Libertas

„Freiheit, nicht die Tochter, sondern die Mutter der Ordnung“ – Proudhon

Eduard Schröter.

Immer mehr lichten sich die Reihen derer, die den Freiheitsdrang, der vor nun etwa einem halben Jahrhundert sich in Deutschland allenthalben zu regen begann, aus eigener Anschauung kannten. Und wie wenige sind noch übrig geblieben, die an der damaligen Bewegung aktiven Anteil genommen und deren späteres Leben das Versprechen hielt, das die Jugend voll glühender Freiheitsliebe gegeben hatte? Einer der bewährtesten dieser Helden war Eduard Schröter. Auch er ist nicht mehr. Er starb am 22. April, im Alter von 77 Jahren, in dem kleinen, stillen Landstädtchen am Wisconsinfluss, in Sauk City, wo er die letzten fünfunddreissig Jahre seines Lebens im Verborgenen verlebte, von wo aus aber, bis zu den Jahren, wo Krankheit und Körperschwäche auch seine Geisteskraft gebrochen hatten, das Echo seiner Stimme zu allen in den Vereinigten Staaten wohnenden freisinnigen Deutschen drang.

Einer der bedeutendsten Exponenten der freireligiösen Agitation in Deutschland, die in der freien Gemeinde zur Blüte kam, wurde er von der 48er-Revolution nach Amerika verschlagen, wo er jedenfalls der begeistertste und unermüdlichste Kämpfer dieser Bewegung wurde.

Als er 1850 als Exilierter, und ehedem Sprecher der freien Gemeinde zu Worms, in New York landete, gründete er sofort eine freie Gemeinde daselbst und bald darauf in noch anderen östlichen Städten. Im nächsten Jahre erhielt er einen Ruf nach Milwaukee zwecks Gründung einer Gemeinde, deren Sprecher er sein sollte. Auf der Reise dorthin liess er in allen grösseren Städten, die er berührte, Spuren seiner Gegenwart zurück in der Form freier Gemeinden, wovon aber die meisten, in Ermanglung eines Sprechers, bald wieder eingingen.

In Milwaukee entwickelte er für die Sache, der er sich nun einmal mit Leib und Seele ergeben hatte, eine unermüdliche Tätigkeit. Nicht nur lag er seinen Sprecherpflichten ob, er gründete auch den „Humanist“, als Organ der freien Gemeinden, dem er als Redakteur vorstand, und bereiste den Staat Wisconsin als Reiseredner und Organisator und gründete in diesem Staat allein dreissig freie Gemeinden.

Nachdem aus dieser Riesenarbeit bedenkliche Folgen für seine Gesundheit erwachsen waren, siedelte er in die Landeinsamkeit Sauk Citys als Sprecher der von ihm daselbst gegründeten Gemeinde über. Dort gelangte sein bewegtes Leben, äusserlich wenigstens, zur Ruhe. Dass es an inneren Kämpfen und Stürmen nicht fehlte, dafür sorgte seine rastlose, feurige Natur.

Eine feurige Natur seltenster Art war Schröter in der Tat. Mit unermüdlicher Energie begabt und mit unerschütterlichem Vertrauen in den endlichen Sieg der guten Sache, konnte keine noch so bittere Enttäuschung ihn dauerhaft entmutigen. Bei jedem auch nur geringen Erfolg seiner teuren Ideale flammte sein Auge in neuerwachter Hoffnungsfreudigkeit auf und diese Jugendlichkeit des Fühlens bewahrte er sich bis ins hohe Alter, bis der Tod ihn abrief.

In manche junge Seele fiel zündend ein Funke dieses Feuers, wie denn auch der Jugendunterricht, der einen bedeutenden Teil von Schröters Wirken in Sauk City bildete, zu den segensreichsten seiner späteren Leistungen gehörte. Auch uns, den Mitredakteuren von Libertas, war das Glück beschert, zu seinen Schülern zu gehören, und zwar zu einer Zeit, da Gesundheit und Manneskraft seinen Geist noch in voller Frische auf uns einwirken liessen. Später, freilich, als immer fühlbarer werdendes Alter und Krankheit, Körper- und Geisteskraft gebrochen hatten, verloren auch diese einst so schönen Stunden ihre Wirkung, und eine jüngere Generation, die nach uns auf denselben Bänken sass, blieb unberührt von dem Zauber dieses wirklich ungewöhnlichen Charakters, und mancher Funke, der schon verheissend zu glimmen begonnen hatte, erlosch wieder.

Schröters Verdienst liegt nicht in seinen intellektuellen Errungenschaften. Er war kein Denker, sondern ein Enthusiast und ein Charakter. Das erklärt zugleich seinen Erfolg wie seinen Misserfolg. Das Feuer seiner Begeisterung, seine unerschütterliche Hingebung an seine Ideale, seine edle Männlichkeit und Gesinnungstreue übten einen gewaltigen Einfluss auf seine Zuhörer aus, sie machten ihn zum ausgezeichneten Agitator und Organisator; aber sein verhältnismässig unwissenschaftlicher Geist, dem die Schärfe und die Ruhe des wahrhaft tiefen, systematischen Denkers und Gelehrten abging, machten ihn zum Lehrer des reiferen, fortgeschritteneren Teiles seiner Gemeinde auf die Dauer untauglich. Sie fühlten schliesslich, dass ihrem Geiste keine neue Nahrung mehr zugeführt wurde und die fortdauernde Exaltation, die zuerst mit fortgerissen hatte, ermüdete endlich. Er hätte auf einem grösseren, mehr dem Wechsel unterworfenen Gebiete, ungleich Grösseres geleistet, als ihm das auf dem engen Felde und der immer gleichen Zuhörerschaft Sauk Citys möglich war.

