„Freiheits“-Urteil in Bezug auf Libertas – Benjamin R. Tucker

„Freiheits“-Urteil in Bezug auf Libertas

Wir sind es Herrn Most schuldig, darauf hinzuweisen, dass er in seiner Zeitung „Freiheit“ das Erscheinen von Libertas in einem durchaus gerechten und von Liberalität zeugenden Geiste begrüsste, während er es zu gleicher Zeit nicht beanstandete, diejenigen ihrer Züge hervorzuheben, denen er seinen Beifall vorenthalten muss. Neben den reichlichen Auszügen, die er aus der ersten Nummer mit gebührender Quellenangabe abdruckt, widmet er nahezu anderthalb Spalten einer kritischen Betrachtung ihrer Vorzüge und Schwächen, die in ihrem Lobe herzlich und in ihrem Tadel freimütig ist. Abgesehen von dem Gebrauch des Wortes „heuchlerisch“ in einem seiner Sätze, ist sein Artikel frei von jenen Schmähungen, zu deren Zielscheibe er mich ehedem machte. Mit diesem meinem Danke für sein Lob wie seinen Tadel als Einleitung will ich letzteren nun in demselben Geist, in dem er dargebracht wurde, kurz prüfen.

Herrn Mosts Ansicht über Libertas kann so zusammengefasst werden, dass ihre Opposition gegen den Staat durchaus richtig, ihre Anwaltschaft des Privateigentums aber durchaus hinfällig ist. Ob Libertas für das Privateigentum einsteht, hängt ganz von der Definition dieser Bezeichnung ab. Definieren wir das Privateigentum mit Proudhon als die Summe der gesetzlichen Privilegien, welche den Inhabern des Reichtums gewährt sind, dann stimmt Libertas mit Proudhon darin überein, dass Eigentum Diebstahl ist. Gebrauchen wir aber das Wort in seiner gewöhnlichen Bedeutung als Bezeichnung für den individuellen Besitz, sei es Erwerb seitens des Arbeiters oder seines angemessenen Anteils an dem gemeinschaftlichen Erwerb mit Anderen, so ist das Eigentum nach Libertas gleichbedeutend mit Freiheit. Und wo immer Proudhon das Wort zeitweilig in dem letzteren Sinne gebraucht, rechtfertigt auch er das Eigentum. Aber es ist genau in diesem Sinne des individuellen Besitzes als Gegensatz zum kommunistischen Besitz, dass Herr Most das Eigentum verwirft. Mithin, wenn er (wie er es häufig tut) als Motto Proudhons Phrase abdruckt: „Eigentum ist Diebstahl“, so missdeutet er in Wirklichkeit diesen Autoren, indem er seine Worte in einem Sinne gebraucht, welcher dem ihnen vom Verfasser selbst beigelegten diametral entgegengesetzt ist. Wenn das Eigentum im Sinne des individuellen Besitzes Freiheit ist, dann muss derjenige, der das Eigentum verwirft, notwendigerweise die Autorität – d. h. den Staat – in der einen oder andern Form auf den Schild erheben, und derjenige, der Staat und Eigentum zugleich verneint, setzt sich dadurch dem Vorwurf der Inkonsequenz aus und kann beschuldigt werden, das Unmögliche anzustreben. Doch an einer anderen Stelle gelangt Herr Schumm auf einem anderen Wege zu demselben Punkt, und ich will nicht länger darauf verweilen.

