Libertas

„Freiheit, nicht die Tochter, sondern die Mutter der Ordnung“ – Proudhon

Revolutionäre Schauspiele.

Das waren tiefe und wertvolle Betrachtungen, die Colonel Ingersoll neulich im „Truth Seeker“ und einer andern New Yorker Zeitung bezüglich der respektiven Nützlichkeit der Kirche und der Bühne für die Zivilisation anstellte. Wer das Drama am meisten liebt, hasst die Kirche, und wer um den Ruhm und die Sicherheit der Kirche am meisten besorgt ist, muss in dem Drama deren gefährlichsten und erfolgreichsten Rivalen erkennen. Einem Dichter wird es nachgesagt, dass er die Bemerkung gemacht habe, wenn es ihm gestattet sei, des Volkes Lieder zu schreiben, es ihm gleichgültig sei, wer es regiere und kontrolliere. So können wir sagen, gebt uns eine freie, unabhängige Bühne, und wir werden uns fürderhin nicht mehr um die Kanzel bekümmern. Aber unglücklicherweise ist sogar das Theater durch habsüchtige Moralisten und heuchlerische Puristen in eine Schule zur Pflege des Aberglaubens und der Unwissenheit umgewandelt worden. „Wilhelm Tell“ ist von der deutschen Bühne verbannt, „Germinal“ von der französischen, und „Ostler Jo“ kann nicht von einer Dame in der fashionablen Gesellschaft von Washington vorgetragen werden, ohne ihr das zornige Missvergnügen des Pöbels der respektablen Narren und Humbuger zuzuziehen. Die Bourgeoisie hat dem Theater sogar ein demütigender Kompromiss mit den kriechenden Kreaturen der orthodoxen Kanzel aufgezwungen, sodass heutzutage mit Ausnahme einiger sehr wenigen Schauspiele die Lehren der Bühne nicht heilsamer und nicht vernünftiger sind, als die Predigten solcher Hanswurste wie Talmage, Dix, Jones oder Small.

Um so wertvoller sind die Ausnahmen. Ich möchte die Aufmerksamkeit von Radikalen und von Personen mit fortschrittlichen Ideen und Sympathien auf einige derselben lenken.

Kein Egoist sollte es versäumen, Gilbert und Sullivans komische Oper, „The Pirates of Penzance“, zu sehen. Die Schönheit der Pflicht und die Heiligkeit des gegebenen Worts bilden die „Moral“ dieses reizenden Stückes. Und Revolutionäre sollten meilenweit gehen, um die Gelegenheit wahrzunehmen, „The Queen’s Favorite“ zu sehen. Es ist eine herrliche und vorzügliche Satire der Farce der parlamentarischen Agitation, der Politik, der Diplomatie und der Regierungsgeschäfte im Allgemeinen. Ein solches Schauspiel ist so viel wert, wie zehn Bände über Zivildienstreform, Steuerreform, Mietkasernenreform oder politische Verbesserungen. Ich kann mich hier nicht auf eine gründlichere Besprechung einlassen, aber ich kann den Lesern von Libertas die Versicherung geben, dass, wenn sie das Schauspiel einmal gesehen haben, die Erinnerung an dasselbe ihnen stets eine tiefe Befriedigung und lebhaften Genuss bereiten wird.

„Henrietta“, eine besonders für Robson und Crane geschriebene Komödie (von Ingersoll enthusiastisch bewundert), welche dieselbe mit absoluter Vollendung spielen, ist geradezu erstaunlich in ihrer kühnen, schonungslosen Verurteilung des Hazardspiels, der Spekulation, der Unehrlichkeit und Unsittlichkeit des modernen Geschäftslebens. Man wundert sich, wie es auch nur eine einzige Nacht von den Baumwollenkönigen, den Kohlenbaronen, den Napoleons der Wall Street, den Eisenbahnmagnaten und all den herrschenden Mächten in der Handelswelt geduldet wird. Dass es geduldet wird, dazu sollten sich alle Freunde des Fortschritts Glück wünschen. Man kann sich keine bessere Satire auf die New Yorker Gesellschaft mit ihren fashionablen Kirchen, Protzenklubs und Geschäftsverhandlungen denken. „Henrietta“ wird mehr Gutes tun, als all das Pathos und die Beredsamkeit, womit die Adler der ethischen Bewegungen die Geschäftsleute beschwören, ihre Handlungen zu moralisieren.

„Henrietta“ und „The Queen’s Favorite“ sind keine unbedeutenden Faktoren in der Revolution, welche alle Dinge neu gestaltet, und aus Anerkennung ihres Einflusses und Wertes sollten sie sogar „nach der Revolution“ erhalten und geschätzt werden. Wenn einst die Kirche begraben und vergessen und die politische Maschine aus der Welt gefegt sein wird, werden sich die Menschen der freien Gesellschaft noch immer an diesen beiden Stücken ergötzen. Vive la Révolution Sociale!

V. YARROS.

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 5.)

Anmerkungen

  • Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
  • Der erwähnte „The Truth Seeker“ ist eine seit 1873 erscheinende Zeitschrift der Freidenker-Bewegung, für den damals u. a. auch der Freidenker Robert Green Ingersoll (1833–1899) schrieb.
  • Bei den im Text erwähnten Werken handelt es sich um Wilhelm Tell von Schiller, Germinal von Zola, Die Piraten von Penzance von Gilbert und Sullivan und The Henrietta von Bronson Howard (1842–1908). Ostler Jo und The Queen's Favorite konnten bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht identifiziert werden.
  • Stuart Robson (1836–1903) und William H. Crane (1845–1928) waren damals für ihre gemeinsamen Auftritte v.a. in Shakespeare-Dramen bekannte Schauspieler.
  • „Talmage, Dix, Jones oder Small“: James Edward Talmage (1862–1933) war ein führender Mormone; Morgan Dix (1827–1908) ein bekannter religiöser Autor; beim erwähnten Jones handelt es sich vermutlich um Jenkin Lloyd Jones (1843–1918), ein unitarischer Theologe und Missionar; Small lässt sich nicht eindeutig zuordnen.

Wiederholte Vermeidung der Kernfrage.

Wie ich erwartet hatte, sträubt sich Herr Most in seiner Kontroverse mit mir über Privateigentum, Kommunismus und Staat noch so sehr wie je, auf den Kernpunkt der Sache einzugehen und den Versuch zu machen, meinen eigentlichen Standpunkt zu untergraben, und als einzige Antwort auf meine Herausforderung, das zu tun, versteckt er sich hinter dem Namen von Marx, nicht einmal auf eigene Rechnung den Gebrauch der Waffen wagend, mit denen letzterer jenen Standpunkt angriff. Herr Most hatte versprochen, sich zu Gunsten des Privateigentums zu erklären, wenn ich ihm beweisen werde, dass dasselbe mit Grossbetrieb ohne Ausbeutung der Arbeit vereinbar sei. Er hatte mich allerdings gewarnt, ihn zu diesem Zweck nicht auf Proudhons Banksystem zu verweisen. Aber ich erwiderte, dass er verpflichtet sei, meine Proposition aufgrund irgendeines Beweises, den ich vorbringen würde, zu akzeptieren oder aber die Hinfälligkeit meines Beweises zu demonstrieren, mit anderen Worten, dass er meine Beweisführung nicht zurückweisen könne, ohne sie vorher zu widerlegen. Dann sagte ich ihm, dass meine Beweisgründe genau in jenem Prinzip der Freiheit und der Organisation des Kredits beständen, welches in Proudhons Banksystem oder anderen Systemen ähnlicher Natur zum Ausdruck gelange, und ich verwies ihn auf eine unlängst veröffentlichte Abhandlung, in welcher ich den Prozess auseinandersetzte, durch welchen der frei organisierte Kredit den Wucher – d. h. die Ausbeutung der Arbeit – abschaffen und den Grossbetrieb mehr als je erleichtern würde, ohne das Privateigentum anzutasten.

Nun sollte man doch annehmen, dass in der hierauf erfolgten Antwort der angedeutete Prozess einer Prüfung unterworfen und der Fehler in demselben aufgedeckt werde. Aber hat sich Herr Most diese Mühe genommen? Nicht er. Seine einzige Antwort ist, dass er Proudhons Banksystem seit Marx für abgetan halte, dass dasselbe fünfzig Jahre hinter unsrer Zeit liege, und dass es durchaus nicht einleuchtend sei, dass die Behauptung irgendetwas für sich habe, dass unter den heutigen Vermögensungleichheiten ein jeder kreditfähig werden könne. Nein, Herr Most, und es ist auch durchaus nicht einleuchtend, dass je eine solche Behauptung von irgendeinem vernünftigen Verfechter der Organisation des Kredits aufgestellt worden ist. Die eigentliche Behauptung ist nicht, dass mit der Abschaffung der Monopolisierung des Kredits jedermann sogleich kreditfähig werden würde, sondern dass, wenn aller oder die Hälfte oder ein Viertel des Kredits, der unter einem freien System auf der Stelle disponibel wäre, zur Nutzanwendung gelangte, der Produktion und dem Unternehmen ein grosser Vorschub gegeben würde, welcher allmählich die Nachfrage nach Arbeit vervielfältigen und folglich den Arbeitslohn erhöhen und in letzter Folge die Zahl kreditfähiger Leute derartig vergrössern würde, bis schliesslich jeder Arbeiter imstande wäre, seinem Arbeitgeber zu erklären: „Sehen Sie, Boss, Sie sind ein guter Geschäftsführer und ich bin willens, unter ihrer Leitung auf einer streng rechtlichen Basis weiterzuarbeiten; aber sofern Sie sich nicht mit einem Ihrer Arbeitsleistung entsprechenden Anteil an unserm gemeinschaftlichen Produkt zufriedengeben und mir den Rest für meine Arbeitsleistung überlassen, werde ich nicht länger für Sie arbeiten, sondern ein eigenes Geschäft eröffnen mit dem Kapital, das ich jetzt auf meinen Kredit hin erlangen kann.“ Herrn Mosts Verdrehung der Behauptungen der Freunde des Freibankwesens zeigt, dass er deren Argumente oder System nicht kennt, was vielleicht auch seine Unwilligkeit erklärt, denselben anderswie zu begegnen, als durch ewige Wiederholungen des Zaubernamens Marx. Proudhons Banksystem mag fünfzig Jahre hinter der Zeit zurück sein, aber es liegt offenbar weit vor dem Punkt voraus, den Herr Most auf dem Pfade seiner ökonomischen Untersuchungen erreicht hat.

Selbst noch mehr auf der Hut ist der vorsichtige Redakteur der „Freiheit“ bei der Umgehung der folgenden Frage, die ich à propos seines Versprechens an ihn stellte: „Wenn der Kommunismus, wie Herr Most gewöhnlich behauptet, der Freiheit wirklich keinen Abbruch tut und an und für sich solch eine gute und vollkommene Sache ist, warum ihn dann fallen lassen zu Gunsten des Privateigentums, einfach weil die Möglichkeit nachgewiesen ist, dass letzteres nicht notwendigerweise die Ausbeutung der Arbeit bedinge? Sich bereit erklären, dies zu tun, heisst offenbar das Zugeständnis machen, dass, abgesehen von der Ausbeutung, das Privateigentum dem Kommunismus vorzuziehen ist und dass, unter Voraussetzung der Ausbeutung, der Kommunismus nur als das kleinere Übel gewählt wird.“ Herr Most wusste, dass er nimmermehr zugestehen dürfe, dass der Kommunismus die Freiheit beschränke. Doch konnte er die Frage nicht beantworten, ohne dies Zugeständnis zu machen. So liess er sie denn wohlweislich unberücksichtigt.

Aber was sagt er denn in seinem drei Spalten langen Artikel?

Nun, um einen Punkt zu erwähnen, versucht er, seine Leser glauben zu machen, dass ich meine mehr suggestiven als konklusiven Bemerkungen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, dass der kommunistische Standpunkt, gegründet wie er ist auf der Voraussetzung der Notwendigkeit grosser Kombinationen zwecks Grossbetriebs, bald untergraben werden möchte infolge der neuerdings sich kundgebenden Tendenz nach Vereinfachung und Wohlfeilmachung der Maschinen – ich sage, er versucht seine Leser glauben zu machen, dass ich diese Bemerkungen als ein wesentliches Glied in der Kette meiner Argumentation anführte. „Aufgrund solcher Einbildungen“, bemerkt er, „sollen wir uns überzeugen lassen, dass der privat-kapitalistische Anarchismus dem anarchistischen Kommunismus vorzuziehen sei“, ohne auch nur mit einem Worte meine ausdrückliche Erklärung zu beherzigen, dass ich die Idee auswarf, wofür sie wert war und sie als für meinen Standpunkt nicht wesentlich bezeichnete.