In einer, sich immer mehr der kalten Berechnung zuneigenden Zeit, wie der unsrigen, in der eine radikale Rekonstruktion der Gesellschaft zur immer grösseren Notwendigkeit wird, und die nur durch eine immer wachsende, lebenswarme Begeisterung für ein hohes Ideal vor sich gehen kann, tun uns Männer vom Schlage Schröters schmerzlich Not. An einer klaren Erkenntnis der Prinzipien, aufgrund derer eine solche Rekonstruktion stattfinden muss, fehlt es unter denkenden Menschen nicht mehr so sehr wie an feuerzüngigen Aposteln dieser Prinzipien, wie Schröter einer hätte sein können.

Unter all den traurigen Erfahrungen, die das Schicksal ihm nicht ersparte, war auch diese, dass er seinen eigenen Verfall, nicht nur körperlichen, sondern auch geistigen, mit klarer Erkenntnis desselben, erleben musste. Wie ein Trauerflor lag dieses Bewusstsein über den letzten Jahren seines Lebens, so tapfer er auch dagegen ankämpfte, und oft klagte er uns in tiefster Niedergeschlagenheit sein Leid. Das Allerschmerzlichste aber war, dass man, ob dieses Verfalls und anderer begleitenden Umstände, in seiner nächsten Umgebung seine früheren Verdienste fast vergessen konnte. Er wurde das zum grössten Teil unschuldige Opfer eines kleinstädtischen Parteienstreites, den hier zu erwähnen ich mich durch den Umstand berechtigt fühle, dass derselbe bereits in weiteren Kreisen Verbreitung gefunden hat. Die Motive, die mich leiten, sind einfach, das Andenken Schröters von allen kleinlichen, den Blick trübenden Nebenumständen zu reinigen. Wer ihn persönlich kannte und ihm mit unparteiischen Augen auf den Grund seines, mit so vielen der vorzüglichsten Eigenschaften ausgestatteten, für alles Wahre, Gute und Schöne stets erglühenden Herzens geschaut hat, wird seiner stets in Liebe und Verehrung gedenken, und dem wird es auch klar sein, dass eine [Wort unlesbar] Persönlichkeit nicht ohne Einfluss auf engere und weitere Kreise bleiben konnte. Wer kann es sagen, in wie vielen Köpfen seine edle Begeisterung nicht ein dauerndes Interesse für die höheren, idealeren Angelegenheiten der Menschen erweckt hat? Und auf zwei seiner Schüler wenigstens hat er noch tiefer eingewirkt. Auf sie war sein Einfluss geradezu bestimmend, insofern überhaupt ein Geist dem anderen eine Richtung fürs Leben geben kann.

Nachfolger in dem Sinne, in dem er selber sie sich wünschte, hat er keine. Es schmerzte ihn tief, dass keiner seiner liebsten Schüler sich das freigemeindliche Sprechertum zum Beruf erkoren hatte. Da er selbst niemals die Freiheit im einseitigen, religiösen Sinne auffasste und es stets als eine der Aufgaben der freien Gemeinden betonte, auch für politische und soziale Freiheit einzustehen, konnte er es nicht verstehen, dass der moderne Freiheitskämpfer sein Feld der Nützlichkeit nicht mehr innerhalb der freien Gemeinde finden könne, dass sich derselbe vielmehr sein Saatfeld auf einem andern Boden erst urbar machen müsse. Unsere Hoffnungen sind allerdings auch auf eine freie Gemeinde gerichtet, die wir aber nur anzustreben uns vorläufig begnügen müssen, da ihre Verwirklichung noch in der fernen Zukunft liegt. Diese freie Gemeinde wird nicht nur ohne die Kirche und ihre Gesetze, sondern auch ohne den Staat und seine Gesetze bestehen.

Schröter war, trotz seiner glühenden Freiheitsliebe, die Freiheit in dem Sinne, in dem wir sie auffassen, noch fremd. Weit entfernt jedoch, schlechthin als Utopie zu verdammen, was er nicht verstand, erkannte er vielmehr, dass die neue Anschauungsweise ein gründliches Studium verlange, das zu machen es für ihn zu spät war. Als ich vor wenigen Monaten, bei Gelegenheit meines Abschieds vom Westen, auch von ihm Abschied nahm, wohlfühlend, dass es das letzte Mal war, dass ich einen Kuss auf seine Lippen drücken würde, sagte er mir im Tone trauriger Resignation: „Ich verstehe den Anarchismus nicht, und meine Geisteskraft reicht nicht mehr aus, denselben gründlich zu untersuchen. Ich bin eine Ruine, ich kann nicht mehr denken.“ So herzergreifend traurig dieses Geständnis war, so war es mir doch ein wohltuendes Zeichen seiner intellektuellen Vorurteilslosigkeit. Mancher schon in verhältnismässiger Jugend verknöcherte Geist dürfte sich davor beschämt fühlen.

So ruhe denn im Nirwana, lieber alter Lehrer und Freund. Die Zeit wird die Erinnerung an Dich verklären, Deine Schwächen werden vergessen werden und die herrlichen, grossen Eigenschaften, die Dich lebend zum würdigen Vorbild machten, werden auch nach Deinem Tode ihren Einfluss nicht verlieren.

E.H.S.

(Libertas 4, Samstag, 5. Mai 1888, S. 4–5.)

