Die Vernunft in der Natur – Emma Heller Schumm
Die Vernunft in der Natur.
In einem „Natürliche Ordnung und künstliche Eingriffe“ betitelten Artikel gelingt der „New Yorker Volkszeitung“ das Kunststück, den orthodoxen Kanzelprediger, den Bourgeois und den Anarchisten unter einen Hut zu bringen, indem sie ihnen der Reihe nach charakteristisch sein sollende Proteste gegen diese „künstlichen Eingriffe“ in die „natürliche Ordnung“ in den Mund legt, und sie dann alle drei mit einem Schlage summarisch abtut durch die glückliche Widerlegung der alten theologischen Zweckmässigkeitstheorie.
Nachdem Prediger und Bourgeois ihr Sprüchlein gesagt haben, wird die anarchistische Marionette vorgeführt: „Nur nicht die natürliche Ordnung durch reaktionäre Pedanterie und Gesetzmeierei vergewaltigen! – so ertönt endlich von einer Seite her, welche von der Kirche wie von den Parteischattierungen der Bourgeoisie gleich weit entfernt ist und welche für gewöhnlich so bescheiden ist, auf den alleinigen Besitz aller wahrhaft revolutionären Ideen Anspruch zu erben.“ Und nun folgen allerlei Beispiele, welche die Zweckwidrigkeiten der Natur vom anti-theologischen Standpunkt aus recht gut illustrieren. Aber was haben sie mit dem Anarchismus zu tun? Es ist kindisch, ja geradezu idiotisch, behaupten zu wollen, dass wir ein vernunftgemässes Eingreifen in die Natur verdammten. Möchte doch die „Volkszeitung“ bedenken, dass der Natur nachzuhelfen auf der Bahn, die sie uns selbst vorgeschrieben hat, in Übereinstimmung mit ihren Gesetzen und, innerhalb der Grenze der Möglichkeiten, die sie uns selber an die Hand gibt, eine von „Vergewaltigung“ der Natur ganz verschiedene Sache ist. Weil in der Natur nicht alles in der „bestmöglichen Weise eingerichtet“ ist, bessern wir aus und helfen ihren Mängeln nach, wo wir können und wo wir nicht können, überlassen wir sie einfach der Natur. Da sich die natürlichen Verkehrswege der Erde als ungenügend für die gegenwärtigen Bedürfnisse der Menschen erwiesen haben, haben sie „Jahrzehnte lang an dem Suezkanal gearbeitet“ (und haben ihn auch zu Stande gebracht, und zwar als Privatunternehmen). So graben sie auch Brunnen und sorgen für des Leibes Bedürfnisse durch künstliche Wohnung, Kleidung und Nahrung, weil das nicht naturwidrig, wohl aber eine Naturnotwendigkeit, durchgeistigte Natur ist. Aber obgleich „Ritter und Humboldt vor langer Zeit überzeugend nachgewiesen haben, dass die Gebirgskette an der Südgrenze Sibiriens in der denkbar zweckwidrigsten Weise angebracht ist“, und obgleich dadurch an der „chinesischen Stagnation der Asiaten zum allergrössten Teil die Natur selbst schuld ist“, haben die Menschen bis heute noch keinen Versuch gemacht, das Himalayagebirge nach dem Norden Asiens zu versetzen. (Ob das ein Argument für oder gegen den Anarchismus sein soll, geht aus dem Zusammenhang nicht klar hervor.) Auch bauen sie keine Brücken über den Ozean oder Eisenbahnen nach dem Mond, weil das naturwidrig wäre, indem es die von der Natur gegebenen menschlichen Kräfte übersteigt oder gegen ihre Gesetze verstösst.
Und was von der physischen Natur gilt, gilt auch von der geistigen – ich trenne beide Begriffe der Bequemlichkeit halber. Natur ist, für den geistigen Menschen, zu tun, was angenehm und zu lassen, was unangenehm ist. Nun ist das Angenehme aber auch nicht gerade immer das Zweckmässige und es bedarf manches „künstlichen Eingriffes“, um das Gleichgewicht, das ein allzu treues Befolgen der Natur stören würde, wieder herzustellen. Diese angenehmen Unzweckmässigkeiten sind zweierlei Art: Handlungen, deren verderbliche Folgen auf das Individuum selbst zurückfallen, und Handlungen, welche Andern oder der Gesellschaft zum Schaden gereichen. Solange die „künstlichen Eingriffe“, welche erstere verhüten sollen, nur von dem Individuum selbst herrühren oder höchstens durch Belehrung von aussen bestimmt werden, sind dieselben keine Vergewaltigungen der Natur und wir haben keinerlei Streit mit ihnen. Auch wenn sich die Gesellschaft gegen gemeinschädliche Passionen Einzelner oder vieler durch freiwillige Schutz- und Trutzbündnisse schützt, ist das wiederum keine Vergewaltigung der Natur, da dadurch keinem, der sich nicht tatsächlicher Übergriffe in die Rechte Anderer schuldig macht, irgendwelcher äusserer Zwang auferlegt wird. Es liegen ferner solche „künstliche Eingriffe“ nicht ausser dem Bereich der Möglichkeit; sie sind die Kanäle und die Brunnen, die warme Kleidung und das sichere Obdach der geistigen Natur.
Betrachten wir aber nun die „künstlichen Eingriffe“, welche vom Staat und der Sitte ausgeübt werden. Da haben wir es denn mit wirklichen Vergewaltigungen und Naturwidrigkeiten zu tun, denn beide dieser ausserhalb der Natur liegenden Mächte ertöten geradezu die Natur des Menschen, das heisst, die Individualität, deren freie Entfaltung der Kern, die Grundbedingung alles wirklichen, natürlichen Lebensgenusses ist. Der Zwang, den sie ausüben, lässt die Menschen geistig und moralisch verkümmern, während jede freie, mit der ungefesselten Vernunft im Einklang stehende Betätigung des Menschen, sei es innerhalb freiwilliger Organisationen und in Kooperation mit seinen Mitmenschen, oder unabhängig von jeder Gemeinschaft, natürlich ist und zu den Zweckmässigkeiten der Natur selbst gehört. Die „Gesetzmeierei“ und die von der Sitte den Menschen auferzwungenen widernatürlichen Tugenden und Gebräuche sind das Ausroden der Wälder, die Absperrung der frischen Luft und des Sonnenlichts der geistigen Natur.
Und wenn wir nun noch sehen, wie gänzlich Gesetz und Sitte ihren angeblichen Hauptzweck verfehlen, das heisst, die Sicherheit, das materielle und geistige Wohlergehen und die menschliche Glückseligkeit zu fördern, so müssen wir uns sagen, dass sie auch Unmögliches anstreben, dass sie einen Eisenbahnverkehr mit dem Monde zu bewerkstelligen oder Berge zu versetzen suchen.
E.H.S.
(Libertas 6, Samstag, 02. Juni 1888, S. 5.)
Anmerkungen
- Die „New Yorker Volkszeitung“ war die am längsten erscheinende Tageszeitung aus der Arbeiterbewegung in deutscher Sprache in New York. Sie wurde 1878 gegründet und erschien bis 1932.
- Alexander von Humboldt (1769–1859) und Carl Ritter (1779–1859) gelten als die Begründer der wissenschaftlichen Geografie.