Nichtsdestoweniger ist es nicht leicht einzusehen, warum er diese Idee als so gänzlich chimärisch betrachten solle, da ihm doch bei dem Versuch, den Kommunismus als praktisch ausführbar hinzustellen, die Voraussetzung so leicht wird, dass die Zeit nicht mehr ferne sei, wo es einen solchen Überfluss an Produkten geben wird, dass die Individuen nicht mehr daran denken werden, sich über den Besitz derselben herumzustreiten, sondern wie Vögel im Hanfsamen leben werden. Von den beiden Hypothesen erscheint mir die letztere als die fantastischere. Gewiss werden noch grosse Fortschritte in der Richtung der Arbeitsersparung gemacht werden, und ich bezweifle nicht im Geringsten, dass bei einer besseren Gesellschaftseinrichtung jeder gesunde Mensch dereinst imstande sein wird, sich eine komfortable Existenz mittels sehr weniger Stunden Arbeit täglich zu erringen. Aber dass je ein solches Verhältnis zwischen menschlicher Arbeit und den Gegenständen menschlichen Verbrauchs obwalten wird, wie es jetzt zwischen Vogelarbeit und Hanfsamen besteht, oder dass Grund und Boden und anderes Kapital je in solchem Überfluss vorhanden sein werden, wie das bei Wasser, Luft und Licht der Fall ist, kann nicht zugegeben werden.

Sollten jedoch die Mittel zum Leben je so gänzlich ausser Beziehung mit menschlicher Arbeit geraten, dass alle Menschen sich zum gesamten Reichtum etwa in ähnlicher Weise verhalten werden, wie sie sich heutzutage zur Luft verhalten, dann werde ich zugeben, dass, soweit der materielle Genuss in Betracht kommt, der Kommunismus praktisch ausführbar (ich sage nicht, ratsam) sein wird, ohne Gefahr für die Freiheit. Bis dahin aber, darauf muss ich bestehen, wird seine Verwirklichung und Aufrechterhaltung einen Staat bedingen.

Doch, fragt mich Herr Most, wenn die Respektierung des Privateigentums denkbar ist ohne den Staat, warum ist dann der Kommunismus nicht ebenso denkbar? Einfach, weil die einzige Gewalt, die je nötig sein wird, um die Respektierung des Privateigentums zu sichern, die Gewalt der Defensive ist, die Gewalt, welche den Arbeiter im Besitze seines Erwerbs oder im freien Austausch desselben schützt, während die Gewalt, welche die Sicherung des Kommunismus benötigt, die Gewalt der Offensive ist, die Gewalt, welche den Arbeiter zwingt, seine Produkte mit den Produkten Aller zusammenzuwerfen und ihm verbietet, seine Arbeit wie seine Produkte zu verkaufen. Nun ist aber die Gewalt der Offensive das Prinzip des Staates, während die Gewalt der Defensive eine Seite des Prinzips der Freiheit ist. Das ist die Erklärung, warum das Privateigentum nicht einen Staat bedingt, während der Kommunismus ohne denselben unmöglich ist. Herr Most scheint von dem wirklichen Wesen des Staates so wenig zu verstehen wie von Proudhons Banksystem. Er bekundet sich in seiner Opposition gegen den Staat nicht als ein intelligenter Bekämpfer der Autorität, sondern einfach als ein Rebell gegen die bestehenden Gewalten.

Aber wozu sich überhaupt mit ihm in eine Kontroverse einlassen? Gesteht er nicht gleich im Anfang des Artikels, den ich hier bespreche, zu, dass er sich vergeblich „an den Kopf gefasst“ habe, dass sein Gehirn sich weigere, meine Unterscheidung zwischen dem individuellen Besitz seines Erwerbs seitens des Arbeiters einerseits und der Summe der gesetzlichen, den Inhabern des Reichtums gewährten Privilegien anderseits zu fassen? Ist da noch Hoffnung, dass solch ein Geist je ein ökonomisches Gesetz fassen wird? Der Grund, den er für seine Unfähigkeit, diese Unterscheidung zu erkennen, anführt, liegt in seiner Überzeugung, dass Privatbesitz und Privilegium untrennbar seien. Je mehr die Einen ihr Eigen nennen, sagt er, desto weniger können Andere imstande sein, zu besitzen. Das ist nicht der Fall, wo alles Eigentum sich auf die Arbeit gründet, und ich begünstige kein anderes Eigentum. Das gilt nur von dem auf wucherbasierten Eigentum. Aber der Wucher, wie bereits gezeigt wurde, beruht auf dem Privilegium. Wenn das Eigentum des Einen durch die verstärkte Produktivität seiner Arbeit anwächst, wächst auch das Eigentum Anderer, statt sich zu verringern, in nahezu demselben Grade. Dieses Jahr produziert A 100 an Hüten und B 100 an Schuhen. Jeder verbraucht 50 seines eigenen Produkts und tauscht die übrigen 50 aus gegen die übrigen 50 des Andern. Gesetzt nun, A’s Produktion bleibe sich für das nächste Jahr gleich, während diejenige B’s, ohne Extraarbeit, auf 200 steige. In diesem Falle werden A’s übrige 50, statt wie in diesem Jahr gegen B’s übrige 50 aufzugehen, gegen 100 von B’s Produkt aufgehen. Unter dem Privatbesitztum und in Abwesenheit des Wuchers bedeutet ein Mehr für den Einen nicht ein Weniger für den Andern, sondern ein Mehr für alle. Wo bleibt da das Privilegium?

Aber es kümmert Herrn Most eigentlich wenig, wie ein Mensch in ökonomischen Angelegenheiten denkt. Ihm ist jeder ein Bundesgenosse, der im Dynamit das Universalheilmittel erblickt. Wenn ich auch beweisen sollte, dass die Verwirklichung meiner ökonomischen Ansichten unser Gesellschaftssystem auf den Kopf stellen würde, er würde mich dennoch nicht als ein Revolutionär ansehen. Er erklärt rundweg, ich sei kein Revolutionär, weil ich bei dem Gedanken an die kommende Revolution (mittels Dynamit, meint er) eine Gänsehaut bekomme. Nun, ich gestehe freimütig, dass ich an dem Gedanken an Blutvergiessen, Verstümmelung und Tod keinen Gefallen finde. Meine Gefühle empören sich bei dem Gedanken an diese Dinge. Und wenn der Gefallen daran das Erfordernis eines Revolutionärs ist, dann bin ich kein Revolutionär. Wenn Revolutionär ein Synonym für Kannibale wird, dann schliessen Sie mich gefälligst aus. Aber obgleich sich meine Gefühle empören, so stehe ich doch nicht unter ihrer Herrschaft und gestatte ihnen nicht, mich zu einem Feigling zu machen. Mehr als vor Dynamit und Blut schrecke ich vor dem Gedanken eines permanenten Gesellschaftssystems zurück, welches das langsame Sterben und Verderben der fleissigsten und verdienstlichsten seiner Mitglieder zur Notwendigkeit macht. Sollte ich je überzeugt werden, dass eine Politik des Terrorismus befolgt werden müsse, um unser heutiges Gesellschaftssystem zu stürzen, so würden die lautesten Schreier nach Blut unserer Tage mich nicht in dem Stoizismus übertreffen, mit welchem ich dem Unvermeidlichen entgegensehen würde? In der Tat, konsequent bis ans Ende, habe ich die Überzeugung, dass unter solchen Umständen manche, die mich heute für hasenherzig halten, die Steinherzigkeit verurteilen würden, mit welcher ich jedes Gefühl des Mitleids den Forderungen des Terrorismus opfern würde. Es ist also weder Furcht noch Sentimentalität, was mich zur Opposition gegen die Anwendung der Gewalt bestimmt. Wie stupid, wie ungerecht daher von Herrn Most, mich als vor der sozialen Revolution drei Kreuze schlagend hinzustellen, einfach weil ich beharrlich gemäss meiner wohlbekannten Überzeugung handle, dass die Gewalt in der Volkswirtschaft die Wahrheit nicht an die Stelle der Lüge zu setzen vermag.

T.

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 4–5.)

Anmerkung

Tucker führt hier seine Diskussion mit Johann Most fort, welche in der Libertas 2 begann.

Staat und Gesellschaft.

„Sie da, hören Sie mal! Sie haben neulich gesagt, dass wir keinen Staat brauchten; na, das würde mal ’ne schöne Wirtschaft geben! Wenn nur eine ganz kleine Gesellschaft gemeinsam etwas beraten und ausführen will, so muss schon ein Präsident und müssen Beamte gewählt werden.“

Obige Worte wurden mir vor einiger Zeit flüchtig im Vorübergehen von einer weisen Frau zugeraunt. Ort, Zeit und Umgebung waren ungünstig für eine Diskussion; denn wir befanden uns an der Ausgangstür eines Saales; das Gedränge daselbst war ziemlich stark, da ein über Erwarten lang gewordener Vortrag überstanden und der hungrige Magen in Vorgeschmack des zu Hause harrenden Mittagsmahles zur Eile antrieb.

Was kann man unter solchen Umständen erwidern! Die Sprecherin schien auch auf eine Erwiderung gar nicht zu rechnen; denn als sie ihr geflügeltes Wort von sich gegeben, stürzte sie sich ins dichteste Gedränge. Ich hätte ihr nachrufen mögen: „Warum so eilig, Madam? Sie haben soeben ein grosses Wort ausgesprochen, welches sehr zu Gunsten der anarchistischen Lehren spricht. Diese Frage kann man nicht so kurz übers Knie brechen; ich kann Ihnen zeigen, dass Sie nicht gegen, wohl aber für den Anarchismus gesprochen haben.“

Ich musste diesmal aber meine Einwendungen für mich behalten; die Dame war bald im Gedränge verschwunden, und nur flüchtig konnte ich von ihrem triumphierenden Gesichte die Worte ablesen: „Von diesem Stoss erholt er sich nicht wieder!“

Ich habe obige Geschichte so ausführlich erzählt, weil sie charakteristisch ist für die Art und Weise, in der man gewöhnlich den Anarchismus abzutun versucht. Ein bis zwei stehende Redensarten, so ganz beiläufig hingeworfen, scheinen Jedem zu genügen, um die Haltlosigkeit der ganzen Lehre zu beweisen. Wozu sich auch erst auf einen Angriff vorbereiten! Wozu erst einen ordentlichen Anlauf nehmen, wenn es sich um einen so schwindsüchtigen Feind wie den Anarchismus handelt! Eine leise Berührung mit dem kleinen Finger muss ja die ganze Jammergestalt sofort über den Haufen werfen!

Es ist eigentlich zum Rasendwerden, dass man sich von den Menschen für so dumm ansehen lassen muss! Auch ist wenig Aussicht vorhanden, an dieser Sachlage etwas zu ändern; denn so oft und so gründlich man auch die alten, fadenscheinigen und abgetragenen Argumente gegen den Anarchismus widerlegen mag, immer werden sie einem mit der liebenswürdigsten Unverfrorenheit wieder unter die Nase gehalten.

Soeben kommt mir der „Freidenker“ vom 13. Mai zu Gesicht, und da sehe ich, dass Herr Boppe in einem Artikel: „Mensch und Staat“, auch wieder die alten, bekannten Beschwörungsformeln gegen den Anarchismus der Reihe nach aufmarschieren lässt. Ich muss beim Durchlesen des Schriftstückes unwillkürlich an den Kapuziner aus „Wallensteins Lager“ denken. Welche mögen wohl die Kroaten sein, die Herrn Boppe (drohend oder ermutigend?) die Worte zuflüstern:

Bleib da, Pfäfflein, fürcht dich nit; Sag dein Sprüchel und teils uns mit!