Anmerkungen

Eduard Georg Schröter (1811–1888) war ein deutscher evangelischer Theologe und Mitbegründer der Freien Gemeinde in den USA. Nach seinem Studium der Theologie, Philosophie und Geschichte in Jena und Göttingen wurde er 1845 wegen seiner revolutionären Anschauungen aus der protestantischen Landeskirche des Königreichs Hannover ausgeschlossen und wurde Prediger des deutschkatholischen Vereins in Worms. Ihm drohte ab 1848 die Ausweisung aus dem Grossherzogtum Hessen und er wurde zusammen mit seiner Familie schliesslich 1850 ausgewiesen. Sie wanderten in die USA nach New York aus. Die Free Congregation of Sauk County besteht noch heute.

Die Wirkung der Gewalt im Finanzwesen.

Das Verhalten des Senators Reagan von Texas in der Prohibitionsfrage hat gezeigt, dass er nichts weniger als ein zuverlässiger Verfechter der Freiheit ist; aber nichtsdestoweniger legte er eine angemessene Rücksicht für die Freiheit an den Tag und bekundete einen hohen Grad von finanzieller Einsicht, als er unlängst in einer im Senat stattgehabten Debatte der Idee des „Legal Tender“ Papiergelds opponierte und erklärte, dass, wenn noch mehr Tresorscheine ausgegeben werden müssten, sie nicht als „Legal Tender“ für Privatschulden, sondern als Zahlungsmittel für alle Steuern und öffentlichen Gebühren gelten sollten. Der Fort Worther „Southwest“ jedoch, der an ein ausschliessliches „Legal Tender“-Geld glaubt, bediente sich sehr harter Ausdrücke gegen Senator Reagan und vergleicht, was er als dessen einseitigen „Legal Tender“-Entwurf bezeichnet, d. h. einen Entwurf für „Legal Tender“ für die Regierung, aber nicht für Individuen, mit jenem andern „Legal Tender“-Entwurf, demzufolge die ursprünglichen Tresorscheine ausgegeben wurden, d. h. einen „Legal Tender“-Entwurf für Individuen, aber nicht für die Regierung betreffs der Einfuhrsteuern.

Dass die Tresorscheine unter letzterem Entwurf eine Entwertung erlitten, bezweifelt heute niemand mehr, und der „Southwest“ folgert, dass, da beide Entwürfe einseitige „Legal Tender“-Entwürfe seien, unter ersterem ausgegebene Scheine gleichfalls entwerten würden: eine Folgerung, welche zeigt, wie gefährlich es ist, eine Analogie anzunehmen, ohne sie vorher zu prüfen. In der Vergleichung zweier Dinge ist es von Wichtigkeit, zu bestimmen, nicht allein, in welchen Beziehungen sie sich gleich sind, sondern auch, in welchen Beziehungen sie sich voneinander unterscheiden. Diese beiden Entwürfe sind sich ohne Zweifel darin gleich, dass beide ein einseitiges „Legal Tender“-Geld beschaffen; doch eine etwas genauere Untersuchung wird einen wesentlichen Unterschied zwischen ihnen an den Tag legen, keinen geringeren Unterschied, in der Tat, als derjenige, welcher zwischen einem Scheinaussteller besteht, der bereit ist, seine eigenen Scheine entgegenzunehmen, und einem anderen, der nicht bereit ist, das zu tun, sondern vielmehr entschlossen ist, andere zur Entgegennahme seiner Scheine zu zwingen.

Um nicht zu viel von der Abstraktionsfähigkeit des „Southwest“ zu verlangen, werde ich die anzuwendende Illustration ein wenig konkreter machen, indem ich an Stelle der Regierung John Smith setze. Nehmen wir an, dass John Smith Scheine ausstellt und in Umlauf setzt und dann, seinem Nachbar John Brown eine Pistole vor den Kopf haltend, zu ihm sagt: „Wenn Dir meine Scheine als Zahlung für eine Dir zu entrichtende Schuld angeboten werden, musst Du sie entgegennehmen; wenn Du Dich weigerst, wirst Du mit dem Leben dafür büssen müssen; doch, was mich anbetrifft, zeige ich hiermit Dir und der Welt an, dass ich diese Scheine nicht als Zahlung für an mich zu entrichtende Schulden entgegennehmen werde.“ Der „Southwest“ wird keine Schwierigkeiten haben einzusehen, dass John Smiths Scheine unter solchen Umständen ausgegeben rasch entwerten würden. In Wirklichkeit sieht er, dass dies in einem dementsprechenden Falle tatsächlich zutraf, wo John Brown, der Bürger, von John Smith, der Regierung, gezwungen wurde, die Scheine anzunehmen, welche letzterer ausgab, aber sich weigerte, als Zahlungsmittel für Einfuhrsteuern selber zu akzeptieren.

Doch nehmen wir an, John Smith hätte seinem Nachbar John Brown gegenüber ein anderes Verfahren befolgt. Angenommen, nachdem er seine Scheine in Umlauf gesetzt, hätte er zu Brown gesagt: „Wenn Dir meine Scheine als Zahlung für an Dich zu entrichtende Schulden angeboten werden, steht es Dir frei, sie entgegenzunehmen oder zu verweigern, wie es Dir am besten dünkt; aber ich zeige Dir und der Welt hiermit an, dass ich diese Scheine unverzüglich zu ihrem vollen Betrage für irgendwelche mir zu entrichtende Schulden entgegennehmen werde.“ Glaubt der „Southwest“, dass ein solches Verfahren seitens John Smiths eine Entwertung seiner Scheine zur Folge gehabt haben würde? Glaubt er nicht vielmehr, dass John Smiths Bereitwilligkeit, das Schicksal seiner Scheine ihrer eigenen Güte zu überlassen, in Brown und Anderen ein grösseres Gefühl des Zutrauens erweckt haben würde, als sie jemals hätten fassen können, wenn Smith, selbst wenn er bereit gewesen wäre (was er nicht war), seine Scheine selbst entgegenzunehmen, den Versuch gemacht hätte, sie Anderen aufzuzwingen? Es scheint mir, dass „Southwest“ vernünftigerweise eine bejahende Antwort geben muss.