Das Hauptargument, das Herr Most gegen Libertas anführt, ist, dass sie die Notwendigkeit des Grossbetriebs gegenwärtig und in Zukunft ignoriere, eine Notwendigkeit, welche nach Herrn Most die Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital bedingt, wo immer das Privateigentum besteht. Diese Behauptung ist grundlos. Libertas verneint oder ignoriert die Notwendigkeit des Grossbetriebs nicht einen Augenblick. Sie stellt jedoch die Behauptung, dass dieser Betrieb stets eine grosse Konzentration von Kapital bedinge, ernstlich infrage und verneint es nachdrücklichst, dass er notwendigerweise die Ausbeutung der Arbeit mit sich führe, ausser das Privateigentum werde abgeschafft. Die Hauptstärke des Arguments für den Staatssozialismus und Kommunismus lag stets in der bis vor kurzem unangetasteten Behauptung, dass die permanente Tendenz des Fortschritts hinsichtlich der Produktion und Distribution des Reichtums in der Richtung mehr und mehr komplizierter und kostspieliger Methoden liege, welche eine stets grössere und grössere Konzentration von Kapital und Arbeit erfordern. Doch in den Köpfen fängt die Idee an zu dämmern; es gibt Männer der Wissenschaft, die es sogar durch Tatsachen beweisen zu können vorgeben, dass die angedeutete Tendenz nur eine Phase des Fortschritts ist, und zwar eine, welche nicht von Dauer sein wird. Es wird im Gegenteil einem Umschwung vertrauensvoll entgegengesehen. Man erwartet, dass die Betriebsmethoden billiger, kompakter und leichter zu handhaben gemacht werden, bis sie wieder den Einzelnen sowie kleinen Kombinationen zugänglich geworden sind. Einen solchen Umschwung haben wir bereits in der Richtung erfahren, welche die Verbesserungen im Gebiet der Zerstörungsinstrumente und -Materialien genommen haben. Militärischer Fortschritt lag eine lange Zeit in der Richtung des Komplizierten, ungeheure Armeen und unermessliche Auslagen erfordernd. Doch die Tendenz der jüngsten Entdeckungen und Erfindungen geht dahin, die Individuen auf gleichen Fuss mit Armeen zu stellen, indem sie denselben Mächte an die Hand geben, denen keinerlei Truppenanhäufung widerstehen kann. Glaubt man doch bereits, dass Lieutenant Zalinski mit seinem Dynamitgewehr irgendeinen Hafen gegen die ganze englische Flotte verteidigen könnte. Das Verdrängen des Dampfes durch die Elektrizität, und andere Fortschritte, wovon wir nichts wissen, machen es mehr als wahrscheinlich, dass das konstruktive Vermögen des Individuums mit dem destruktiven gleichen Schritt halten werde. Was wird in diesem Falle aus dem Staatssozialismus und Kommunismus? Es ziemt den Anhängern dieser Systeme, von der Richtigkeit dieser Hauptprämisse aller ihrer Argumente nicht so felsenfest überzeugt zu sein wie bisher.

Doch Herr Most mag einwenden, dass in diesem Raisonnement das Moment der Spekulation und Ungewissheit zu gross sei, um irgendeine Berücksichtigung desselben zu rechtfertigen. Gut denn, mag es gelten, was es wert ist; mein eigenes Vertrauen in dasselbe einfach wiederholend, werde ich mich sofort an die Erörterung der Frage machen, ob eine grosse Konzentration von Kapital zwecks Grossbetriebs uns der unangenehmen Alternative gegenüberstellt, entweder das Privateigentum abzuschaffen oder mit der Unterjochung der Arbeit unter das Kapital fortzufahren. Herr Most verspricht, dass wenn ich ihm beweisen kann, dass ein Régime des Privateigentums mit Grossbetrieb ohne Ausbeutung der Arbeit vereinbar ist, er nicht anstehen werde, sich im Sinne von Libertas überzeugt zu erklären. Dieses Versprechen enthält ein sehr bedeutungsvolles Zugeständnis. Wenn der Kommunismus, wie Herr Most gewöhnlich behauptet, der Freiheit wirklich keinen Abbruch tut und an und für sich solch eine gute und vollkommene Sache ist, warum ihn dann fallen lassen zugunsten des Privateigentums, einfach weil die Möglichkeit nachgewiesen ist, dass letzteres ohne die Ausbeutung der Arbeit bestehen kann? Sich bereitzuerklären, dies zu tun, heisst offenbar das Zugeständnis machen, dass, abgesehen von der Ausbeutung, das Privateigentum dem Kommunismus vorzuziehen ist und dass, unter Voraussetzung der Ausbeutung, der Kommunismus nur als das kleinere Übel gewählt wird. Ich notiere dieses Zugeständnis und fahre weiter.

Gerade hier jedoch qualifiziert Herr Most sein Versprechen, indem er der Erfüllung desselben eine weitere Bedingung stellt. Ich muss die vorliegende Frage nicht einfach beweisen, ich muss sie auch ohne Hinweis auf Proudhons Banksystem beweisen. Das verwickelt das Problem. Zeige mir, dass A gleich B ist, sagt Herr Most, und ich werde mich an A halten; nur musst du es mir nicht zeigen, indem du dartust, dass sowohl A wie B gleich C sind. Doch vielleicht ist die Gleichheit von A und B mit C der einzige Beweis, den ich für die Gleichheit A’s mit B vorzubringen habe. Soll es mir nun nicht erlaubt sein, die Beweisführung anzutreten, einfach weil diese Form der Logik Herrn Most nicht angenehm ist? Mitnichten; es liegt an ihm, den Fehler in der Logik nachzuweisen oder aber meine Schlussfolgerung anzunehmen. Seine Bedingung, dass ich mich nicht auf Proudhons Banksystem berufen dürfe, ist mithin lächerlich, insofern dieses Banksystem, oder doch das leitende Prinzip desselben, bei der Beweisführung meines Standpunkts wesentlich in Betracht gezogen werden muss. Ich biete ihm dieses Prinzip als endgültigen Beweis; er muss mir die Hinfälligkeit desselben nachweisen oder meine Behauptung zugeben. Es kann nicht mit einer verächtlichen Handbewegung beiseite geschoben werden.