Die alte Geschichte vom „Urzustand“ will ich diesmal nicht auf Herrn Boppes Konto schreiben; denn die erzählt er augenscheinlich nur, weil die Kroaten sie durchaus hören wollen. Herr Boppe blamiert sich eigentlich durch diese Geschichte; denn er sagt weiterhin selbst, dass die Anarchisten dem „Staate“ eine „Gesellschaft“ substituieren wollen. Der letzte Teil des Artikels lässt übrigens für mich keinen Zweifel mehr darüber, dass Herr Boppe die Idee des Anarchismus ganz gut erfasst hat; ob es nun aber sein Eigendünkel ist, oder ob ihn die bösen Kroaten dazu zwingen, das Ding um jeden Preis anders zu nennen, das vermag ich nicht zu sagen. Weitere Belehrung würde ihm gegen diese beiden Vorgesetzten – Eigendünkel und Kroaten – nichts helfen können: Es ist Herr Boppes eigene Gewissenssache, ob er seiner bessern Einsicht oder seinen Vorgesetzten folgen will.

Es gibt aber noch andere Menschen, welche auch viel Albernes über den Anarchismus denken und sagen, aber nur, weil sie es nicht besser verstehen und weil sie sich zu sehr nach grossen Männern, wie Herr Boppe einer ist, zu richten pflegen; sie sind ehrlich, wie Herr Boppe auch, aber ausserdem lassen sie sich weder durch Eigendünkel noch durch Rücksicht auf Kroaten bestimmen, ihre bessere Erkenntnis einem früher verteidigten Irrtum preiszugeben. Solche Menschen habe ich im Auge, wenn ich es in dem Nachfolgenden unternehme, die Quelle aller gegenseitigen Missverständnisse zwischen Anarchisten und ehrlichen, denkenden Nicht-Anarchisten aufzudecken. Diese Quelle liegt in der Verwechslung zwischen Gesellschaft und Staat. Wenn einmal über diese beiden Begriffe die nötige Klarheit geschaffen sein wird, dann fallen die nichtigen Einwände gegen den Anarchismus in sich selbst zusammen. Wenn man erst begriffen haben wird, dass mit der Abschaffung des Staates nicht die Auflösung der Gesellschaft gemeint sein kann, wenn man zu der Einsicht gelangt sein wird, dass das Gute, welches die Menschen durch gemeinsame Anstrengung erreicht haben, nicht dem Staate, sondern der Gesellschaft zu verdanken ist, dann werden endlich auch dem modernen Don Quijote, welcher den „Riesen“ Anarchismus bekämpft, die Augen darüber aufgehen, dass sein „Rozinante“ ein alter Klepper und sein „Helm des Mambrinus“ ein blechernes Barbierbecken ist.

Der Anarchismus bekämpft nicht die Gesellschaft, sondern den Staat; der Anarchismus lehrt, dass Staat und Gesellschaft voneinander getrennt werden können; dass die Fortschritte in der Zivilisation nicht dem Staate, sondern der Gesellschaft zu verdanken sind; dass der menschliche Fortschritt mit einem Rückschritt des Staates, und umgekehrt ein Rückschritt der menschlichen Gesellschaft mit einem Umsichgreifen des Staates immer Hand in Hand gegangen sind und noch gehen. Der Anarchismus ignoriert nicht, wie seine Gegner, die Tatsache, dass der Staat gewissen unabweisbaren Erfordernissen des Fortschritts nur den Weg der gewaltsamen Revolution offen lässt und dann nach verhältnismässig grossen Opfern nur einen kleinen Gewinn übrig lässt.

Der Anarchismus erkennt eine natürliche Gleichberechtigung aller Menschen an, er kann sich für keine Zivilisation begeistern, welche einer künstlichen Ungleichmässigkeit der Menschenrechte Vorschub leistet; gleichzeitig aber vertritt er die Überzeugung, dass eine Gesellschaft, je mehr sie den Staat ganz abgestreift hat, eine umso natürlichere Grundlage eines ungehemmten, das Wohl aller gleichmässig fördernden, keiner gewaltsamen Revolution bedürfenden Fortschritts sein muss.

Das ist nun alles recht schön gesagt, aber verstanden wird es so ohne Weiteres noch nicht, zumal es so Viele nicht verstehen wollen. Die Frage bleibt noch offen: „Wo hört die Gesellschaft auf, wo fängt der Staat an, und umgekehrt?“ Die meisten Menschen sehen die Gesellschaft schon in die Grenzen des Staates übergehen, sobald dieselbe irgendwelche Form der Organisation annimmt. Diese sind mit dem Anarchismus bald fertig; denn ausserhalb des Staates können sie nun Herrn Boppes „Urzustand“ erblicken; wollen die Anarchisten diesen nicht, so können sie nur den Staat wollen, also ist „Abschaffung des Staats“ Phrase.

Wir stehen somit noch vor dem Problem, die Grenze anzugeben, welche eine organisierte, zivilisierte Gesellschaft nicht überschreiten darf, ohne dem Staat in die Klauen zu fallen; die Kenntnis dieser Grenze ist nötig, wenn man den Staat abschaffen will, ohne die Gesellschaft zu zerstören. Ich gebe zu, dass für die Meisten eine solche Grenze nicht sichtbar ist, da für sie Staat und Gesellschaft ineinanderfliessen; auf Grund dieses eignen Unvermögens aber gleich die Gegner unpraktische Schwärmer, Fantasten u. dgl. zu nennen, wie das heutzutage bei manchem Gebrauch ist, ist eines gebildeten Mannes nicht würdig. Dass ein Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft existiert, hat schon vor hundert Jahren Thomas Paine gesagt, und Thomas Paine pflegte sich bei dem, was er sagte, auch immer etwas zu denken. Seine darauf bezüglichen Worte lauten ungefähr so: „Viele Menschen haben Gesellschaft und Staat derartig miteinander verwechselt, dass sie wenig oder gar keinen Unterschied zwischen ihnen übrig gelassen haben. Die Gesellschaft entsteht durch unsere Bedürfnisse, der Staat durch unsere Schlechtigkeit. Die Gesellschaft ist in jedem Staate ein Segen, der Staat aber in seiner besten Form ein notwendiges Übel, in seiner schlimmsten aber, ein unerträgliches.“

Nach hundert Jahren sollten wir Paines Ideengang wenigstens so weit entwickelt haben, dass wir sagen könnten: „Der Staat ist im besten Falle ein schwer zu beseitigendes Übel.“

Doch ich will mich nicht weiter auf Autoritäten berufen; wir haben Beispiele genug, an welchen man wenigstens merken kann, dass ausser dem Staate noch eine Gesellschaft existiert, welche ganz anders arbeitet, als der Staat. In schwach besiedelten westlichen Gegenden kommt es oft vor, dass einige Desperados eine ganze Stadt tyrannisieren können. Die Organe des Staates erweisen sich machtlos dagegen, stecken manchmal sogar mit den Strolchen unter einer Decke. Endlich rafft sich die Gesellschaft auf, stellt den Staat mit seinen Gesetzen beiseite, organisiert ein Vigilanzkomité, und sofort macht das bisherige wüste Treiben der musterhaftesten Ordnung Platz. Dieselbe Bevölkerung, welche sich als freie Gesellschaft so gut zu helfen weiss, hatte auch als Staat fungiert, indem sie die Richter, Konstables, etc., erwählte und sich den Gesetzen unterstellte. In diesem Falle aber war sie ohnmächtig und hilflos, im andern nicht. So etwas sollte doch immerhin beweisen, dass Staat und Gesellschaft zwei verschiedene Dinge sind.

Heutzutage sehen wir, dass sich die Arbeiter in eine grosse Gesellschaft gruppieren. Sie haben dadurch schon Aufbesserung der Löhne, Verkürzung der Arbeitszeit, ja sogar schon einigen Schutz gegen willkürliche Entlassung erlangt. Stellenweise ist es ihnen auch gelungen, einen Teil der Staatsmaschine in ihre Gewalt zu bekommen. Sofort werden ihre besten Führer korrupt und unzuverlässig, die von ihnen erwählten Beamten üben Klassenjustiz gegen sie selber, und zur Besserung ihrer Verhältnisse wird von dieser Seite nichts mehr getan. Im ersten Falle gingen die Arbeiter vor als Gesellschaft, im zweiten als Staat. Zeigt sich hier kein Unterschied zwischen diesen beiden Dingen? Noch mehr! Schon das blosse Liebäugeln und Hinneigen der Gesellschaft zum Staat hat Korruption im Gefolge. Die Arbeitsritter und ihre Führer gingen mutig im Dienste der Gerechtigkeit voran und erzielten auch manches, solange sie sich bewusst blieben, dass sie ausserhalb des Staates ständen und diesen als ihren natürlichen Feind zu betrachten hätten. Wie ist das anders geworden, seitdem die innere Organisation der Form des Staates zustrebt und nach aussen hin freundschaftliche Beziehungen mit dem einstigen Feinde kultiviert werden!

Wenn jemand sich die Aufgabe stellte, gegen den Staat alle mögliche üble Nachrede zu erfinden, so könnte er unmöglich alles das aufbringen, was uns die nackten Tatsachen mit mathematischer Genauigkeit demonstrieren. Wer so die besten, die edelsten, die klarblickendsten Männer sofort stolpern und wanken und ihre heiligsten Grundsätze verleugnen sieht, sobald sie sich dem Staate nähern oder von der Wirksamkeit des Staates etwas erhoffen, der wird wohl kaum noch mit Zuversicht auf sich selber zu trauen wagen; der wird kaum noch den Mut haben, zu behaupten, dass seine eigenen Prinzipien vor der freundschaftlichen Berührung mit dem Staate stichhaltig sein müssten.

Es hilft hier den Freunden des Staates nichts, wenn sie sagen, dass man doch eigentlich keinen zwingenden Grund für diese sonderbaren Tatsachen sähe. Die Tatsachen sind einmal da und erscheinen mit einer solchen Regelmässigkeit in Verbindung mit dem Staate, dass in diesem letztern ein Grund dafür liegen muss, ganz gleich, ob man ihn sieht oder nicht. Dass man bei den bisherigen Verbesserungen und Ummodelungen des Staates jenen Grund noch nicht entfernt hat, zeigt die Tatsache, dass dieser neueste Staat noch ebenso korrumpierend, verpestend und degenerierend auf seine Subjekte wirkt wie der frühere. Ebenso zeigen aber auch die Tatsachen, dass die Gesellschaft allein nicht jene Pestatmosphäre des Staates um sich verbreiten muss. (Ich habe solche Tatsachen schon angeführt.) Dann haben wir endlich auch Beispiele, in welchen eine ursprünglich reine, d. h. von den Gebrechen des Staates freie Gesellschaft allmählich zum Staate degenerierte, wie bei den Arbeiterorganisationen der Fall war, welche das Feld ihrer Tätigkeit in die Politik verlegten.

Wenn wir nun die Unterschiede prüfen, welche zwischen einer als Staat existierenden und einer freien Gesellschaft bestehen; wenn wir ferner den Weg verfolgen, den eine ursprünglich freie, später aber zum Staat degenerierte Gesellschaft zurückgelegt hat, dann sollte es doch möglich sein, die charakteristischen Merkmale anzugeben, welche die Eigentümlichkeit des Staates ausmachen, und vor welchen sich die Gesellschaft zu hüten hat, wenn sie nicht wieder dem Staate zur Beute fallen will.

Der erste in die Augen fallende Unterschied zwischen dem Staat und den von mir als Beispiel angeführten Gesellschaften ist der Modus ihrer Entstehung. „Der Staat“, sagt Paine, „entsteht durch unsere Schlechtigkeit, die Gesellschaft aber durch unsere Bedürfnisse.“ Der Staat wurde noch ausnahmslos durch Waffengewalt gegründet, wobei die Triebfeder der Vorteil der Beherrscher war, den Bedürfnissen der Gesellschaft aber zuwidergehandelt wurde. Wo aber die Gesellschaft sich organisiert, wie in einem Vigilanzkomité, wie in einer Arbeitervereinigung, da geben die von der Gesellschaft empfundenen Bedürfnisse den Anstoss dazu, da macht es sich ganz von selbst, dass die fähigsten und besten Männer an die Spitze kommen; da fügt sich Jeder freiwillig in die als notwendig erkannte Disziplin, selbst wenn schwere Opfer damit verbunden sind; der Erfolg aber ist der, dass auch wirklich dem Bedürfnis Rechnung getragen wird. Halten wir daneben den Erfolg, welchen die aus denselben Elementen zusammengesetzte Gesellschaft zu verzeichnen hat, wenn sie sich als Staat organisiert, so wird der Unterschied in die Augen fallen. Die politische Arbeiterpartei von Milwaukee liess in ihrer letzten Plattform alle Anforderungen im Namen der Gerechtigkeit und Menschenrechte in dem Verlangen nach öffentlichen Badeanstalten gipfeln! Bei der Entstehung dieser Organisation als Gesellschaft handelte es sich darum, dass die Ausbeutung der Massen durch Wenige bekämpft würde; das war ein Bedürfnis, welches alle empfanden. Bei ihrer Entstehung als Staat aber war das Ziel, den Herren so und so diese und jene Ämter zuzuteilen. Hierbei konnte man unmöglich von einem Bedürfnis sprechen, welches die Massen empfanden.