Doch diese Antwort wäre gleichbedeutend mit dem Zugeständnis, dass Senator Reagans einseitiges „Legal Tender“ nicht nur von dem einseitigen „Legal Tender“ der ursprünglichen Greenback-Gesetzgebung sehr verschieden und demselben weit überlegen ist, sondern dass ihm auch vor dem vollständigen „Legal Tender“, den „Southwest“ befürwortet, der Vorzug gegeben werden muss. Wie leicht hätte mein texanischer Zeitgenosse dieses Dilemma vermeiden können, durch Zuhilfenahme seiner Unterscheidungsgabe.

Ꭲ.

(Libertas 4, Samstag, 5. Mai 1888, S. 4.)

Anmerkungen

Seit dem Legal Tender Act, der 1862, mitten im Bürgerkrieg, erlassen wurde, wurde um die Legalität von Papiergeld heftig gestritten. Die Gegner stützten sich dabei auf Article I, Section 10 der Verfassung, welcher den Bundesstaaten explizit verbot, Schuldscheine (promissory notes, „bills of credit“) herauszugeben oder andere Zahlungsmittel als Gold- und Silbermünzen als gesetzliches Zahlungsmittel (legal tender) anzuerkennen. 1871 wurden vor dem Supreme Court zwei sog. „Legal Tender Cases“ verhandelt, welche schlussendlich Papiergeld als gesetzliches Zahlungsmittel als zulässig erklärten. Tucker bezeichnet dies im Artikel als „Greenback-Gesetzgebung“.

Tucker, der sämtliche staatlichen Monopole ablehnte, also auch die Idee eines staatlichen Geldmonopols, bezieht hier klar Stellung. Überhaupt experimentierten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Gemeinschaften und Bewegungen in den USA und anderswo mit alternativen Zahlungsmitteln wie z. B. Zeitbanken, privaten Kassenanweisungen u. a., um sich der in der Zeit um sich greifenden staatlichen Monopolisierung des Geldes (England 1844, USA 1862, Deutschland 1871) zu entziehen. Vgl. dazu z. B. James J. Martin (1980): Männer gegen den Staat: Die Vertreter des individualistischen Anarchismus in Amerika (1827–1908), 2 Bde., Freiburg: Verlag der Mackay-Gesellschaft.

Wer nicht so weit geht, als sein Herz ihn drängt und die Vernunft ihm erlaubt, ist eine Memme; wer weiter geht, als er gehen wollte, ist ein Sklave.

– H. Heine

(Libertas 3, Samstag, 21. April 1888, S. 8.)

Anmerkungen

Christian Johann Heinrich Heine (1797–1856) war einer der bedeutendsten deutschen Dichter, Schriftsteller und Journalisten des 19. Jahrhunderts. Wegen seiner politischen Ansichten zunehmend angefeindet und der Zensur in Deutschland überdrüssig, übersiedelte Heine 1831 nach Paris. Aus Frankreich berichtete er regelmässig über die Gemäldeausstellungen im Pariser Salon. Das hier publizierte Zitat bildet den Abschluss seines Berichts zur Gemäldeausstellung von 1833 (Sämtliche Werke, Band 10, S. 161, Hamburg: Hoffmann und Campe 1887).

Reminiszenzen an August Spies.

Kurze Zeit vor dem Platzen der Unglücksbombe in Chicago war August Spies in New York. Ich hatte ihn seit mehreren Jahren nicht gesehen und war erstaunt, ihn so jugendlich frisch wiederzufinden; etwas korpulenter, sonst aber ganz der Alte. Die Wirren und persönlichen Nörgeleien in New Yorker Parteikreisen leiteten das Gespräch auf die Polizeibrutalitäten in der Concordia Halle, damals noch frisch im Gedächtnis aller durch den Prozess Schwab. Justus Schwab hatte gewiss Ursache, die Polizei zu hassen, hatte ihn doch die privilegierte Knittelgarde zeit seines Lebens schikaniert wie kaum irgendjemand Anderen, und es war gewiss nicht die Schuld der meineidigen Blauröcke, dass Justus einem mehrjährigen Aufenthalte in Sing Sing entging. Und Justus hasste die Polizei und gab seinen desfallsigen Gefühlen stets offenen Ausdruck, selbst dann, als ihm die Klugheit Schweigen gebot. Ich war daher an Ausdrücke der Verachtung und des Hasses die Polizei betreffend gewöhnt, aber einen solchen Hass, wie ihn August Spies im Herzen und zur Schau trug, habe ich niemals, weder vor noch nach meiner Unterhaltung mit Spies, zu beobachten Gelegenheit gehabt. Spies war im Ganzen sehr ruhig, kalt, sarkastisch, ein strenger Parteimann und vorzüglicher Gesellschafter, aber, wenn einmal erregt, ein Spielball der ihn beherrschenden Leidenschaft. So auch, als Justus Schwab meinte, eine gemeinere Polizei als die New Yorker Knüppelgarde sei undenkbar — da sprang der bis dahin fischkalte August auf, mit bleichem Gesicht und hochroter Stirn, und verurteilte die Chicagoer Polizei. Wie, das bin ich unfähig wiederzugeben. Als Spies nach ungefähr zehn Minuten geendigt hatte, sagte ein staunend horchender Freund: „August, wenn die Dich kriegen, die hängen Dich.“ Und so ist’s geschehen. Die Aufregung, in welche Spies geraten war, veranlasste mich, die Unterhaltung in ein ruhigeres Fahrwasser zu steuern, und ebenso schnell war die unnatürliche Nervenspannung geschwunden und August wieder der kalte, logische Spies.