Was ist nun dieses Prinzip? Einfach die Freiheit des Kredits und die daraus hervorgehende Organisation desselben in solch einer Weise, dass das Moment der Vergütung des Kapitals aus dem Prozess der Warenproduktion und -distribution ausgeschieden wird. Herr Most wird es wohl nicht bestreiten, dass die Kreditfreiheit das Privateigentum unangetastet lässt und selbst die praktische Ausführbarkeit des Grossbetriebs vergrössert. Die einzige übrige Frage ist alsdann, ob sie den Wucher abschaffen wird; denn wenn sie den Wucher abschaffen wird, wird auch mein Standpunkt begründet sein, da Wucher nur ein anderer Name für die Ausbeutung der Arbeit ist. Die Beweisführung, dass die Kreditfreiheit die Abschaffung des Wuchers zur Folge haben wird und somit die Beweisführung, die Herr Most zu untergraben verpflichtet ist, wird er in der letzten Hälfte meiner Abhandlung über Staatssozialismus und Anarchismus in der ersten Nummer von Libertas finden. Antwortet er nicht darauf, so bleibt die Privateigentumsplanke in der Plattform von Libertas unbeschadet seiner Kritik stehen; versucht er eine Widerlegung, so werden wir sehen, was weiter darüber zu sagen ist.

Doch Herrn Mosts Kritik hat es nicht allein auf die Plattform abgesehen: mit besonderer Strenge greift er die von Libertas zu befolgende Taktik an. Hier ist es, wo er die Grenze der höflichen Kritik überschreitet und beleidigend wird, indem er die Erklärung von Libertas, dass so lange ihr das Recht der freien Rede und der freien Presse unbenommen bleibe, sie nicht zu Gewaltmitteln greifen werde in dem Kampf gegen die Unterdrückung, als heuchlerisch bezeichnet. Dass Libertas in der Einnahme dieses Standpunkts heuchlerisch ist, schliesst er daraus, dass sie jetzt die Gewalt missbilligt, obschon fünf Männer gemordet wurden, Andere im Gefängnis schmachten und noch Andere in Gefahr schweben, eingekerkert zu werden, weil sie das Recht der freien Rede ausgeübt haben. Herr Most vergisst augenscheinlich, dass in New York noch immer die „Freiheit“, in Chicago der „Alarm“ und in Boston Liberty und Libertas herausgegeben werden, und dass alle diese Zeitungen, wenn ihnen auch nicht alles zu sagen erlaubt ist, was sie gerne sagen möchten, immerhin alles sagen können, was durchaus zu sagen nötig ist, um ihr Ziel, den Triumph der Freiheit, endlich zu erreichen. Es darf nicht gefolgert werden, dass, weil Libertas dafür hält, dass es ratsam werden kann, zwecks Sicherung der freien Rede seine Zuflucht zur Gewalt zu nehmen, sie ein Blutbad sanktionieren wird, sobald die freie Rede in einem, in einem Dutzend oder in hundert Fällen erstickt worden ist. Nicht eher als bis der Knebel in allgemeine Wirksamkeit träte, würde Libertas als letztes Mittel die Gewalt anempfehlen. Und dies, weit entfernt, Heuchelei zu sein, ist der beste Beweis für die Aufrichtigkeit dieses Blattes in seiner Verwerfung der Gewalt als eine Lösung ökonomischer Übelstände. Wenn irgendwo Heuchelei ist, so ist sie auf Seite derjenigen, welche, während sie die Gewalt als eine beklagenswerte Sache zu betrachten affektieren, zu der man nur als Verteidigungsmittel greifen dürfe, nichtsdestoweniger sehnlichst auf das Begehen von Missetaten warten, in der Hoffnung, einen Vorwand zu finden, um eine in der Geschichte beispiellose Ära des Schreckens und Blutvergiessens einzuleiten.

T.

(Libertas 2, Samstag, 7. April 1888, S. 4–5.)