Die Entstehung der rein gesellschaftlichen Organisation aus den Bedürfnissen führt zu der Konsequenz, dass sie aufhören muss, wenn das Bedürfnis, welches zu ihrer Entstehung führte, befriedigt ist. So löst sich das Vigilanzkomité auf, wenn Ruhe und Ordnung wieder hergestellt worden sind. Der Staat dagegen erklärt seine Einrichtungen stets in Permanenz, und so werden sie dann zu Handhaben und Geisseln, mit denen menschliche Schlechtigkeit die Gesellschaft verhindert, ihre Bedürfnisse geltend zu machen.

Von jeher haben die Vertreter des Staates danach gestrebt, die Existenz ihrer Einrichtungen künstlich zu rechtfertigen und sie dadurch gegen den Druck der gesellschaftlichen Bedürfnisse zu sichern. Darin liegt ein zweites Unterscheidungsmerkmal zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Organisation; es ist dies der Glaube an die Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Staates. Dieser Glaube, welchen das Kind mit der Muttermilch einsaugen muss, welcher selbst dem Vorurteilslosesten, wie sein eigener Schatten, bis ins Grab hinein folgt, er erklärt die Macht des Staates, er ist die Kette, welche bis heute noch die Gesellschaft verhindert hat, sich von ihrem schlimmsten Feinde zu befreien. Durch diesen Glauben bleibt derjenige frei von dem Odium des Mörders, von der Rache des beleidigten Rechtsgefühls, welcher die frivolsten Morde durch Galgen und Henkerbeil verübt, welcher Millionen seiner Mitmenschen auf Schlachtfeldern verbluten lässt.

Aus dem Glauben an die Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Staates folgt naturgemäss als drittes Kennzeichen des Staates der Glaube an seine Vorzüglichkeit. Wie viel Unheil dieser Erzfeind der Menschheit anrichten darf, wie lange Millionen sein unerträgliches Joch geduldig tragen, ehe sie anfangen, seine Mängel zu sehen, das lehrt ja die Geschichte zur Genüge. Der Glaube, dass man der Sorge für sein Wohlergehen durch eine heilige und unübertreffliche Einrichtung überhoben sei, führt zu Gleichgültigkeit und Abstumpfung des Rechtsgefühls der Massen und macht das Volk zur willenlosen Maschine, durch welche menschliche Bosheit und Niedertracht ihre selbstsüchtigen Absichten auf Kosten der Gesellschaft verfolgen.

Die Rücksicht auf die Raumverhältnisse von Libertas veranlasst mich, hier meine Ausführungen zu schliessen; meine Absicht ist, durch diese Arbeit die Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken, dessen gründliche Bearbeitung zur Klärung der meisten Missverständnisse über den Anarchismus dringend geboten ist. Möge der Erfolg meine Erwartungen bestätigen.

PAUL BERWIG.

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 2–3.)

Anmerkungen

  • Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
  • Zum „Freidenker“ und C. Hermann Boppe vgl. die Anmerkungen hier.
  • Der Kapuziner aus „Wallensteins Lager“ entstammt dem Drama Wallenstein von Friedrich Schiller. Das Zitat findet sich im 8. Auftritt von „Wallensteins Lager“. Auch die erwähnten Kroaten haben dort ihren Auftritt.
  • Das erwähnte Zitat von Thomas Paine ist nicht wörtlich wiedergegeben. Vermutlich bezieht sich Berwig hier auf folgende Stelle aus Common Sense (Der gesunde Menschenverstand) von 1776: „Die Gesellschaft ist in jedem Zustande ein Segen, während die Regierung selbst im besten Zustande nur ein nothwendiges, im schlechtesten Zustande aber ein unerträgliches Uebel ist; [...].“ (deutsche Übersetzung in: Die politischen Werke von Thomas Paine, Erster Band, Philadelphia 1852. S. 178; im engl. Original: „Society in every state is a blessing, but government even in its best state is but a necessary evil; in its worst state an intolerable one; [...].“).

PARTEI.

[„Sturm“. Verlagsmagazin, J. Schabelitz, Zürich, Schweiz.]

Partei ist heute Alles: — Jeder nimmt Sich seinen Stand in einer; Jeder stimmt Der eigenen Wünsche unberührte Saiten Nach ihrem Klang; ob innerlich auch streiten

Gedanken und Gefühle scharf dagegen; Er ist ein Glied der Kette, darf nur regen Sich innerhalb der streng gezogenen Grenzen Und alles Licht, er siehts wie Schatten glänzen

Durch die papiernen Wände der Partei! — Wo aber ist der Mensch, der kühn und frei, Einzig allein die eigenen Wege geht? Stark jedem fremden Einfluss widersteht?

Und der sein Denken, wie sein Wünschen nicht Den Wünschen Andrer schwächlich unterstellt? Der Licht nur will, und nichts als hellstes Licht, Zu klären seines Daseins ganze Welt?!

Als Bruder kennt er nur den Freien an, Und reicht ihm gern zu gleichem Kampf die Hand, Und drückt sie fest-doch niemals darf und kann Zur Fessel werden dieses freie Band! —

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 1.)

Anmerkungen

  • Das Verlags-Magazin war ein Schweizer Buchverlag. Dieser firmiert oft als Verlags-Magazin (J. Schabelitz). Er wurde im Jahr 1864 von Jakob Lukas Schabelitz (1827–1899) gegründet. Der Verlag wurde zu einem der bekanntesten Publikationsorte für oppositionelle Deutsche, die im eigenen Land der Zensur unterworfen waren. Zum Verlagsprogramm gehörten vor allem politische Schriften, darunter Bücher von Friedrich Engels und August Bebel. Zum Autorenkreis gehörten u. a. auch John Henry Mackay, dessen Roman Die Anarchisten in Deutschland aufgrund des Sozialistengesetzes verboten war, und Malwida von Meysenbug.
  • Die erste Auflage der Gedichtsammling Sturm von Mackay erschien 1888 im Verlags-Magazin. Die vierte, vermehrte Auflage ist online bei archive.org verfügbar. Das Gedicht Partei ist dort auf S. 26–27 zu finden.

Bastiat über Regierung.

In Privattransaktionen ist der Einzelne der Richter sowohl seiner eigenen Leistungen wie auch derjenigen, die er empfängt. Er kann immer einen Tausch ablehnen und anderswo handeln. Es liegt keine Notwendigkeit für den Austausch von Dienstleistungen vor, ausser infolge vorherigen freien Übereinkommens. Dies gilt nicht vom Staat, namentlich nicht vor der Einführung repräsentativer Regierung. Ob wir seiner Dienste bedürfen oder nicht, seien sie gut oder schlecht, wir müssen sie annehmen, wie sie uns geboten werden, und den Preis dafür zahlen.

Alle Menschen haben den Hang, ihre eigenen Leistungen zu überschätzen wie diejenigen Anderer zu unterschätzen, und die Privatangelegenheiten würden übel reguliert werden, wenn es nicht irgendein Wertmass gäbe. In den öffentlichen Angelegenheiten haben wir keine solche Garantie (oder kaum eine). Aber immerhin unterliegt die aus Menschen bestehende Gesellschaft der universellen Tendenz, wie nachdrücklich auch das Gegenteil insinuiert werden mag. Die Regierung möchte uns sehr grosse Dienste erweisen, viel mehr als wir wünschen, und zwingt uns, das als einen wahren Dienst anzuerkennen, was häufig etwas ganz Verschiedenes ist, und das geschieht zu dem Zweck, um uns Kontributionen abzuverlangen …

Der Staat ist auch dem Malthus'schen Gesetz unterworfen. Er wirtschaftet fortwährend über seine Mittel hinaus, er vermehrt sich im Verhältnis zu seinen Mitteln, und zieht seinen Unterhalt ausschliesslich vom Eigentum des Volks. Wehe dem Volke, welches die Domaine des Staates nicht einzuengen vermag! Freiheit, Privatinitiative, Wohlstand, Wohlfahrt, Unabhängigkeit, Menschenwürde hängen davon ab.

Sollte jemand die Frage stellen, was für Dienste solche Regierungen wie Assyrien, Babylonien, Ägypten, Rom, Persien, die Türkei, China, Russland, England, Spanien und Frankreich dem Volke geleistet haben, und was Letzteres dafür hat bezahlen müssen, so würde er über die ungeheure Ungleichheit erstaunen.

Schliesslich erfand man die repräsentative Regierung, und aus à priorischen Gründen hätte man glauben können, dass die Unordnung wie durch Zauber aufhören würde. Das Prinzip dieser Regierungen ist folgendes: „Das Volk selber, durch seine Vertreter, soll über die Natur und den Umfang des öffentlichen Dienstes, sowie über die dafür zu leistende Vergütung entscheiden.“ Der Hang, sich das Eigentum Anderer anzueignen, wie der Zug, sein eigenes zu beschützen, kommen so in Berührung. Man könnte annehmen, dass der letztere den ersteren beherrschen wird. Ich habe die Überzeugung, dass der letztere einst vorherrschen wird, aber wir müssen zugeben, dass das bis jetzt noch nicht geschieht.

Warum nicht? Aus einem sehr einfachen Grund. Die Regierungen haben Geschick. Sie handeln methodisch, folgerichtig, nach einem wohl überdachten Plan, welcher fortwährend verbessert wird durch die Tradition und Erfahrung. Sie studieren die Menschen und ihre Leidenschaften. Wenn sie z. B. wahrnehmen, dass das Volk mit kriegerischen Instinkten veranlagt ist, dann schüren und entflammen sie diese fatale Neigung. Sie setzen es durch die Diplomatie nach allen Seiten hin Gefahren aus, und dann verlangen sie natürlicherweise Soldaten, Matrosen, Arsenale und Befestigungen. Oft haben sie nur den Trubel, diese Dinge anzunehmen. Dann haben sie Pensionen, Ämter und Ehrenposten zu vergeben. All dies verlangt Geld. Daher Anleihen und Steuern.

Ist das Volk generös, dann macht sich die Regierung anheischig, alle menschlichen Gebrechen zu heilen. Sie verspricht, den Handel zu heben, den Ackerbau zu fördern, das Fabrikwesen zu entwickeln, Künste und Wissenschaften zu ermutigen, das Elend zu verbannen, u. s. w. Alles, was dazu notwendig ist, ist die Schaffung von Ämtern und die Bezahlung von öffentlichen Beamten. Mit anderen Worten, ihre Taktik besteht in der Präsentierung von Dingen als wirkliche Dienste, welche nichts als Hindernisse sind; dann bezahlt das Volk nicht für seine Bedienung, sondern für seine Dienstbarkeit. Regierungen, welche riesige Dimensionen annehmen, absorbieren schliesslich die Hälfte der Einkünfte. Das Volk ist darüber erstaunt, dass während die Zahl wunderbarer, arbeitsersparender Maschinen, welche die Produktion ins Unendliche zu vermehren bestimmt sind, täglich wächst, es sich immer noch mühselig weiter quälen und so arm wie zuvor bleiben muss.

Das kommt davon, weil die Regierung so grosse Fähigkeiten hat und das Volk so wenige. So wenn es seine Agenten zu wählen hat, diejenigen, welche das Gebiet der Regierungsaufgaben wie die dafür zu leistende Vergütung zu bestimmen haben, wen wählt es da? Die Agenten der Regierung. Es gibt die ausführende Gewalt, wie die Bestimmung der Grenze von deren Tätigkeit und Anforderungen aus seinen Händen. Es ist wie der Bourgeois Gentilhomme, welcher die Auswahl und die Zahl seiner Kleider seinem Schneider überliess.