„Aber, lieber Spies“, warf ich im Laufe der Unterhaltung ein, „Deine und der ‚Arbeiterzeitung‘ Prinzipien sind ja ganz schön, aber Du kannst nicht logisch Euer Anrecht auf den Namen Anarchisten begründen.“

„Und warum nicht?“, war seine Antwort.

„Weil — Eure Sorte Kommunismus nahezu das Gegenteil von Anarchismus ist und daher der Name ‚kommunistische Anarchisten‘ ein Antilogismus.“

Spies: „Ja, so erscheint es Euch Tuckeranern, weil Ihr Euch die menschliche Gesellschaft aus einer Menge Einzelindividuen bestehend vorstellt, jedes Individuum ein in sich abgeschlossenes Ganzes, begabt mit freiem Willen, Wollen und Denken, bildend. Eine solche menschliche Gesellschaft existiert weder heute noch wird eine solche jemals existieren können. Freier Wille ist eine Chimäre, es gibt kein von der Gesellschaft unabhängiges Individuum. Uns ist der Kommunismus eine selbstverständliche, weil für die Menschheit notwendige Voraussetzung, das Fundament für die Erhaltung des Ganzen. Erst nachdem der Kommunismus die Fortexistenz der Menschheit ermöglicht, treten wir ein für den Anarchismus in Angelegenheiten, die das Individuum allein betreffen und —“

„Einen Augenblick, lieber Spies“, warf ich ein, „welche Angelegenheiten z. B. betreffen solchergestalt das Individuum allein und nicht das Ganze? … hörte ich falsch oder sagtest Du nicht so?“

Nach einer Pause — „Ich denke, es würde uns das hier zu weit führen“, antwortete Spies.

Wie schon gesagt, Spies war ein strenger Parteimensch. Er verteidigte alles und irgendetwas im Parteiinteresse vor der Öffentlichkeit, privatim aber beklagte er sich schon damals bitter über das unkontrollierbare Element in den Reihen der Chicagoer Internationale. „Die ‚Arbeiterzeitung‘ ist den Feuerfressern nicht radikal genug“, erklärte er grimmig. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass er diese seine Nachgiebigkeit gegen eine Gruppe exaltierter Toren mit seinem Leben bezahlte.

B.

(Libertas 3, Samstag, 21. April 1888, S. 8.)

Anmerkungen

August Vincent Theodor Spies (1855–1887) war ein deutschamerikanischer Chefredakteur und Herausgeber der anarchistischen „Arbeiter-Zeitung“ und ein Sprecher der US-amerikanischen Arbeiterbewegung in Chicago. Im November 1887 wurde er zusammen mit drei weiteren Anarchisten durch Erhängen hingerichtet, nachdem am 4. Mai 1886 auf einer Kundgebung für den 8-Stunden-Arbeitstag auf dem Haymarket eine Bombe explodiert war. Das Urteil wurde bereits 1893 durch den Gouverneur von Illinois annulliert.

Justus H. Schwab (1847–1900) war ein weiterer Deutschamerikaner, Betreiber einer New Yorker Kneipe, die als Treffpunkt für Radikale galt, und eine wichtige Figur in der New Yorker anarchistischen Bewegung.

Bei den angesprochenen „Polizeibrutalitäten in der Concordia Halle“ dürfte es sich um den Polizeieinsatz im Februar 1885 handeln, als es in der Concordia Hall zu einer Auseinandersetzung zwischen Anarchisten und Sozialisten kam. Auslöser war, dass beide Parteien unterschiedlicher Ansicht darüber waren, ob der Einsatz von Dynamit durch irische Nationalisten in London legitim sei oder nicht.

Vollkommene Menschen.

Das Gesellschaftssystem, das Ihr anstrebt, ist schon ganz recht für vollkommene Menschen, aber für Menschen, wie wir sie nun einmal haben, taugt es nicht. Solange die Menschen nicht besser, solange sie noch die Sklaven ihrer Leidenschaften und selbstsüchtigen Eingebungen sind, müssen sie regiert werden, da richten alle Eure schönen Redensarten nichts aus. So lautet einer der stereotypen Einwände des Staatsgläubigen. Zwar ist er schon oft widerlegt worden, da er aber immer und immer wieder gemacht wird, lohnt es sich am Ende der Mühe, nochmals darauf einzugehen.

Allerdings sind die Menschen herrschsüchtig, habsüchtig, streitsüchtig, unvollkommen, überklug auf ihren Vorteil bedacht oder kreuzdumme Opfer der Ausbeutung. Dass die gegenwärtigen Staatsformen und das auf sie basierte sozialökonomische System trefflich dazu angetan sind, gerade diese empfindlichen menschlichen Unvollkommenheiten so recht zu entwickeln und auf ganz gefährliche Weise zuzuspitzen, das weiss wohl jeder humane Staatsgläubige auch, der mit sehenden Augen sieht. Aber der Aberglaube, dass alles noch viel schlimmer sein würde ohne die Zuchtrute des Gesetzes, wurzelt so tief und fest wie jener andere Aberglaube einst wurzelte, dass alle Schrecken der Hölle unbedingt nötig seien, um das menschliche Tier zu zähmen. Schliesslich sind wir doch das Fegefeuer los geworden und sind nicht schlimmer daran als zu der Zeit, als es gleich einem Damoklesschwert über unserem Haupte hing und das Leben zur Qual machte. Im Gegenteil sucht jetzt selbst die intelligentere Christenheit, die Hölle loszuwerden, da sie deren demoralisierenden Einfluss auf die Menschen einsehen gelernt hat.

