Weder Dynamit noch Stimmzettel, sondern? – George Schumm

Weder Dynamit noch Stimmzettel, sondern?

In der Propaganda unserer Sache greifen wir weder zum Dynamit noch zum Stimmzettel. Nach der herrschenden Meinung aber sind dies die hauptsächlichen Mittel, die einer Partei zur Verwirklichung ihres Programms zur Verfügung stehen: Sie muss sich für das eine oder andere entscheiden. Weigern wir uns, am Stimmkasten für unsere Prinzipien zu wirken, so ist es nach der herrschenden Meinung eine ausgemachte Sache, dass wir Dynamit im Schilde führen. Aber das ist stupid. Vorläufig sind wir wenigstens hierzulande noch nicht da angelangt, zwischen diesen Mitteln wählen zu müssen. Es stehen uns viel wirksamere Agentien zur Förderung unserer Sache zur Verfügung. Sollte es aber je dahin kommen, sollten wir vor eine solche Alternative gestellt werden, dann müssten wir selbstverständlich das Dynamit wählen. Denn die Dinge, welche durch Gewaltmittel zu sichern sind, wozu ich z. B. den Sturz eines sich direkt und ausschliesslich auf Kanonen und Bajonette stützenden Despoten oder die Herstellung der Presse- und Redefreiheit, kurz der Agitationsfreiheit in Wort und Schrift zähle, würden sich viel rascher durch das Dynamit sichern lassen als durch den Stimmzettel. Dynamit und Stimmzettel sind wesentlich von ein und derselben Art, beides sind Gewaltmittel, aber das Dynamit hat den ungeheuren Vorzug leichter Anwendbarkeit, grosser Einfachheit und prompter Wirksamkeit.

Aber, wie gesagt, wir befinden uns in der Propaganda des Anarchismus nicht vor der Alternative einer Wahl zwischen Dynamit und Stimmzettel, und zwar erstens nicht, weil unsere Sache ihrem innersten Wesen nach weder durch das eine noch das andere der angeführten Agentien je zu verwirklichen ist; und zweitens, weil uns die natürlichen, dem Wesen der Sache entsprechenden Agitationsmittel, Wort und Schrift, grossenteils zur Verfügung stehen. Das Wesen unserer Sache, sofern es sich um den positiven Teil derselben handelt, schliesst alles Operieren mit Gewaltmitteln aus. Die zunächst vor uns liegende Aufgabe besteht weder im Sturz eines sich direkt und ausschliesslich, oder auch nur hauptsächlich, auf Militärmacht stützenden Despoten, noch in der Herstellung und Sicherung der Presse- und Redefreiheit, wiewohl diese unschätzbaren Agitationsmittel selbst hierzulande mancherorts bedroht sind; die uns zunächst liegende Aufgabe besteht in der Erkämpfung der Freiheit der Betätigung des Individuums nach allen Richtungen hin, sowie in der dadurch bedingten Abschaffung der Tributpflichtigkeit der Arbeit dem Privilegium gegenüber, wie dasselbe im Staat zum Ausdruck gelangt.

Es liegt auf der Hand, dass die zu beseitigende Unselbstständigkeit des Individuums in enger Beziehung steht mit der ökonomischen Abhängigkeit desselben. Um die allseitige Freiheit des Individuums zu erringen, muss demselben die Sicherung seiner ökonomischen Unabhängigkeit ermöglicht werden. Die Schaffung dieser Möglichkeit aber bedingt die Revolutionierung der gesellschaftlichen Einrichtungen in solcher Weise, dass das Individuum fürderhin in den Besitz des vollen Ertrags seiner Arbeit gelangt, das heisst, die Abschaffung der Monopolherrschaft des Staats. Denn es ist der Staat, der den Kredit monopolisiert und der Arbeit die Last des Zinses aufbürdet; der Staat, der den Grund und Boden monopolisiert und der Arbeit den Tribut der Bodenrente auferlegt; der Staat, der künstliche Schranken errichtet und durch Verhinderung des freien Welthandels auf Unkosten der Arbeit den Profit schafft. Es ist der Staat, der die Arbeit dem Zins, der Bodenrente, dem Profit, der Steuer, um keine andern Formen der Ausbeutung anzuführen, tributpflichtig macht. Wer und was ist hiernach der Staat? Wer und was anderes als die privilegierten Klassen, die in der angedeuteten Weise von der Exploitation der Arbeit leben. Der Ertrag der Arbeit fliesst auf dem Wege des Gesetzes grossenteils in die Taschen von Nichtstuern. Auf diesen Umstand lässt sich die Sklaverei des Individuums wie überhaupt die soziale Misere der Zeit zurückführen. Dieser Stand der Dinge soll nun abgeschafft werden. Die Arbeit soll in den Besitz ihres vollen Ertrags gelangen. Wir wollen eine Welt freier Menschen.