Jedoch, die Dinge entwickeln sich vom Schlechten zum Schlimmeren und schliesslich gehen dem Volk die Augen auf, nicht über das Heilmittel, denn es gibt bis jetzt noch keins, sondern über das Übel. Das Regieren ist eine so angenehme Beschäftigung, dass jedermann sich derselben hinzugeben wünscht. Daher werden die Ratgeber des Volkes nie müde, zu erklären: „Wir kennen Eure Leiden und wir beklagen sie. Es würde anders damit stehen, wenn wir Euch regierten.“

Diese Periode, welche gewöhnlich eine Zeit lang andauert, ist eine Periode der Empörungen und Insurrektionen. Wenn das Volk unterworfen ist, fallen ihm noch zu seiner alten Bürde die Ausgaben des Kriegs zur Last. Wenn das Volk siegt, dann gibt es einen Regierungswechsel, und die Übelstände wuchern weiter. Das währt so lange, bis das Volk seine wahren Interessen zu erkennen und beschützen lernt. So kommen wir immer wieder darauf zurück: Es gibt kein Heilmittel ausser dem Fortschritt der öffentlichen Intelligenz.

Manche Völker scheinen auffallend dahin zu neigen, die Opfer regierungsmässiger Ausbeutung zu werden. Dies sind diejenigen Völker, wo die Menschen, statt auf ihre eigene Würde und Energie zu vertrauen, sich für verloren betrachten, wenn sie nicht in allen Dingen regiert und geleitet werden. Ohne weit gereist zu sein, habe ich doch Länder gesehen, wo man glaubt, der Ackerbau könne keine Fortschritte machen, wenn der Staat nicht Experimentalfarmen unterhält; dass es bald keine Pferde mehr geben wird, wenn der Staat keine Ställe leitet; und dass die Väter ihre Kinder nicht erziehen lassen, oder ihnen doch unsittliche Dinge beibringen werden, wenn der Staat nicht vorschreibt, was gelehrt werden soll. In einem solchen Lande können Revolutionen rasch aufeinander folgen, und eine Sippe von Herrschern nach der andern abgesetzt werden. Aber die Regierten werden nichtsdestoweniger von der Laune und der Gnade ihrer Herrscher weiterregiert, bis das Volk einsehen lernt, dass es besser ist, die grösstmögliche Zahl von Dienstleistungen in der Kategorie derjenigen zu belassen, welche die dabei interessierten Parteien nach einer billigen Besprechung des Preises gegeneinander austauschen.

Die Revenuen eines Müssiggängers sind wie Werte, die man in die Flammen des Aetna wirft. — Proudhon

(Libertas 4, Samstag, 5. Mai 1888, S. 8.)

Anmerkungen

  • Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
  • Claude Frédéric Bastiat (1801–1850) war ein französischer Ökonom und Politiker. Er kann zur klassischen Ökonomie gezählt werden und gilt als bedeutender Vertreter des Liberalismus. Grosse Bekanntheit erlangte das von ihm geprägte geflügelte Wort „L’État c’est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s’efforce de vivre aux dépens de tout le monde.“ („Der Staat ist eine grosse Fiktion, wonach jedermann danach strebt, auf Kosten jedermanns zu leben.“).

Das Prinzip vom Kostenpreis.
(COST THE LIMIT OF PRICE.)

Vor einiger Zeit deutete ein Korrespondent in Liberty, bei Gelegenheit einer Kritik, darauf hin, dass das Kostenpreis-Prinzip im Widerspruch stehe zu den fundamentalen Grundsätzen des Anarchismus und quasi zu vergleichen sei mit dem Kommunismus der sogenannten kommunistischen Anarchisten. Es schien, als ob jener Korrespondent das Prinzip vom Kostenpreis also formuliert: „Unter der Aegide des Anarchismus muss – und soll – der Selbstkostenbetrag der Preis für alles und für jedermann sein.“ Ein ganz kleines wenig Marxismus – Gleichwert aller geleisteten Arbeit – hinzugedacht, und wir sind in der Tat nicht weit vom Nivellement des Kommunismus entfernt. Indes, für Beides, für jene Formel und den angezogenen Marx’schen Blödsinn, müssen wir Anarchisten uns schönstens bedanken. Josiah Warren, der Vater der Idee vom Kostenpreis, sagt diesbezüglich (True Civilization, p. 42): „Ich habe ausdrücklich auf sich ausgleichende Arbeit hingewiesen, weil wir zwischen den verschiedenen Arten Arbeit, die eine mehr unangenehm u.s.w., unterscheiden müssen. Die Idee vom Kostenpreis umfasst und dehnt sich auf diese Unterschiede aus.“ In demselben Werke, einige Seiten weiter (p. 46), anerkennt Warren selbst die Berechtigung zu einer Entschädigung für Unannehmlichkeiten, welche unter gewissen Umständen aus einem Verkaufe erwachsen. Daneben überlässt Warren die Schätzung und Berechnung der Kosten (Arbeit, Unannehmlichkeit, u.s.w.) dem Übereinkommen zwischen den beteiligten Parteien, die Wertberechnung nach Stunden geleisteter Arbeit allein in staatssozialistischem Sinne damit ausschliessend.

Trotz alledem dürfen wir keine Gelegenheit versäumen, bei Erläuterung unserer Prinzipien auf die wirkliche Bedeutung des Kostenprinzips hinzuweisen und, ähnlich wie Yarros in „Anarchism: Its Aim and Methods“ begonnen, die Art der Realisierung und Geltendmachung des Kostenprinzips zu erklären. Auf die Gefahr hin, oft schon Publiziertes zu wiederholen, muss es immer und immer wieder betont werden, dass das Kostenprinzip nichts ist und sein will, als eine praktische gerechte Norm behufs Ausgleichung der geschäftlichen Beziehungen zwischen Individuen, dessen allgemeine Einführung im Laufe der Zeit eben dieser seiner Eigenschaften willen freiwillig erfolgt. Wenn in unserer heutigen korrupten, durch barbarische Prinzipien geleiteten Gesellschaft ein Individuum diesen Barbarismus gar zu offenkundig zur Schau trägt und seinem Mitmenschen das Fell über die Ohren zieht, so verfällt er und sein Geschäft dem Verdammungsurteile der öffentlichen Meinung, wie z. B. gewisse Pfandleiher, Wucherer, Bordellwirtschaften, u.s.w. Es ist dieses im Grunde genommen eine Inkonsequenz in Hinblick auf die heute gültige Maxime vom Wert im Markte, eine Art unbewusster Hinneigung der Menschennatur zum Richtigen. Man duldet diese Gewerbe, aber man verachtet sie. Mit dem Fortschreiten der Menschheit wird es dahin kommen, dass Individuen, welche sich nicht nach dem Kostenprinzip im Verkehr mit ihren Mitmenschen richten, eine ähnliche Stellung wie heute Pfandleiher und Bordellwirte einnehmen.

Es ziemt sich ferner, darauf hinzuweisen, dass die Wirkung des Kostenprinzips und dessen Anwendung einer weitergehenden Untersuchung bedarf.

B.

(Libertas 4, Samstag, 5. Mai 1888, S. 8.)

Anmerkungen

  • Josiah Warren (1798–1874) war US-amerikanischer Sozialreformer, Musiker, Erfinder und Schriftsteller. Benjamin Tucker widmete Instead of a Book, seine Sammlung von Essays, dem Gedächtnis an Warren, „meinem Freund und Meister […] dessen Unterrichtungen meine erste Quelle des Lichts waren“. Warren lässt sich dem Mutualismus zurechnen, seine Ideen waren aber durchdrungen von einem Individualismus, der sich auf den Standpunkt stellte, dass die persönliche Freiheit nicht hinter der Organisation zurückstehen darf.
  • Warrens True Civilization erschien 1863.
  • Victor Yarros’ Anarchism: Its Aim and Methods erschien 1887.
  • Der Ausdruck „Cost the limit of price“ wurde von Josiah Warren geprägt und bezieht sich auf eine Regel, die eine bestimmte Version der Arbeitswerttheorie beschreibt. Warren argumentierte, dass gerechte Bezahlung für Arbeit (oder für das Produkt der Arbeit) nur durch eine gleichwertige Menge an Arbeit (oder ein Produkt, das eine gleichwertige Menge Arbeit enthält) erfolgen könne. Daher betrachtete er Gewinn, Miete und Zinsen als ungerechte wirtschaftliche Praktiken. Dieser Gedanke wurde von Benjamin Tucker in seiner Zeitung Liberty und in seinen Büchern weiter verbreitet und populär gemacht. Tucker erklärte, dass es zwei Arten von Sozialismus gibt: einen autoritären (Marx) und einen libertären (Proudhon und Warren). Beide Richtungen des Sozialismus hätten jedoch gemeinsam, dass sie die Arbeitswerttheorie vertreten.

Freiheit und Herrschaft.

Den Bauern eines gewissen deutschen Ortes wird nachgesagt, dass sie im Jahre 1848 in ihren Forderungen gegen die Regierung sehr extravagant gewesen seien. Als nämlich die Losung ausgegeben wurde: „Pressfreiheit, keine Zensur!“, da riefen sie: „Nichts da! Wir müssen alles haben, Pressfreiheit und Zensur!“

Das waren dumme deutsche Bauern, welche der, von Jugend auf in der Ausübung republikanischer Freiheit geübte, Amerikaner nur mitleidig lächelnd über die Achsel ansieht. Dazu hätte nun unser Amerikaner gar keine Ursache; denn über den Begriff der Freiheit ist er noch unwissender, als jene Bauern über die Pressfreiheit waren. Solange es Fortschritt gibt, hiess die Losung desselben: „Freiheit! Nieder mit der Herrschaft!“ Der Amerikaner aber sagt: „Nichts da, wir müssen beides haben, Freiheit und Herrschaft!“ Er scheint einen gewissen Stolz darein zu setzen, der Welt zu zeigen, dass man auch ohne Fürsten den vollen Genuss des Despotismus haben kann. Durch nichts kann sein republikanischer Unwille mehr angeregt werden, als wenn so ein dummer Grüner sich einbildet, dass er hier Manches tun dürfte, was ihm draussen nicht erlaubt war.

Zur rechtzeitigen Dämpfung solcher unerlaubten Freiheitsgefühle werden dem neuen Ankömmling, noch vor dem Betreten dieses gastlichen Gestades, gründlich die Sachen untersucht. Wenn er so sehen muss, dass sich hier eine hohe Obrigkeit um seine privatesten Privatangelegenheiten (selbst seine Leibwäsche nicht ausgeschlossen) bekümmern darf, werden ihm schon beizeiten seine ausländischen Freiheitsbegriffe vergehen. Wer sich nach diesen ersten Vorstudien auch noch eine Zeitlang mit der Philosophie des Temperenz- und Sonntagszwanges und ähnlicher schöner Einrichtungen befasst, der wird bald die Pointe der republikanischen Freiheit begriffen haben und kann an der Feier des vierten Juli mit dem vollen Verständnis und der ganzen Begeisterung eines echten Amerikaners teilnehmen.

