Die bevorstehende Wahlkampagne – Victor Yarros
Die bevorstehende Wahlkampagne.
Obgleich es wahr ist, dass Freihandel als eine ökonomische Massregel, wenn nicht durch andere Reformen ergänzt, den Opfern des heutigen Industriewesens kein Heil bringt und daher, von diesem Gesichtspunkt aus, nicht die Berücksichtigung der wahren Reformfreunde verdient, ist es dennoch nicht zu leugnen, dass eine Wahlkampagne, die sich um die Streitfrage Freihandel gegen Protektion dreht, sich nebenbei von unberechenbarem Wert für die anarchistische Bewegung und die Emanzipation des arbeitenden Volkes erweisen könnte. Dass in der bevorstehenden Kampagne diese Frage den Ausschlag geben wird, ist natürlich sehr unwahrscheinlich. Was immer auch einzelne Demokraten hier und dort sagen und tun mögen, die Parteimaschine und die Hauptmacher und einflussreichsten Organe der sogenannten Demokratie werden niemals zugeben, dass es zu einem offenen und ehrlichen Kampf zwischen Freihandel und Protektion komme. Aber wenn die Republikaner sich beharrlich weigern sollten, die apologetische Haltung der Steuerreformer, sowie ihre Protestationen, dass sie nicht zu Gunsten des Freihandels seien, zu berücksichtigen und es dahin bringen sollten, die Demokraten zu zwingen, schliesslich das Banner vollkommenen und absoluten Freihandels zu erheben, so würden sie den Anarchisten einen grossen Dienst erweisen und sich dieselben sehr verpflichten. Die Anarchisten könnten ihnen nicht versprechen, sich als ihre Verbündeten an der Politik zu beteiligen, und ihnen nicht helfen, ihre Gegner zu schlagen, aber sie würden sich gewiss verpflichten, den Demokraten keinerlei Unterstützung und Ermutigung zu geben.
Kein intelligenter Mensch kann sich in eine Diskussion der Tariffrage einlassen, ohne sich verpflichtet zu finden, seine Ansichten über die fundamentalen Prinzipien der sozialen und politischen Beziehungen auseinanderzusetzen. Den Tarif zu besprechen heisst in Wahrheit die beiderseitigen Vorzüge des Paternalismus und Laissez faire zu besprechen. Ein Protektionist, indem er seine Stellung verteidigt, kann sich nicht der Notwendigkeit entschlagen, die kommunistische Auffassung des Individuums und des Staates zu teilen, während ein Freihändler keine fünf Minuten auf die Widerlegung protektionistischer Argumente verwenden kann, ehe er dreist anarchistische Doktrinen ausspricht und verficht. Wie wäre es in der Tat möglich, in einer mehr oder weniger befriedigenden Weise der Protektion das Wort zu reden, ohne auf die Rechte der Allgemeinheit, die angemessene Ausübung von Zwang seitens der Majorität über eine abweichende Faktion, die vernunftgemässe Sphäre der staatlichen Tätigkeit und Kontrolle, die heilsamen Wirkungen künstlicher Regulierung und Einmischung in die natürlichen Betätigungen ökonomischer Gesetze, etc., hinzuweisen und darüber zu argumentieren? Auf der andern Seite, wie kann ein nachhaltiger Angriff auf Protektion, eine durchgreifende und konsequente Verteidigung der Freiheit gemacht werden, ohne eine logische Beweisführung zu Gunsten der Spontaneität, der Privatinitiative, der Selbstherrlichkeit des Individuums und der Wohltätigkeit der freien Konkurrenz? Die Vergangenheit hat gezeigt, dass diese Streitfrage nicht erörtert werden kann, ohne Herbeiziehung anderer, tiefergreifenderer und wesentlicheren Fragen. Und wir dürfen seitens der Führer und Organe der entgegengesetzten Parteien ein freies Umsichwerfen mit solchen Schlagwörtern wie Kommunist, Sozialist, Paternalist, Anarchist, Individualist, Naturalist, etc., erwarten.
Die Anarchisten können (und sollten deshalb) grossen Nutzen aus einer solchen Kampagne ziehen. Ohne sich nach dem Beispiel Georges und anderer Arbeiterpolitiker zu entehren und zu erniedrigen, können sie dem Kampfe zusehen und, indem sie sich von den Tagesereignissen belehren lassen, die Konzentration der öffentlichen Aufmerksamkeit wahrnehmen und dem Volke die logische Tragweite der infrage gezogener Prinzipien zeigen. In öffentlichen Versammlungen und in der Presse können wir sagen, was die Ämterjäger sich veranlasst fühlen, ungesagt zu lassen, und den Beweis führen, dass die wahre Streitfrage zwischen Protektion und Freihandel vom ökonomischen Gesichtspunkt eine Streitfrage zwischen absoluter Freiheit der Industrie und staatlichem Monopol, und vom politischen und ethischen Gesichtspunkt eine Streitfrage zwischen individueller Selbstherrlichkeit und zwangsmässigem Kommunismus ist.
VICTOR YARROS.
(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 1.)
Anmerkungen
- Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
- Henry George (1839–1897) war ein US-amerikanischer politischer Ökonom und der einflussreichste Befürworter einer Einheitssteuer auf Landbesitz (womit er wohl den Zorn der Individualanarchisten auf sich zog). George inspirierte die nach ihm benannte Philosophie des Georgismus, nach der jeder das besitzen solle, was er selbst durch Arbeit kreiert habe, und nach der die Erträge aus in der Natur aufgefundenen Gütern, d. h. Bodenrenten und Ressourcenrenten allen Menschen zu gleichen Teilen gehören sollten. Er war ausserdem ein Gegner des Protektionismus.
- Mit der „bevorstehenden Wahlkampagne“ meint Yarros wohl die 26. Präsidentschaftswahl von 6. November 1888.
- In den USA stritt man sich seit der Gründung unentwegt über Protektionismus und Freihandel. Einerseits ging es immer z. B. wieder um den Schutz der heimischen Textilindustrie gegen britische Importe, andererseits erzwangen die USA schon 1853 mit der Drohung eines Bombardements die Öffnung Japans für amerikanische Exporte. Ein guter Überblick über die historische Entwicklung kann man hier nachlesen.
- Yarros spricht hier auch die Schutzzollpolitik der Nordstaaten an, welche sich bereits vor dem Bürgerkrieg (1861–65) im industriellen Aufbau befanden und daher ein Interesse an Protektionismus hatten. Die Republikaner, damals die Partei des Nordens, setzte sich nach dem Bürgerkrieg mit ihrer protektionistischen Handelspolitik durch. Der landwirtschaftliche Süden, vertreten durch die Demokraten, war hingegen an Freihandel, d. h. an Export von Baumwolle und Getreide nach England, sehr interessiert. Der Bürgerkrieg war also nicht nur ein Kampf um die nationale Einheit und die Sklavenbefreiung, sondern auch eine Auseinandersetzung zwischen Protektionismus (Industrie) gegen Freihandel (Landwirtschaft).