Sehen wir uns einmal die schlimmsten Schwächen der Menschen etwas näher an, und mutmassen wir ein wenig über die Chancen, die sich denselben in einem regierungslosen Gesellschaftssystem eröffnen mögen.

Für die Herrschsucht bleibt wohl nur wenig Hoffnung, denn wo keine Nachfrage ist, bleibt die Ware einfach liegen. Wo das Herrschen in Verruf gekommen, wo keine hervorragenden Stellungen, die Machtausübung ermöglichen, mehr einzunehmen sind, wie soll da diesem liebsten Kinde des Staates sein Recht werden? Auf den Aussterbeetat mit ihm; von dieser Seite droht der Anarchie keine Gefahr.

Der Habsucht, mit ihrem Gefolge von Übeln gross und klein, scheint aber, auf den ersten Blick, umso freieren Spielraum gegeben. Doch auch dieser ist, wie sich bei näherer Untersuchung ergibt, mit dem Staate nur die Hauptstütze entrissen. Ohne Staat wird es keine staatsgeschützten Eigentums- und Geldprivilegien mehr geben und mit dem Zins werden wir auch glücklich den Profit und die Grundrente los geworden sein. Will man also etwas mehr erhaschen, als man durch seiner Hände und seines Geistes Arbeit erwerben kann, so wird das nicht mehr durch pfiffige Spekulation gelingen, und man muss sich schon zu einem tatsächlichen Einbruch oder Raubmord herbeilassen, oder durch einen Kunstgriff den Inhalt fremder Taschen zu dem der seinigen machen. Wie sieht aber das Stehlen gleich hässlicher aus, wenn es unmittelbar und ohne gesetzlichen Freibrief geschehen muss; es schadet unserem Ansehen unter unseren Nachbarn, und auf Respektabilität hält man doch etwas. Es gibt aber genug andere, die noch nicht auf diesem erhabenen Respektabilitätsstandpunkt angelangt sind, und die, in der Abwesenheit abschreckender Strafgesetze, frisch darauflos stehlen, rauben, morden. Wir werden sehen.

Emerson sagt über das Pioniersleben in Kalifornien zur Zeit, es „die beste Regierung hatte, die jemals existierte“ – nämlich gar keine:

Pfannen Goldes lagen zum Trocknen vor jedem Zelte in vollkommener Sicherheit. Das Land war in kleinen Streifen, wenige Fuss breit, vermessen. Ein Stückchen Grund, das mit der Hand bedeckt werden konnte, am Rande deines Streifens, war ein- bis zweihundert Dollars wert; und niemand bestritt deine Ansprüche. Jeder Mann durch das ganze Land war mit Messer und Revolver bewaffnet, und man wusste, dass jedes Vergehen von einer augenblicklichen Justiz ereilt werden würde; und es herrschte vollkommener Friede.

„Für die Gemütlichkeit bei einem solchen Frieden danke ich“, ruft da mancher sanfte Bürger aus, dem bei Erwähnung der Revolver eine Gänsehaut überläuft. „Da ist mir der Knüppel des Polizisten doch noch lieber.“ Auch wenn er auf Instigation reicher Diebe nach Willkür arme Arbeiter verknüppelt?

Man bedenke, dass die Pioniersbevölkerung des Goldlandes Kalifornien aus einem meist rohen, abenteuerlichen Element bestand, dessen Haupt, wenn nicht ausschliessliches Sinnen und Trachten nach Reichtum war. Ist es in Anbetracht dieser Tatsachen dann so schwer, sich ein geordnetes, bürgerliches Zusammenleben ohne Regierung und Gesetze vorzustellen, dessen Individuen nicht aus leidenschaftslosen, vollkommenen Menschen bestehen, sondern aus eben solchen fehlerhaften, mit mancherlei gemeinschädlichen Neigungen und selbstsüchtigen Interessen ausgerüsteten Geschöpfen wie wir selber, und die sich wohl zu schützen wissen werden gegen Eingriffe in ihr Eigentum, ihre persönliche Sicherheit, Bequemlichkeit und Freiheit?

Natürlich fehlt es in einem anarchistischen Gemeinwesen auch nicht an Solchen, die ihre Freiheit zu missbrauchen trachten werden. Die Möglichkeit, es auf die eine oder andere Weise zu tun, würde wahrscheinlich jedem Einzelnen von uns oft genug nahe liegen – möge der „Freidenker“ mit seiner eigensinnigen Wiederholung, dass Anarchie ein mit der Menschennatur gar nicht rechnendes Zukunftsideal sei, besondere Notiz hiervon nehmen – wenn wir nicht wüssten, dass unsere wachsamen Nachbarn uns bei jedem Übergriff auf die Finger klopfen würden. „Tue, was du willst“, ruft jeder dem Anderen zu, „merke dir aber, dass ich auch dasselbe Recht habe, zu tun, was ich will, und dass ich es nicht dulden werde, dass du meine Rechte schmälerst, oder mich und die Meinen im friedlichen, harmlosen Lebensgenuss störst.“