Es ist nun einmal vorgekommen, dass ein Grüner, welcher diese Art Republikanismus sehr schnell und leicht begriffen hatte, sich überzeugt fühlte, dass man in seiner Heimat doch noch weiter darin sei. Dies veranlasste ihn, geringschätzig auszurufen: „Na, det is mer 'ne scheene Republik, nich mal keenen Keenig haben se hier!“

Diese Selbstüberhebung ist aber bei dem gesetz- und ordnungsgläubigen Amerikaner übel angebracht. „Du Grünhorn“, ruft er, „bildest Dir wohl ein, dass wir Republikaner nicht auch ohne König alles das tun können, was Ihr in Europa ohne einen solchen Herren gar nicht mehr fertigbringen könntet.“

„Wir hängen in einem Jahre mehr Menschen, als eins Eurer grössten Königreiche in zehn Jahren; ja, ausser dem konservativen England und teilweise dem heiligen Russland haben die Übrigen die gute alte Sitte des Hängens ja schon ganz aufgegeben.“

„An Stelle der wenigen Staaten, in welchen bei uns niemand mehr durch das Gesetz getötet werden darf, habt Ihr z. B. das ganze Königreich Italien, wo trotz der Existenz eines Königs auch kein Todesurteil mehr gefällt werden darf.“

„Unser Gerichtsverfahren ist ebenso langwierig, schwerfällig, kostspielig und unzuverlässig für Denjenigen, welcher sein Recht sucht, wie in dem konservativsten Eurer Königreiche.“

„Unser Gesetzes- und Aktenstil ist noch schwerfälliger, unverständlicher und mittelalterlich-pedantischer als irgendwo bei Euch.“

„Die Prügelstrafe blüht in den zivilisiertesten unserer Staaten.“

„Der Press- und Redefreiheit können wir, mit unseren Gesetzen gegen obszöne Literatur, gegen Gotteslästerung, gegen Injurien, etc., ebenso gut beikommen, wie Ihr mit Eurer Zensur. Ja, wenn es uns passt, können wir mittels der Verschwörungstheorie jemanden wegen seiner Worte und Schriften oder gar seiner Gesinnung an den Galgen hängen.“

„Für unsere 'wühlerischen Elemente' ist uns die bei Euch beliebte Ausweisungsmethode lange nicht radikal genug; wir lassen sie gar nicht fort, wenn sie auch wollten, sondern sperren sie in den Kerker oder hängen sie.“

„Bei uns darf jemand auf die geringste Anklage hin ohne Umstände verhaftet werden, und wenn er nicht folgen will, darf der betreffende Beamte irgendeine Gewalt anwenden, ihn selbst erschiessen.“

„Eure Könige sind doch immer nur die Regierer von Land und Volk; unsere Vanderbilts, Goulds und Konsorten dagegen sind die wirklichen Eigentümer und könnten, wenn sie es vorteilhaft für sich fänden, das ganze Volk zum Lande hinausjagen.“

„Die Sklaverei stand bei uns noch in voller Blüte, als Ihr selbst Eure Leibeigenschaft nicht mehr besasset; und Hexen wurden bei uns wenigstens ebenso lange verbrannt, wie bei Euch.“

„Bei Eurer zehnmal so dichten Bevölkerung kann das arme Volk immer noch existieren, während unsere Monopolisten es stellenweise jetzt schon dahin gebracht haben, dass sie den Proletariern die Existenzbedingungen ganz nach Belieben abschneiden könnten.“

„Für die Weiber unserer Bonanzakönige sind die kostbarsten Diamanten Eurer Fürstinnen nicht zu kostspielig.“

„Selbst Euren Militarismus können wir ohne König nachahmen; denn wir haben einen Krieg gehabt, bei welchem mehr Menschen umgebracht und mehr Wohlstand verwüstet wurde, als in Euren blutigsten Feldzügen“, etc.

Unter den Fittichen einer solchen republikanischen Freiheit wird sich mancher Einwanderer allerdings in seinen sanguinischen Erwartungen bitter getäuscht sehen, und man kann es den deutschen Landwehrmänner-Vereinen gar nicht so übel nehmen, wenn sie in Königsgeburtstagsfeiern, etc., einer gewissen Sehnsucht nach der alten Fürstenherrlichkeit Ausdruck verleihen. Das Gute muss man jenen Herren von Gottes Gnaden mindestens nachrühmen, dass sie ihre Stellung zur Freiheit offen und ehrlich eingestehen. „Dörchleuchting“ von Mecklenburg gab strengen Befehl, dass das verderbliche Wort „Freiheit“ nicht über seine Grenze gebracht werden dürfe, wie Fritz Reuter in seiner „Urgeschichte von Mecklenburg“, erzählt; der „alte Wilhelm“ verbat sich den Humbug, die Kriege von 1813 bis '15 „Freiheitskriege“ zu nennen, darum wurden sie in „Befreiungskriege“ umgetauft: Bismarck sandte dem hiesigen Kongress die Beileidsbeschlüsse über den Tod von Lasker, dem Freiheitskämpfer, wieder zurück.

Diese Handlungsweise lässt die genannten Herren dem Gesetz- und Ordnungsrepublikaner gegenüber immerhin in einem recht vorteilhaften Lichte erscheinen; denn, entweder ist die Freiheit das, was Letzterer darunter versteht (und dann wäre die Abneigung gegen sie nur lobenswert), oder sie ist etwas Anderes und Besseres; dann weiss man wenigstens, wie man mit den Herrschaften daran ist.

Die wahre Freiheit kann nun aber nicht der eben geschilderten Vorstellung des Gesetz- und Ordnungsrepublikaners entsprechen; denn die genannten Früchte, welche diese trägt, das sind die Früchte der Herrschaft. Wenn sich aber die Freiheit so gut mit der Herrschaft vertrüge, so würden die Herren von Gottes Gnaden eher eine Vorliebe als eine Abneigung gegen dieselbe an den Tag legen.

Die wahre Freiheit bedingt vielmehr die Abschaffung der Herrschaft, und das ist etwas Anderes und Besseres, als die Gesetz- und Ordnungsfreiheit.

Wenn wir zu dieser Einsicht gelangt sind, dann wissen wir, welchen Räubern wir die Freiheit abzuringen und gegen welche Feinde wir sie zu verteidigen haben. Über diese Räuber und Feinde schenken uns die Herren von Gottes Gnaden klaren Wein ein, und wenn ihre Niederwerfung auch keine Kleinigkeit ist, so ist mit der klaren Einsicht in die zu überwindenden Hindernisse doch schon der schwierigste Teil der Arbeit getan.

Ungleich gefährlichere und heimtückischere Feinde der Freiheit stehen uns dagegen in dieser Republik gegenüber, wo unter schnödem Missbrauch des Namens der Freiheit ihr Gegenteil, die Herrschaft, gelegt und gepflegt wird, während die aus der Herrschaft erwachsenden Übel der eigentlichen Freiheit zur Last gelegt werden. So werden wir zu unserem Leidwesen nur zu oft gewahr, dass selbst denkende und ehrlich strebende Menschen die Segnungen der Freiheit durch Erweiterung der Herrschaft zu erlangen suchen, während sie die Übel der Herrschaft durch Einschränkung der Freiheit zu beseitigen hoffen, und wenn sie mitten in der grössten Lobeshymne auf die Freiheit den präziseren Ausdruck für dieselbe, das Wort „Anarchismus“, hören, dann fahren sie erschrocken zusammen und verschliessen in abergläubischer Furcht ihr Ohr gegen alle Vernunftgründe.

Wo wir in der Geschichte den grössten humanen Fortschritt sehen, da sehen wir auch die grösste Freiheit; wo aber die grösste Freiheit erscheint, da ist die geringste Herrschaft. Ich will die Prüfung dieser Behauptung an den Tatsachen der Geschichte dem geneigten Leser überlassen.

Für mich stehen in Betreff der Freiheit zwei Tatsachen fest:
1. Dass wahre Freiheit nicht mit Herrschaft Hand in Hand gehen kann.
2. Dass Ungerechtigkeiten, welche scheinbar der Freiheit zur Last fallen und eine Einschränkung derselben rechtfertigen sollen, nicht der Freiheit, sondern einer Verletzung derselben entspringen.

Bezugnehmend auf No. 1 muss man die Freiheit als einen Zustand der Gleichberechtigung aller definieren. Jede Vergrösserung der Rechte des Einen über diese Grenze hinaus, bedingt eine Verminderung der Rechte anderer unter das Normalmass. Sobald man bei der Definition der Freiheit die Gesamtheit aus dem Auge verliert, kann man jede Tyrannei als Freiheit erklären und ihr jede Gewalttat zur Last legen. Eine absolute Freiheit, wie sie unverständiger und boshafter Weise als das anarchistische Ideal hingestellt wird, ist ein Unding. Absolute Freiheit kann immer nur einseitig sein; denn wenn der Eine alles tun darf, was er will, so dürfen die Anderen überhaupt nichts mehr wollen. Absolute Freiheit ist also identisch mit absoluter Herrschaft, welche für die Gesamtheit absoluter Verlust der Freiheit bedeutet. Zwischen diesem Extrem und der wahren Freiheit gibt es unzählige Zwischenstufen, in welchen die Herrschaft Einzelner immer einen entsprechenden Verlust an der Freiheit der Gesamtheit nach sich zieht.

Wenn man bedenkt, dass all diese verschiedenen herrschaftlichen Eingriffe in die Freiheit der Gesamtheit damit gerechtfertigt und begründet werden, dass sie die Rechte und Freiheiten der Einen gegen Übergriffe von Seiten Anderer schützen sollen, so erinnert das lebhaft an den berühmten Doktor Eisenbart, welcher die Beine, wenn sie vom Podagra ergriffen sind, abschneidet. Das beseitigt das Podagra gründlich. Schreiber dieses kannte einen sehr gesunden Mann, welcher sich erhängte aus Furcht, dass er die Schwindsucht bekommen möchte. Zu dieser Kategorie von Heilmitteln gehört auch die Herrschaft, wenn sie als Schutz der Freiheit dienen soll. Wo keine Freiheit übrig gelassen wird, da freilich kann sie auch nicht mehr verletzt werden.

Aber, wer ausser einer herrschenden Macht soll denn darauf sehen, dass von Einzelnen kein Übergriff in die Rechte und Freiheiten der Gesamtheit ausgeübt werde; die Menschen sind doch sowohl in Anbetracht körperlicher Stärke und geistiger Fähigkeiten, wie auch in Betreff ihres Gefühls für Recht und Billigkeit sehr verschieden? Ich muss nun gestehen, dass sich gerade der grösste Mangel an Gefühl für Recht und Billigkeit bei denen bemerkbar macht, welche nicht müde werden, uns immerfort diese Frage vorzuhalten und damit alle unsere Behauptungen widerlegt zu haben sich einbilden. Sie verlangen von uns, ihnen einen Zustand ganz idealer Vollkommenheit zu zeigen, ehe sie zugeben, dass er der jetzt üblichen Herrschaft vorzuziehen sei. Weil ohne Herrschaft der Eine sein Übergewicht an körperlicher Kraft oder geistiger Fähigkeit zur Beeinträchtigung der Freiheit des Anderen missbrauchen könnte, darum soll eine Herrschaft unbedingt nötig sein! Ich bin nun weit davon entfernt, zu behaupten, dass ein Zustand ideal gleichmässiger Freiheit (auch ohne Herrschaft) möglich wäre. Die natürlichen Unterschiede der Individuen sind vorhanden; sie werden und müssen sich bemerkbar machen. Ich frage nun aber: Beseitigt etwa die Herrschaft diesen Übelstand; ist sie nicht an und für sich schon eine Beeinträchtigung der Freiheit; sind die durch sie geschaffenen Übelstände kleiner oder grösser, als die, welche bei ihrer Abwesenheit eintreten würden?

Welches sind nun wohl die schlimmsten Beispiele, welche uns als die möglichen Folgen der Herrschaftslosigkeit genannt werden, und durch welche die Gesetz- und Ordnungsfreunde die Unmöglichkeit eines solchen Zustandes beweisen und illustrieren wollen? Das sind grausige Räubergeschichten, wie man sie von den „James Brothers“, „Williams Brothers“, „Younger Brothers“, „Billy the Kid“, etc., erzählt. Solche Dinge könnten und würden ohne Herrschaft vorkommen, darum ist die Herrschaftslosigkeit ein unmöglicher Gesellschaftszustand. Sonderbar, dass sich Leute mit ihren eigenen Argumenten so blamieren können, ohne es zu merken! Überall, wo diese Dinge vorgekommen sind, hat Herrschaft existiert; unter der Herrschaft konnten sie nicht nur vorkommen, sondern sind wirklich vorgekommen und tun es heute noch; demnach müsste nach dem vorigen Argument die Herrschaft erst recht unmöglich sein. Weiter: In den genannten Beispielen waren die Organe der Herrschaft, die Behörden, nicht im Stande, das Übel auszurotten, aber wenn für den besonderen Fall eine Herrschaftslosigkeit improvisiert wurde, wenn die Bürger auf eigene Faust vorgingen, und die Behörden dem Privatunternehmen freien Spielraum liessen, dann war bald der Schlussakt in der Räubergeschichte gespielt. Endlich: wenn die Behörden, nachdem die Arbeit von Anderen getan, wieder die Herrschaft antraten, boten sie den Verbrechern meistenteils Gelegenheit, der verdienten Strafe zu entschlüpfen, wie das Beispiel von Gouverneur Oglesby und Frank James recht auffallend zeigt.

In diesen Beispielen spricht also alles gegen die Herrschaft und zu Gunsten der Freiheit. Die Übel, welche in der Freiheit vorkommen könnten, kommen unter der Herrschaft wirklich vor; die Freiheit kann sie erfolgreicher bekämpfen; die Freiheit lässt das Recht nicht so korrumpieren, wie die Herrschaft.

