee liess in ihrer letzten Plattform alle Anforderungen im Namen der Gerechtigkeit und Menschenrechte in dem Verlangen nach öffentlichen Badeanstalten gipfeln! Bei der Entstehung dieser Organisation als Gesellschaft handelte es sich darum, dass die Ausbeutung der Massen durch Wenige bekämpft würde; das war ein Bedürfnis, welches alle empfanden. Bei ihrer Entstehung als Staat aber war das Ziel, den Herren so und so diese und jene Ämter zuzuteilen. Hierbei konnte man unmöglich von einem Bedürfnis sprechen, welches die Massen empfanden.

Die Entstehung der rein gesellschaftlichen Organisation aus den Bedürfnissen führt zu der Konsequenz, dass sie aufhören muss, wenn das Bedürfnis, welches zu ihrer Entstehung führte, befriedigt ist. So löst sich das Vigilanzkomité auf, wenn Ruhe und Ordnung wieder hergestellt worden sind. Der Staat dagegen erklärt seine Einrichtungen stets in Permanenz, und so werden sie dann zu Handhaben und Geisseln, mit denen menschliche Schlechtigkeit die Gesellschaft verhindert, ihre Bedürfnisse geltend zu machen.

Von jeher haben die Vertreter des Staates danach gestrebt, die Existenz ihrer Einrichtungen künstlich zu rechtfertigen und sie dadurch gegen den Druck der gesellschaftlichen Bedürfnisse zu sichern. Darin liegt ein zweites Unterscheidungsmerkmal zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Organisation; es ist dies der Glaube an die Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Staates. Dieser Glaube, welchen das Kind mit der Muttermilch einsaugen muss, welcher selbst dem Vorurteilslosesten, wie sein eigener Schatten, bis ins Grab hinein folgt, er erklärt die Macht des Staates, er ist die Kette, welche bis heute noch die Gesellschaft verhindert hat, sich von ihrem schlimmsten Feinde zu befreien. Durch diesen Glauben bleibt derjenige frei von dem Odium des Mörders, von der Rache des beleidigten Rechtsgefühls, welcher die frivolsten Morde durch Galgen und Henkerbeil verübt, welcher Millionen seiner Mitmenschen auf Schlachtfeldern verbluten lässt.

Aus dem Glauben an die Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Staates folgt naturgemäss als drittes Kennzeichen des Staates der Glaube an seine Vorzüglichkeit. Wie viel Unheil dieser Erzfeind der Menschheit anrichten darf, wie lange Millionen sein unerträgliches Joch geduldig tragen, ehe sie anfangen, seine Mängel zu sehen, das lehrt ja die Geschichte zur Genüge. Der Glaube, dass man der Sorge für sein Wohlergehen durch eine heilige und unübertreffliche Einrichtung überhoben sei, führt zu Gleichgültigkeit und Abstumpfung des Rechtsgefühls der Massen und macht das Volk zur willenlosen Maschine, durch welche menschliche Bosheit und Niedertracht ihre selbstsüchtigen Absichten auf Kosten der Gesellschaft verfolgen.

Die Rücksicht auf die Raumverhältnisse von Libertas veranlasst mich, hier meine Ausführungen zu schliessen; meine Absicht ist, durch diese Arbeit die Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken, dessen gründliche Bearbeitung zur Klärung der meisten Missverständnisse über den Anarchismus dringend geboten ist. Möge der Erfolg meine Erwartungen bestätigen.

PAUL BERWIG.

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 2–3.)

Anmerkungen

  • Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
  • Zum „Freidenker“ und C. Hermann Boppe vgl. die Anmerkungen hier.
  • Der Kapuziner aus „Wallensteins Lager“ entstammt dem Drama Wallenstein von Friedrich Schiller. Das Zitat findet sich im 8. Auftritt von „Wallensteins Lager“. Auch die erwähnten Kroaten haben dort ihren Auftritt.
  • Das erwähnte Zitat von Thomas Paine ist nicht wörtlich wiedergegeben. Vermutlich bezieht sich Berwig hier auf folgende Stelle aus Common Sense (Der gesunde Menschenverstand) von 1776: „Die Gesellschaft ist in jedem Zustande ein Segen, während die Regierung selbst im besten Zustande nur ein nothwendiges, im schlechtesten Zustande aber ein unerträgliches Uebel ist; [...].“ (deutsche Übersetzung in: Die politischen Werke von Thomas Paine, Erster Band, Philadelphia 1852. S. 178; im engl. Original: „Society in every state is a blessing, but government even in its best state is but a necessary evil; in its worst state an intolerable one; [...].“).

PARTEI.

[„Sturm“. Verlagsmagazin, J. Schabelitz, Zürich, Schweiz.]

Partei ist heute Alles: — Jeder nimmt Sich seinen Stand in einer; Jeder stimmt Der eigenen Wünsche unberührte Saiten Nach ihrem Klang; ob innerlich auch streiten

Gedanken und Gefühle scharf dagegen; Er ist ein Glied der Kette, darf nur regen Sich innerhalb der streng gezogenen Grenzen Und alles Licht, er siehts wie Schatten glänzen

Durch die papiernen Wände der Partei! — Wo aber ist der Mensch, der kühn und frei, Einzig allein die eigenen Wege geht? Stark jedem fremden Einfluss widersteht?

Und der sein Denken, wie sein Wünschen nicht Den Wünschen Andrer schwächlich unterstellt? Der Licht nur will, und nichts als hellstes Licht, Zu klären seines Daseins ganze Welt?!

Als Bruder kennt er nur den Freien an, Und reicht ihm gern zu gleichem Kampf die Hand, Und drückt sie fest-doch niemals darf und kann Zur Fessel werden dieses freie Band! —

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 1.)

Anmerkungen

  • Das Verlags-Magazin war ein Schweizer Buchverlag. Dieser firmiert oft als Verlags-Magazin (J. Schabelitz). Er wurde im Jahr 1864 von Jakob Lukas Schabelitz (1827–1899) gegründet. Der Verlag wurde zu einem der bekanntesten Publikationsorte für oppositionelle Deutsche, die im eigenen Land der Zensur unterworfen waren. Zum Verlagsprogramm gehörten vor allem politische Schriften, darunter Bücher von Friedrich Engels und August Bebel. Zum Autorenkreis gehörten u. a. auch John Henry Mackay, dessen Roman Die Anarchisten in Deutschland aufgrund des Sozialistengesetzes verboten war, und Malwida von Meysenbug.
  • Die erste Auflage der Gedichtsammling Sturm von Mackay erschien 1888 im Verlags-Magazin. Die vierte, vermehrte Auflage ist online bei archive.org verfügbar. Das Gedicht Partei ist dort auf S. 26–27 zu finden.