Revolutionäre Schauspiele – Victor Yarros

Revolutionäre Schauspiele.

Das waren tiefe und wertvolle Betrachtungen, die Colonel Ingersoll neulich im „Truth Seeker“ und einer andern New Yorker Zeitung bezüglich der respektiven Nützlichkeit der Kirche und der Bühne für die Zivilisation anstellte. Wer das Drama am meisten liebt, hasst die Kirche, und wer um den Ruhm und die Sicherheit der Kirche am meisten besorgt ist, muss in dem Drama deren gefährlichsten und erfolgreichsten Rivalen erkennen. Einem Dichter wird es nachgesagt, dass er die Bemerkung gemacht habe, wenn es ihm gestattet sei, des Volkes Lieder zu schreiben, es ihm gleichgültig sei, wer es regiere und kontrolliere. So können wir sagen, gebt uns eine freie, unabhängige Bühne, und wir werden uns fürderhin nicht mehr um die Kanzel bekümmern. Aber unglücklicherweise ist sogar das Theater durch habsüchtige Moralisten und heuchlerische Puristen in eine Schule zur Pflege des Aberglaubens und der Unwissenheit umgewandelt worden. „Wilhelm Tell“ ist von der deutschen Bühne verbannt, „Germinal“ von der französischen, und „Ostler Jo“ kann nicht von einer Dame in der fashionablen Gesellschaft von Washington vorgetragen werden, ohne ihr das zornige Missvergnügen des Pöbels der respektablen Narren und Humbuger zuzuziehen. Die Bourgeoisie hat dem Theater sogar ein demütigender Kompromiss mit den kriechenden Kreaturen der orthodoxen Kanzel aufgezwungen, sodass heutzutage mit Ausnahme einiger sehr wenigen Schauspiele die Lehren der Bühne nicht heilsamer und nicht vernünftiger sind, als die Predigten solcher Hanswurste wie Talmage, Dix, Jones oder Small.

Um so wertvoller sind die Ausnahmen. Ich möchte die Aufmerksamkeit von Radikalen und von Personen mit fortschrittlichen Ideen und Sympathien auf einige derselben lenken.

Kein Egoist sollte es versäumen, Gilbert und Sullivans komische Oper, „The Pirates of Penzance“, zu sehen. Die Schönheit der Pflicht und die Heiligkeit des gegebenen Worts bilden die „Moral“ dieses reizenden Stückes. Und Revolutionäre sollten meilenweit gehen, um die Gelegenheit wahrzunehmen, „The Queen’s Favorite“ zu sehen. Es ist eine herrliche und vorzügliche Satire der Farce der parlamentarischen Agitation, der Politik, der Diplomatie und der Regierungsgeschäfte im Allgemeinen. Ein solches Schauspiel ist so viel wert, wie zehn Bände über Zivildienstreform, Steuerreform, Mietkasernenreform oder politische Verbesserungen. Ich kann mich hier nicht auf eine gründlichere Besprechung einlassen, aber ich kann den Lesern von Libertas die Versicherung geben, dass, wenn sie das Schauspiel einmal gesehen haben, die Erinnerung an dasselbe ihnen stets eine tiefe Befriedigung und lebhaften Genuss bereiten wird.

„Henrietta“, eine besonders für Robson und Crane geschriebene Komödie (von Ingersoll enthusiastisch bewundert), welche dieselbe mit absoluter Vollendung spielen, ist geradezu erstaunlich in ihrer kühnen, schonungslosen Verurteilung des Hazardspiels, der Spekulation, der Unehrlichkeit und Unsittlichkeit des modernen Geschäftslebens. Man wundert sich, wie es auch nur eine einzige Nacht von den Baumwollenkönigen, den Kohlenbaronen, den Napoleons der Wall Street, den Eisenbahnmagnaten und all den herrschenden Mächten in der Handelswelt geduldet wird. Dass es geduldet wird, dazu sollten sich alle Freunde des Fortschritts Glück wünschen. Man kann sich keine bessere Satire auf die New Yorker Gesellschaft mit ihren fashionablen Kirchen, Protzenklubs und Geschäftsverhandlungen denken. „Henrietta“ wird mehr Gutes tun, als all das Pathos und die Beredsamkeit, womit die Adler der ethischen Bewegungen die Geschäftsleute beschwören, ihre Handlungen zu moralisieren.

„Henrietta“ und „The Queen’s Favorite“ sind keine unbedeutenden Faktoren in der Revolution, welche alle Dinge neu gestaltet, und aus Anerkennung ihres Einflusses und Wertes sollten sie sogar „nach der Revolution“ erhalten und geschätzt werden. Wenn einst die Kirche begraben und vergessen und die politische Maschine aus der Welt gefegt sein wird, werden sich die Menschen der freien Gesellschaft noch immer an diesen beiden Stücken ergötzen. Vive la Révolution Sociale!

V. YARROS.

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 5.)

Anmerkungen