All das Gute, welches die Herrschaft leisten könnte, leistet die Freiheit auch; zu vielen Schändlichkeiten aber, welche die Herrschaft immerfort begeht, ist die Freiheit nicht fähig. Im Namen der Herrschaft werden Gewalt- und Mordtaten begangen; die Opfer derselben sind aber zu keinem Widerstand berechtigt; gegen etwaige Rache ihrer Freunde und Anverwandten sind die Übeltäter geschützt; auch die Schande für die begangenen Verbrechen fällt nicht auf den Verbrecher, sondern auf sein Opfer. So ermöglicht die Herrschaft das Verüben ganz besonders schändlicher Verbrechen und hilft manchem, den seine natürliche Feigheit vor der gefährlichen Verbrecherlaufbahn bewahrt haben würde, über diese Schwierigkeit hinweg.

Geben wir daher immerhin zu, dass in der herrschaftslosen Gesellschaft Verletzungen der Freiheiten und Rechte vorkommen können und müssen, so haben wir doch begründete Ursache, die Herrschaftslosigkeit, als das kleinere Übel, der Herrschaft vorzuziehen.

Viele, die Obiges bereits einsehen können, verfehlen aber noch, in der Anhäufung des Besitzes in einzelnen Händen mit der entsprechenden Verarmung der Massen, etwas Anderes, als einen Auswuchs der Freiheit zu erblicken, und dies bringt mich zur Besprechung der weiter oben unter No. 2 angedeuteten Tatsache, dass nämlich Ungerechtigkeiten, welche scheinbar der Freiheit zur Last fallen und eine Einschränkung derselben rechtfertigen sollen, nicht dieser, sondern einer Verletzung derselben entspringen.

Die Eisenbahnmonopole, die Landmonopole, die Telegrafenmonopole, die Kohlenmonopole, die Monopole in allen Dingen, welche Menschen zur Existenz bedürfen, sollen entstanden sein, weil der Staat, die Herrschaft, sie nicht eingeschränkt habe. Wäre dem wirklich so, dann sollte man erwarten, dass die Monopolherren die eifrigsten Befürworter der Abschaffung des Staates wären; denn dann würden sie für immer der Sorge überhoben sein, dass es dem Staate je einfallen könnte, ihnen Beschränkungen ihrer Freiheit aufzulegen. Wir sehen aber, dass diese Herren für den Staat, die Herrschaft, förmlich schwärmen. Wie kommt denn das? Es wird uns so oft mit Pathos entgegengehalten, dass der Staat die Schwachen gegen die Starken schützen muss, und doch zittern die Starken nicht etwa vor dem Staat, sondern vor der Idee, dass derselbe abgeschafft werden könnte. Das erregt den Verdacht, dass der Staat nicht die Schwachen, sondern die Starken beschütze.

Sehen wir uns diese Starken etwas näher an. Die Vanderbilts, Goulds, Fields, etc., mögen immerhin an Intelligenz und Leistungsfähigkeit vor anderen Menschen hervorragen; ist dieser Unterschied aber demjenigen in ihren Besitz- und Machtverhältnissen entsprechend? Nimmermehr! Ein Mensch, und wäre er der talentvollste und tatkräftigste, kann, wenn er nur auf seine persönliche Leistungsfähigkeit angewiesen ist, kein Übergewicht über Zehntausende und Hunderttausende seiner Mitmenschen erlangen, wie es bei den Genannten doch tatsächlich der Fall ist. Hier ist dem eigenen Übergewicht noch eine fremde Potenz hinzugefügt, und das ist der Staat, die Herrschaft. Ohne Herrschaft könnten weder die Landlords in Irland, noch die Eisenbahnmagnaten, Kohlenbarone, Landmonopolisten, etc., in Amerika, ihr sogenanntes Eigentum halten und ihre Mitmenschen davon ausschliessen.

So löst also die Herrschaft ihre Aufgabe, den Schwachen gegen den Starken zu schützen. Sie schafft ein Monstrum von Stärke, indem sie auf der einen Seite die uneingeschränkte Freiheit bestehen lässt, und auf der anderen dieselbe so knebelt, dass sie gegen Übergriffe von Seiten der Ersteren absolut ohnmächtig ist.

Jetzt aber will die Herrschaft gerecht sein, und den Unterschied damit ausgleichen, dass sie die unbeschränkt gelassene Freiheit auch ein wenig knebelt, auf dass der damit getriebene Missbrauch nicht zu arg werde. Würde es nicht vernünftiger sein, die Knebel überhaupt fortzunehmen? Dann würden sich nicht so ungleiche Kräfte gegenüberstehen, und der Missbrauch der Freiheit könnte keine so ungeheuerlichen Dimensionen mehr annehmen.

Man hat noch nie gehört, dass durch das ungesetzliche Räuberhandwerk, auch wo es in höchster Blüte steht, eine allgemeine Kalamität über ein grosses und reiches Land gebracht worden wäre. Hierzulande erleben wir es aber alle paar Jahre, dass fünfzig Millionen Menschen eine Erschütterung empfinden, als sollte jedem Einzelnen der Boden unter den Füssen fortgezogen werden. Das ist oft die Tat eines einzigen jener Starken, gegen welche uns die Herrschaft so väterlich beschützt. Die ungesetzlichen Räuber dürfen ein gewisses Mass des Erträglichen nicht überschreiten, sonst rührt sich die Freiheit auf der anderen Seite, und stellt das Gleichgewicht wieder her. Doch da, wo die Herrschaft waltet, bleibt diese Freiheit unwirksam, und den geschützten Räubern braucht es erst bange zu werden, nachdem jene Herrschaft umgeworfen ist.

Diese Zustände, wie sie jetzt wirklich existieren, sie sind es, welche uns als die möglichen und wahrscheinlichen, schrecklichen Folgen des Anarchismus geschildert werden; sie kommen von absoluter Freiheit, welche aber nur unter absoluter Herrschaft möglich ist. Die wahre Freiheit ist mit Herrschaft unvereinbar, und wenn ihre ideale Form wegen natürlicher Verschiedenheiten der Individuen auch nicht durchführbar ist, so kann durch Herrschaft das Übel nicht verbessert, sondern nur verschlimmert werden.

Paul Berwig.

(Libertas 4, Samstag, 5. Mai 1888, S. 7–8.)

Anmerkungen

  • Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
  • Fritz Reuter, eigentlich: Heinrich Ludwig Christian Friedrich Reuter, (1810–1874) war ein deutscher Dichter und Schriftsteller der niederdeutschen Sprache. Reuter wurde 1836 wegen „Teilnahme an hochverräterischen burschenschaftlichen Verbindungen in Jena und Majestätsbeleidigung“ zum Tode verurteilt. Die Strafe wurde später in 30 Jahren Festungshaft umgewandelt, wovon er acht Jahre absass. Seine De Urgeschicht von Meckelnborg von 1874 ist auf Projekt Gutenberg verfügbar.
  • Beim erwähnten Freiheitskämpfer Lasker handelt es sich um den preussischen Politiker Eduard Lasker, eigentlich: Jizchak Lasker, (1829–1884). Lasker kämpfte als Student 1848/49 in Wien als Mitglied eines studentischen Korps gegen die kaiserlichen Truppen. Nach Beendigung des Jura-Studiums und seinem Staatsexamen 1857 in Berlin hatte er aber als Jude keine Chance, in den Staatsdienst übernommen zu werden. Er war später Mitglied des preussischen Abgeordnetenhauses und Mitglied der Deutschen Fortschrittspartei, später der Deutschen Freisinnigen Partei. Lasker verstarb nach einem längeren Kuraufenthalt in den USA 1884 in New York. Bismarck verbot, ein an den Reichstag gerichtetes Kondolenzschreiben des amerikanischen Kongresses an das Parlament zu übergeben. Er liess es mit der Begründung nach Washington zurücksenden, die Tätigkeit des Verstorbenen sei dem deutschen Volk nicht nützlich gewesen.
  • Der genannte Frank James, eigentlich Alexander Franklin James, (1843–1915) war der ältere Bruder von Jesse James. Nach dem Tod des Bruders 1882 stellte sich Frank dem Gouverneur von Missouri und wurde lediglich für zwei Banküberfälle verurteilt. Dafür sass er nur drei Wochen im Gefängnis. Auf diese Episode nimmt der Text wohl Bezug.

Die ganze Aufgabe der Zivilisation.

[Memoiren einer Idealistin.]

Ich griff abermals zu meinem alten Mittel, zu einem einsamen Spaziergang. Aus den geräuschvollen Strassen der grossen Hauptstadt (Berlin) fort eilte ich einem Orte ausserhalb der Thore zu, den ich allen anderen Spaziergängen der Stadt vorzog. Es war ein kleiner Hügel, auf dem sich eine gartenähnliche Anlage befand, welche die Gräber der 1848 im Kampfe gegen die Soldaten gefallenen Kämpfer für die Freiheit enthielt. Die Demokratie hatte ihnen, zur Zeit ihrer Macht, gleich nach dem Kampf dieses Asyl geweiht, wo sie allein, unter wohlgepflegten Blumen und einfachen Denkmälern, schlummerten. Ich setzte mich an einem Grabe nieder, das von Fabrikarbeitern den gefallenen Brüdern errichtet war und dessen Inschrift lautete:

Im Kampfe für des Volkes Freiheit sterben, Das ist das Testament, nach dem wir erben.

Zu meinen Füssen breitete sich die stolze Hauptstadt mit ihren Palästen, ihrem Luxus, ihrem geistigen Leben und ihren triumphierenden Soldaten in der weiten Ebene aus. Alles war übergossen von den Strahlen der untergehenden Sonne, die in den Nebeln und Dünsten, welche der nordischen Atmosphäre eigen sind, mannigfaltige glänzende Farbenspiele hervorrief. Fernher tönte das Geräusch der volkreichen Stadt, wie das Rauschen des Meers. Um mich her aber, im stillen Garten des Todes, war ein tiefer Friede. Der Gesang der Nachtigall, das Wehen des Abendwinds, der mit den Düften der Gräberblumen spielte, unterbrachen allein die Stille. Ich glaubte mich ganz allein unter diesen Gräbern und betrachtete das Bild vor mir, indem ich die schmerzlichen Betrachtungen weiter verfolgte, welche die soeben erlebte Szene hervorgerufen hatte. Diese Toten, die da um mich ruhten, hatten sie den Preis des vergossenen Blutes erhalten? Hatten sie die Rechtfertigung des Erfolgs gehabt? Und ich, hatte ich die grossmütigen Bestrebungen, für die mein Herz glühte, verwirklichen können? Hatte ich durch Vernunft und Liebe über den Widerstand, den ich antraf, gesiegt?

Sie lagen da unter der Erde, stumm und ohnmächtig, und ihre überlebenden Brüder waren mehr wie je unter dem Joch und mussten ihr Lasttierleben weiterführen.

Ich war allein, geschieden von den Meinen, meine höchsten Neigungen galten Toten, meine Arbeit war vernichtet.

Hatten sie denn Unvernünftiges verlangt? Wollten sie sich durch den Ruin anderer erheben? Nein, sie hatten nur die Arbeit von dem Fluch befreien wollen, den die Tradition auf ihr ruhen lässt, seit er an der Pforte des verlorenen Paradieses ausgesprochen war. Sie hatten freie Institutionen verlangt, um ein freies, starkes, glückliches Volk zu werden.

Und ich, hatte ich jemals gesagt, dass die Familienbande nicht heilig sind, dass die Frau sich emanzipieren soll, indem sie die besonderen Pflichten ihres Geschlechts von sich wirft und von dem Manne annimmt, was auch bei ihm sehr oft hässlich ist? Ich hatte ja im Gegenteil die Frauen würdiger machen wollen, Frauen und Mütter zu sein, durch die Entwicklung ihrer geistigen Fähigkeiten, durch die sie nicht nur die leiblichen Erzeugerinnen, sondern auch die wahren Erzieherinnen und geistigen Bildnerinnen der Jugend werden könnten. Ich hatte gewollt, dass die Frau, anstatt des Mannes Brutalität nachzuahmen, so sehr ihm ebenbürtig werden sollte für die Kulturaufgabe der Menschheit, dass sie auch ihm helfen sollte, sich von allem Schlechten zu befreien.