Das Kostenprinzip, das die ökonomische Grundlage des anarchistischen Gesellschaftssystems bilden wird, wonach alle Werte nach der zu ihrer Herstellung erforderlichen Zeit und Arbeitskraft bestimmt werden, und das allen Menschen Gerechtigkeit und ökonomische Gleichheit sichern wird, wird auch in gewissem Sinne der Regler des geselligen Zusammenlebens sein. „Was immer du tust“, wird es da heissen, „tust du auf deine eigenen Kosten. Riskiere es, das Eigentum oder die Person deines Nachbarn auf irgendeine Weise absichtlich zu gefährden, und trage die unausbleiblichen Folgen.“

Wir behaupten sogar, dass es weniger möglich sein wird, sich ungestraft an seinem Nächsten zu versündigen, als das jetzt der Fall ist, und dass wir zu dieser Folgerung berechtigt sind, weil wir eben mit der Menschennatur wie sie ist, rechnen und nicht, weil wir eine dem anarchistischen Ideal vermeintlich entsprechende Verbesserung annehmen. Doch, obgleich wir keine vollkommenen Menschen voraussetzen, haben wir doch die feste Zuversicht, dass sich in anarchistischer Freiheit ein geistig und körperlich schöneres, kräftigeres, edleres Geschlecht entwickeln wird als es jemals die Erde getragen hat.

Vieles wird aus unserem Moralkodex gestrichen werden müssen, was jetzt dort als Sünde verzeichnet steht, nicht weil die Menschen sich so sehr vervollkommnet haben werden, sondern weil die Vergehen, wenn es überhaupt Vergehen sind, rein persönlicher Natur sind, keiner zweiten Person zum Schaden gereichen – Übertretungen der Naturgesetze weiss die Natur selbst zu bestrafen – und nur insofern Ärgernis geben, wie sie mit unseren konventionellen Vorurteilen in Konflikt geraten. Diese Vorurteile sind in manchen Köpfen so gross, dass die Welt aus den Fugen zu gehen droht, wenn denselben nicht genug getan wird, und nur durch einen Moralkodex, dessen Befolgung durch Staatsgewalt erzwungen werden kann, zusammengehalten wird.

Eine Vollkommenheit, die diesen Vorurteilen entspräche, wäre allerdings eine Ungeheuerlichkeit ganz in dem Sinne des „Freidenkers“, und eine treffliche Staffage zu dem höchst lächerlichen Bilde eines vollkommenen Zukunftsstaates, wie er es seinen Lesern vorführt. Gottlob! Dem anarchistischen Zukunftsideal droht keine Gefahr von Seiten der Gähnkrämpfe, denn in der Anarchie wird „ewige Wachsamkeit der Preis der Freiheit“ sein.

Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muss.

E.H.S.

(Libertas 3, Samstag, 21. April 1888, S. 5 und 8.)

„Brüderliche“ Gewalt.

Das „Commonweal“ ist eine der wenigen sozialistischen Zeitungen, die zu lesen ich immer Geduld habe, da ihre Lebendigkeit und Gedankenfülle eine ziemlich beachtenswerte Ausnahme bilden zu der langweiligen Gemeinplätzigkeit des sozialistischen Durchschnittsjournals. In seiner letzten Ausgabe finde ich folgenden, dem „People“ entnommenen Ausschnitt:

Es ist nicht ein väterlicher, sondern ein brüderlicher Staat, den wir anstreben. Könnt ihr Schreier nach Individualismus nicht den Unterschied einsehen?

Es ist dies eine sehr gute Illustration der sozialistischen Methode, Schwierigkeiten zu umgehen und mit einer beneidenswerten Leichtigkeit ihr Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen. Greife sie an, wo du willst, sie sind vollkommen sicher und unverwundbar. Zerstöre ihren Standpunkt, und sie werden seinen Namen ändern und behaupten, dass dein Feuer ihnen nicht geschadet habe. Du widersetzest dich dem Zwangselement in ihren reformatorischen Utopien und zeigst ihnen die Inkonsequenz, den Widersinn, die selbstvernichtende Tendenz der Behandlungsweise, die sie der Gesellschaft vorschreiben, und sie werden für ihre gesundheitswidrige Medizin eine andere Etikette erfinden.

Namen tun nichts zur Sache, meine Herren. Zeigt uns, dass der Staatssozialismus unsere Freiheit nicht vergewaltigt, uns unseres rechtmässigen Besitzes nicht zu entäussern trachtet und uns den unwissenden Aberglauben der Majorität nicht aufzwingt, aber versteckt euch nicht hinter dem Euphemismus eines „brüderlichen“ Staates. Bah! Lest Bastiat:

„Die Montagnards beabsichtigen, dass die Besteuerung ihren bedrückenden Charakter verlieren und nur ein Akt der Brüderlichkeit werden soll.“ — Politische Plattform. Gültiger Himmel! Ich weiss, dass es heutzutage Mode ist, die Brüderlichkeit in alles hineinzudrängen, aber ich hätte es mir nicht vorgestellt, dass sie je in die Hände des Steuereinnehmers gegeben würde.

Es gibt Leute, die es lieben, wenn sie unter dem Einfluss berauschender Getränke stehen, umherzugehen und ihre brüderlichen Umarmungen und Küsse jedermann aufzudrängen, ihnen vollkommen Unbekannte nicht verschonend. Ohne Zweifel wäre ein solches betrunkenes Individuum sehr erstaunt, wollte sich jemand von seiner Herzlichkeit beleidigt und abgestossen fühlen. Doch die Freiheit, seine Freunde und Gefährten selbst zu wählen, ist von grösster Wichtigkeit. Wir bestehen darauf, dass wir gegen unseren Willen nicht einmal geküsst werden wollen.