Welchen Weg müssen wir nun einschlagen, um dieses Ziel zu erreichen? Wie können wir unsere Sache verwirklichen? Vermag sich das Dynamit dabei als nützlich zu erweisen? Bewährt sich der Stimmzettel als das souveräne Mittel, als das er empfohlen wird? Oder gibt es andere, wirksamere Mittel zur Verwirklichung unserer Strebeziele?

Der denkende Mensch hat diese Fragen bereits im eigenen Geiste beantwortet.

Mit dem Hinweis auf die nicht wegzuleugnende Tatsache, dass das Unrecht, das soziale Elend, über das Beschwerde geführt wird, seine Hauptstütze in dem „Unverstand der Massen“ findet, glaube ich des besonderen Nachweises enthoben zu sein, dass das Dynamit in dem Kampfe zur Beseitigung desselben nicht zu erspriesslicher Anwendung gelangen kann. Mit dem Sklaven, der seine Ketten küsst, ist nichts auszurichten. Gegen die Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens. So auch wird sich der Unverstand und Sklavensinn der Massen leider nicht mittels Dynamit aus der Welt schaffen lassen. Leider nicht! Denn das wäre ein billiges Verfahren, um zu grossen Zielen zu gelangen. Der beanstandete Unverstand und Sklavensinn wird bestenfalls allmählich geistigen Waffen weichen. Wo uns daher diese zur Verfügung stehen, haben wir keine Veranlassung, zu andern zu greifen. Aber wie steht’s mit dem Stimmzettel?

Wie bereits angedeutet, setzen wir auch in den Stimmzettel kein Vertrauen. Dieses Mittel kann sich einfach nicht als ein Agens der gesellschaftlichen Entwicklung erweisen. Diese Entwicklung geht vor sich, ganz unabhängig davon. Es liegt nicht im Wesen des Stimmzettels, Freiheit, Recht und Wahrheit zu ermitteln und ins Leben einzuführen. Freiheit, Recht und Wahrheit ergeben sich aus den wechselseitigen Beziehungen, in welchen Individuum, Natur und Gesellschaft zueinander stehen, und gelangen immer zur Verwirklichung in dem Grade, in welchem sie vom Volke erkannt werden. Was der Stimmzettel einzig und allein zu ermitteln vermag, ist, wie viele Menschen sich zu einer gewissen Meinung bekennen, wie viele zu einer anderen. Entscheidet sich eine Majorität zu Gunsten eines falschen Prinzips, so erhält dasselbe Gesetzeskraft zum Schaden des Einzelnen wie der Gesamtheit. Freiheit und Recht hängen aber nicht ab von Majoritätsbeschlüssen. Lange ehe eine Majorität am Stimmkasten sich zu ihren Gunsten erklärt, hat eine einsichtsvolle und entschlossene Minorität sie praktisch zum ungeschriebenen Gesetz erhoben und im Leben verwirklicht. Seiner eigentlichen Natur nach kann der Stimmzettel nichts anderes als ein Werkzeug in den Händen des Despotismus bilden, und als solches hat er sich denn auch vortrefflich bewährt. Der Glaube an die erlösende Macht des Stimmzettels ist aus diesen Gründen nichts weiter als ein ebenso stupider wie verderblicher Aberglaube.

Und hieraus dürfte sich für den denkenden Leser die Ergänzung meiner Überschrift wohl von selber ergeben: weder Dynamit noch Stimmzettel, sondern geistige Agitation und die friedliche, von allen herrschenden Gewalten unabhängige Organisation unserer Prinzipien und Strebeziele. In der Ausführung unseres Programms in dieser Weise unterscheiden wir uns wesentlich von allen politischen Parteien, aber wir stehen auf dem Boden der Natur.

G.S.

(Libertas 3, Samstag, 21. April 1888, S. 4–5.)