Weshalb waren wir denn also scheinbar im Unrecht, die Toten und ich? Die Schuld war gewiss nicht unser, sondern unseres gemeinsamen Feindes, des Despotismus im Staate und in der Familie. Ich sah klarer denn je, dass die beiden Despotismen ein und dieselbe Sache sind und aus derselben Quelle fliessen. Es ist die ewige Bevormundung der Individuen wie der Völker: verordneter Glaube, verordnete Pflichten, verordnete Liebe. Stattdessen sollte man dem Individuum sagen: „Wähle dir nach deiner Einsicht deinen Glauben, deine Verpflichtungen, deine Neigung; wir ehren deine Freiheit; ist deine Wahl unwürdig, trage die Folgen; bleibst du ein sittliches Wesen, so werden wir dich lieben trotz der Verschiedenheit unserer Ansichten.“

Und den Völkern: „Sprecht frei über eure Klagen, eure Bedürfnisse; beraten wir uns, ihnen abzuhelfen! Wir sind nur da, um allen gerecht zu werden, um den vernünftigen Willen Aller zu verwirklichen.“

Ist es denn so schwer zu begreifen, dass die Freiheit das stärkste Gesetz ist? Die Kinder dazu erziehen, die Völker daran gewöhnen, dies zu begreifen – damit wäre eigentlich die ganze Aufgabe der Zivilisation erfüllt. Die Familie und der Staat würden dadurch ihre wahre, beglückende Form finden, während die gewaltsame Autorität ewig die Empörung an ihrer Türe finden wird.

(Libertas 4, Samstag, 5. Mai 1888, S. 6.)

Anmerkungen

Malwida von Meysenbug (1816–1903) war eine deutsche Schriftstellerin, die sich auch politisch und als Förderin von Schriftstellern und Künstlern betätigte. Beim vorliegenden Text handelt es sich um einen Auszug aus ihrem Buch Memoiren einer Idealistin, welches in Genf 1869 zuerst auf Französisch, später dann auch 1876 in München auf Deutsch erschien.

Herr Boppe macht in einer der jüngsten Nummern des „Freidenker“ darauf aufmerksam, wie gewissenlose Politikanten und Drahtzieher es verstehen, selbst die Turnvereine in den Dienst ihrer unlauteren Zwecke zu stellen. Das ist nun eine Beobachtung, die man täglich in den Turnvereinen wie in zahllosen anderen Vereinen machen kann. Wie nobel auch die Zwecke und Ziele seien, deren Verfolgung ein Verein sich zur Aufgabe gestellt hat, es liegt stets die Gefahr vor, dass die Mitglieder dieselben aus dem Auge verlieren und der Verein unter die Kontrolle einzelner selbstsüchtiger Streber fällt zur Förderung rein persönlicher Interessen auf Unkosten der Gesamtheit. Und diese Gefahr liegt vor trotz der Tatsache, dass sich die Mitglieder gegen alle möglichen Missbräuche verhältnismässig leicht schützen und, wenn es ja zu arg wird, wenn der Verein von der Förderung seines ursprünglichen Zweckes gänzlich abgelenkt wird, aus demselben austreten und sich auf diese Weise den etwaigen üblen Folgen der Misswirtschaft entziehen können. Wenn so etwas am grünen Holz geschieht, was will da erst am dürren werden? Wenn grosse Missbräuche in der Geschichte freiwilliger Vereinigungen, gegen die man prinzipiell nichts einwenden kann, vorkommen, in Vereinigungen, welche nur ein kleines Interessengebiet berühren, was für Missbräuche müssen da erst in der Geschichte des Staats entstehen, dieser grossen Vereinigung, die nicht auf einem freien Übereinkommen beruht, deren Leben und Weben der Einzelne nicht leicht überschauen kann, welche über ein ungeheures Interessengebiet waltet, und aus der man im Notfalle nicht austreten kann, um sich den Folgen der Misswirtschaft zu entziehen? Die daneben einhergehende Korruption entspricht denn auch ganz der Machtstellung und dem Umfang des Staats. Aber Herr Boppe besteht trotz allem Anschauungsunterricht, den ihm die Turnvereine wie die Geschichte des Staats bieten, steif und fest auf der Staatsidee und will es nicht einsehen, dass die herrschenden grossen Übelstände nur mit dem Staat selber beseitigt werden können.

(Libertas 4, Samstag, 5. Mai 1888, S. 5.)

Anmerkungen

Turnvereine waren in den USA zu der Zeit beliebte Treffpunkte deutscher und deutschsprachiger Emigranten. Der „Freidenker“ war „das Organ der Freidenker Amerikas und des Bundes der Radikalen“ und erschien in Milwaukee. Der „Freidenker“ publizierte auch „Die amerikanische Turnzeitung“, als „turnerische Ausgabe des Freidenker“ und „Organ des Nordamerikanischen Turnerbundes“. Redakteur war der angesprochene C. Hermann Boppe. Er veröffentlichte eine Reihe von politischen Schriften. Boppe wurde 1841 im Kanton Aargau (Schweiz) geboren und wanderte 1877 in die USA aus. Er verstarb 1899.

Der „Freidenker“ inserierte regelmässig in der „Libertas“:

Inserat des Freidenkers in der Libertas Inserat erschienen in der Libertas 3, S. 8.

Was ist Anarchismus?

Ein Freund aus Milwaukee schreibt mir, dass er die erste Nummer von Libertas bis auf den Roman durchgelesen habe, ohne jedoch daraus entnommen zu haben, was wir unter Anarchismus verstehen. Das wirft nun ein zweifelhaftes Licht entweder auf die Schreibkunst der Redakteure und Mitarbeiter dieses Blattes oder auf die Auffassungsgabe meines Freundes. Tatsache ist, dass wir bestrebt waren, gleich in der ersten Nummer den Anarchismus als die Sache, die wir vertreten, genau zu definieren. Natürlich konnten wir nicht hoffen, dass uns nach allen Seiten hin ein volles Verständnis zuteilwerden würde, doch hatten wir bei dem intelligenten Leser auf einen kleinen Erfolg nach dieser Richtung gerechnet. Jedoch, was nicht ist, kann noch werden, und was dem ersten Wurfe nicht gelang, mag späteren Würfen gelingen.

Der leitende Grundsatz, von dem der Anarchismus ausgeht, ist die Selbstherrlichkeit des Individuums. In der Verwirklichung dieses Grundsatzes wird schliesslich alle Kultur gipfeln müssen. Schon Kant stellte diesen Grundsatz auf, als er in seiner Grundlegung zur Sittenlehre ausführte, man könne und dürfe sich in der Welt alles in seinen Dienst stellen und zu eigenem Vorteil ausbeuten, mit einziger Ausnahme des Menschen. Der Mensch ist sich Selbstzweck. Unter den Amerikanern hat Josiah Warren den Grundsatz von der Selbstherrlichkeit des Individuums – „the Sovereignty of the Individual“, wie er sich ausdrückt – am tiefsten begründet und in seiner diesbezüglichen Arbeit den Nachweis geführt, dass die allgemeine Anerkennung dieses Grundsatzes die unerlässliche Bedingung für den Frieden und das Wohlergehen der menschlichen Gesellschaft bilde. Ich glaube, mein Freund wird mir beipflichten, dass so lange das Individuum sein eigenes Tun und Lassen nicht selber bestimmen kann, sondern einem fremden Willen unterworfen ist, offenbare sich dieser nun durch einen anderen Menschen, durch die Familie, durch die Kirche oder durch den Staat, dasselbe seine volle Statur noch nicht erlangt hat. Die volle Statur aber zu erlangen, das verlangt der von der Natur in jedes Individuum gelegte Trieb. Eher gibt es für dasselbe weder Frieden noch Glück. Aus demselben Grunde werden sich die Vergewaltiger des Individuums stets gegen eine Empörung seitens desselben vorsehen müssen, denn die Natur fordert schliesslich immer ihr Recht. Auch für die Vergewaltiger des Individuums, mögen sie sich auf noch so grosse äussere Machtmittel stützen, gibt es daher weder Frieden noch Glück, bis sie dessen Selbstherrlichkeit anerkennen und achten lernen. Frieden und Glück aber ist das Ziel aller Lebewesen. Aufgrund solcher Anschauung postuliert der Anarchismus die Selbstherrlichkeit des Individuums.

Aus diesem obersten Grundsatz des Anarchismus folgen seine praktischen Forderungen von selber. Damit der Mensch seine selbstherrliche Stellung innerhalb der Grenzen, die ihm die Natur gesteckt hat, behaupten könne, müssen ihm die natürlichen Hilfsquellen des Lebens zur freien Benutzung offen stehen. Das Recht der Existenz, das man nicht bestreiten wird, schliesst in sich das Recht an die Mittel zur Existenz. Wo dem Individuum die natürlichen Existenzmittel vorenthalten sind, kann von einer Betätigung seiner Selbstherrlichkeit schlechterdings nicht die Rede sein. Es steht da unter der Herrschaft derjenigen, welche die natürlichen Existenzmittel in ihrer Gewalt haben. Der Anarchismus verurteilt daher notwendigerweise das Grund- und Bodenmonopol wie auch alle jene Privilegien, welche dem Individuum den Tribut des Zinses und des Profits auferlegen und dasselbe nicht in den Besitz des vollen Ertrags seiner Arbeit kommen lassen. Der hauptsächliche Grund, warum die Arbeit, die doch alle Werte erzeugt, selbst nie Werte besitzt über das Mass hinaus, welches das nackte Leben benötigt, liegt in der Privilegienherrschaft, verkörpert im Staat. Darin ist auch ausschliesslich die Erklärung der Tatsache zu suchen, warum Millionen von Arbeitern beschäftigungslos das Land durchstreifen, um Arbeit bettelnd. Wo den Menschen einesteils die Gelegenheit zur Arbeit abgeschnitten ist, und wo ihnen andernteils der Hauptertrag ihrer Arbeit gesetzlich abgenommen wird, da können sie nicht ihre volle Statur erlangen, da bleiben sie körperliche und geistige Krüppel, da gibt es für sie weder Frieden noch Glück, und da ruht die Gesellschaft auf einem Vulkan.

Auf dem Grundsatz von der Selbstherrlichkeit des Individuums fussend, verlangt der Anarchismus folgerichtiger Weise die Abschaffung der Privilegien- oder Monopolherrschaft, d. h. des Staats. Damit das Individuum von dem Tribut des Zinses befreit werde, fordert er die Freiheit des Kredits; d. h. er fordert, dass die Beschaffung des den Warenaustausch vermittelnden Geldes der freien Konkurrenz anheimgestellt werde, wie andere Geschäfte. Er verlangt, dass Gold und Silber demokratisiert und allen anderen Wertgegenständen gleichgestellt werden. Kann man die Fähigkeit der Privatinitiative, im Zustande der Freiheit ein unverzinsliches Warenaustauschmittel zu beschaffen, ernstlich infrage stellen? Wenn so, warum ist dann der Versuch dazu gesetzlich untersagt? Damit das Individuum von dem Tribut der Bodenrente befreit werde, die es selbst in unserem verhältnismässig jungen Lande bereits zu erdrücken droht, verwirft der Anarchismus den heutigen Privatgrundbesitz und anerkennt als alleinigen Besitztitel auf Grund und Boden persönliche Okkupation und Benutzung. Hieraus geht auch schon hervor, wie ich hier einschalte, dass der Anarchismus die Landreform nicht in der Weise von Henry George anstrebt. Jener würde den Bearbeiter des Landes im Besitze seines vollen Ertrags belassen, während dieser im Namen des Staats eine Steuer zum Betrage der ökonomischen Rente von ihm erheben würde. Und damit das Individuum von dem Tribut des Profits befreit werde, fordert der Anarchismus einen freien Markt. Im freien Markt wird es zum Austausch von Äquivalenten kommen, wobei der Profit wegfällt und die Arbeit in den Besitz ihres Ertrags gelangt.

Kreditfreiheit, freies Land und Handelsfreiheit bedingen die Abschaffung des historischen Staats und haben im Gefolge die Verwirklichung der Selbstherrlichkeit des Individuums.

Das ist aber, in grossen Umrissen, Anarchismus.

G. S.

(Libertas 4, Samstag, 5. Mai 1888, S. 5.)

Anmerkungen

Josiah Warren (1798–1874) war US-amerikanischer Sozialreformer, Musiker, Erfinder und Schriftsteller. Benjamin Tucker widmete Instead of a Book, seine Sammlung von Essays, dem Gedächtnis an Warren, „meinem Freund und Meister […] dessen Unterrichtungen meine erste Quelle des Lichts waren“. Warren lässt sich dem Mutualismus zurechnen, seine Ideen waren aber durchdrungen von einem Individualismus, der sich auf den Standpunkt stellte, dass die persönliche Freiheit nicht hinter der Organisation zurückstehen darf.