Nach „Freiheit“, „Der Sozialist.“ – Benjamin R. Tucker

Nach „Freiheit“, „Der Sozialist.“

Die erste, Libertas widerfahrene Kritik kam aus dem Lager der Kommunisten und floss aus der Feder des Herrn Most. Ich habe dieselbe beantwortet und Herr Most verspricht eine Entgegnung in der „Freiheit“. Mittlerweile erfolgt ein Angriff aus einem andern Quartier, aus dem Lager der Staatssozialisten. In dem offiziellen Organ derselben, dem „Sozialist“, widmet ein regelmässiger Mitarbeiter dieses Blattes, J. G., zwei Spalten einer Besprechung meiner Abhandlung über „Staatssozialismus und Anarchismus“. Unter der Überschrift „Konsequente Anarchisten“ stellt er zuerst einen Vergleich an zwischen den Anarchisten und den Kommunisten, die sich Anarchisten nennen, in welchem er die ersteren ihrer Konsequenz, Logik und Offenheit wegen belobt. Nach dieser Einleitung begibt er sich an die Aufgabe, die logischen Anarchisten zu vernichten, indem er mit „Widersinn“, „Unsinn“, „Ignoranz“ und all den Abwandlungen dieser Substantive wie der ihnen verwandten Adjektive, deren die reichhaltige deutsche Sprache fähig ist, um sich wirft. Nun will es mir scheinen, dass wenn die Anarchisten solche Dummköpfe sind, sie keine durch zwei Spalten sich erstreckende Aufmerksamkeit im „Sozialist“ verdienen; andrerseits aber, dass wenn sie eine durch zwei Spalten gehende Prüfung verdienen, sie dieselbe in der Form einer Beweisführung verdienen an Stelle wegwerfender Behauptungen in Verbindung mit einem Hinweis auf die Marx'schen Werke, was einen stark an Henry Georges Methode erinnert, seine staatssozialistischen Kritiker auf „Progress and Poverty“ zu verweisen. Den Anarchisten vorzuwerfen, dass sie die Begriffe Wert, Preis, Produkt und Kapital nicht verstehen, dass ökonomische Konzepte von ihnen keine Berücksichtigung finden, und dass sie die Stellung der Staatssozialisten missrepräsentieren, heisst nicht, sie zu widerlegen. Eine Widerlegung bedingt Analyse und Vergleich. Ein Argument zu widerlegen heisst, es in seine Teile zu zergliedern, das Widersprechende derselben untereinander und die Unvereinbarkeit einzelner oder aller dieser Teile mit bereits festgestellten Wahrheiten nachzuweisen. Aber in J. G.’s Artikel ist von alledem nichts, oder doch beinahe nichts zu entdecken.

Die grösste Annäherung an eine fassbare Kritik, die ich entdecken kann, ist die Behauptung, dass ich Marx einen Begriff vom Staat zuschreibe, der seiner Auffassung durchaus fern lag; dass er nicht an den alten patriarchalischen und absolutistischen Staat glaubte, sondern dass er Staat und Gesellschaft als identisch betrachtete. Ja, er betrachtete sie als identisch in dem Sinne, in welchem der Löwe und das Lamm identisch sind, nachdem der Löwe das Lamm aufgefressen hat. Die Marx'sche Einheit von Staat und Gesellschaft ist mit der Einheit der Ehegatten im Auge des Gesetzes vergleichbar. Mann und Frau sind Eins, aber das Eine ist der Mann; so sind nach Marx'scher Auffassung Staat und Gesellschaft Eins, aber das Eine ist der Staat. Hätte Marx Staat und Gesellschaft Eins gemacht, aber das Eine die Gesellschaft, dann herrschten nur kleine oder gar keine Differenzen zwischen ihm und den Anarchisten. Nach der Auffassung der Anarchisten ist die Gesellschaft einfach die Summe jener Beziehungen zwischen den Individuen, welche aus den natürlichen, durch keine äussere, eingesetzte autoritative Gewalt gehemmten Entwicklungsprozessen erwachsen. Dass Marx unter dem Staat nicht dies verstand, erhellt aus der Tatsache, dass sein Plan auf die Etablierung und Aufrechterhaltung des Sozialismus, – d. h. die Beschlagnahme des Kapitals wie dessen öffentliche Verwaltung, mittels autoritativer Gewalt abzielte, nicht weniger autoritativ, weil demokratisch anstatt patriarchalisch. Es ist diese Beziehung des Marx'schen Systems zur Autorität, die ich in meiner Abhandlung betone, und wenn ich es darin missrepräsentiere, so tue ich das gemeinschaftlich mit allen staatssozialistischen Zeitungen und allen staatssozialistischen Plattformen. Aber es ist nicht eine Missrepräsentation; welcher Sinn könnte sonst in den Spötteleien hinsichtlich der Selbstherrlichkeit des Individuums liegen, in welchen sich J. G., ein Marxianer, gegen das Ende seines Artikels hin ergeht? Hat die individuelle Selbstherrlichkeit eine andere Alternative als die Autorität? Wenn so, worin besteht sie? Wenn nicht, und wenn Marx und seine Anhänger sie verwerfen, müssen sie notwendigerweise Befürworter der Autorität sein.

Aber wir wollen noch einen weiteren Punkt der J. G.’schen „Replik“ ins Auge fassen. Diese individuelle Selbstherrlichkeit, die Ihr verlangt, sagt er, haben wir schon und sie ist die Ursache all unseres Wehes. Wieder eine leere Behauptung, ohne Analyse und Vergleich, und aufgestellt in völliger Missachtung meiner Beweisführung. Ich begann mit der Erklärung, dass was wir bereits haben, ein Mittelding zwischen individueller Selbstherrlichkeit und Autorität sei, in welchem erstere nach einigen Richtungen hin vorherrsche, letztere nach andern; und ich wies nach, dass die Quelle all unseres Wehes nicht in der individuellen Selbstherrlichkeit, sondern in der Autorität liege. Ich führte diesen Nachweis, indem ich die bedeutendsten Hemmnisse spezifizierte, welche die Autorität errichtet hat, um das freie Spiel natürlicher ökonomischer Prozesse zu verhindern, und indem ich zeigte, wie diese Prozesse alle Formen des Wuchers, – d. h. wesentlich all unser Weh – abschaffen würden nach Beseitigung jener Hemmnisse. Ist dieses Argument widerlegt worden? Mit nichten! Hm! Sagt J. G., das ist nichts weiter „als ein in der abgeschmacktesten Weise wiedergekauter kleinbürgerlicher Proudhonismus“, den Marx „für immer begraben hat“. Darauf könnte ich erwidern, dass der Inhalt des „Sozialist“ in nichts Weiterem bestehe als in einem „wiedergekauten, alles Freiheitsgefühl beleidigenden Marxismus“, und dass Proudhon denselben längst abgefertigt habe. Wenn ich einmal einsehen lerne, dass ein solcher Stil sich in der Schlichtung von Kontroversen als wirkungsvoll erweist, dann will auch ich ihn anwenden. Bis dahin ziehe ich es vor, denselben von den Staatssozialisten monopolisiert zu sehen. Diese Form des Monopols würden die Anarchisten eher erlauben als zerstören.

T.

(Libertas 3, Samstag, 21. April 1888, S. 4.)