V.Y.

(Libertas 3, Samstag, 21. April 1888, S. 5.)

Soll die Arbeit belohnt werden oder nicht?

In No. 121 von Liberty kritisierte ich einen Versuch Kropotkins, den Kommunismus und Individualismus als identisch hinzustellen. Ich beschuldigte ihn, „die wahre Frage, ob der Kommunismus es zulassen werde, dass das Individuum selbstständig arbeite, Werkzeuge eigne, seine Arbeit oder deren Produkte verkaufe und die Arbeit Anderer oder deren Produkte einkaufe“, ignoriert zu haben. In den Augen des Herrn Most ist das etwas so Unerhörtes, dass er beim Abdruck des Satzes die Worte „die Arbeit Anderer“ in grosser Fettschrift setzte. Als Kommunist muss Herr Most, wenn er konsequent sein will, überhaupt jeden Kauf und Verkauf verwerfen, aber warum er sich besonders gegen den Kauf und Verkauf der Arbeit auflehnt, kann ich nicht verstehen. In Wahrheit ergibt sich aus einer letzten Zergliederung, dass Arbeit allein das Recht hat, gekauft und verkauft zu werden. Hat der Preis irgendeine andere gerechte Basis als die Kosten? Und gibt es sonst etwas, das Kosten verursacht, ausser der Arbeit oder Leiden (eine Form der Arbeit)? Die Arbeit soll bezahlt werden! Schrecklich, nicht wahr? Glaubte ich doch, der Umstand, dass sie nicht bezahlt wird, sei das ganze Unglück. „Unbezahlte Arbeit“ war stets die Hauptbeschwerde aller Sozialisten, und dass die Arbeit ihren Lohn erhalte, war ihr Hauptkampf. Angenommen, ich hätte zu Kropotkin gesagt, die wahre Frage sei, ob der Kommunismus den Individuen erlaube, ihre Arbeit oder Produkte zu ihren eigenen Bedingungen auszutauschen. Wäre Herr Most wohl so entrüstet gewesen? Würde er das in Fettschrift gedruckt haben? Und doch habe ich in einer andern Form genau dasselbe gesagt.

Wenn Diejenigen, welche den Lohn, d. h. den Kauf und Verkauf der Arbeit verwerfen, fähig wären, ihre Gedanken und Gefühle zu analysieren, so würden sie einsehen, dass es nicht der Umstand des Kaufs und Verkaufs der Arbeit ist, der ihren Zorn erregt, sondern der Umstand, dass eine ganze Klasse für ihren Lebensunterhalt auf den Verkauf ihrer Arbeit angewiesen ist, während eine andere Klasse durch gesetzliche Privilegien der Notwendigkeit der Arbeit überhoben ist, Privilegien, welche letztere Klasse in den Stand setzen, Etwas zu verkaufen, das nicht Arbeit ist und das in der Abwesenheit jener Privilegien Allen zu Gute käme. Und gegen einen solchen Stand der Dinge protestiere ich so sehr wie irgend Einer. Doch von dem Augenblick ab, wo das Privilegium abgeschafft wird, wird die Klasse, die es jetzt geniesst, sich genötigt sehen, ihre Arbeit zu verkaufen, und dann, wenn Nichts mehr vorhanden ist als Arbeit, um Arbeit zu kaufen, wird der Unterschied zwischen Lohngeber und Lohnempfänger aufgehoben und Jeder wird ein Arbeiter sein, der mit seinen Nebenarbeitern in Tausch steht. Das Ziel des anarchistischen Sozialismus besteht nicht in der Abschaffung des Lohns, sondern darin, Jeden auf seinen Lohn zu verweisen und ihm den vollen Betrag desselben zu sichern. Was der anarchistische Sozialismus abzuschaffen bestrebt ist, ist der Wucher. Nicht der Arbeit, dem Kapital will er die Vergütung nehmen. Er besteht nicht darauf, dass die Arbeit nicht soll verkauft werden; er besteht darauf, dass das Kapital nicht auf Wucher soll verdungen werden.

Aber, wendet Herr Most ein, diese Idee eines freien Arbeitsmarkts, aus dem das Privilegium ausgeschieden ist, ist weiter nichts als „konsequentes Manchestertum“. Nun, was kann ein Mann, der sich zum Anarchismus bekennt, besseres wünschen, als das? Denn das Prinzip des Manchestertums ist Freiheit, und konsequentes Manchestertum ist konsequente Befürwortung der Freiheit. Die einzige Inkonsequenz der Manchesterleute liegt in ihrer Untreue gegen die Freiheit in einigen ihrer Phasen. Und diese Untreue gegen die Freiheit in einigen ihrer Phasen ist gerade die verhängnisvolle Inkonsequenz der „Freiheit“ und ihrer Partei, und der einzige Unterschied zwischen ihnen und den Manchesterleuten besteht darin, dass in vielen Beziehungen, in welchen die letztern untreu sind, die erstern treu sind, während in andern Beziehungen, in welchen die letztern treu sind, die erstern untreu sind. Ja, echter Anarchismus ist konsequentes Manchestertum und kommunistischer oder Pseudoanarchismus ist inkonsequentes Manchestertum. „Ich danke dir, Jude, für dieses Wort.“

T.

(Libertas 3, Samstag, 21. April 1888, S. 5.)

Anmerkungen

Anmerkung zum letzten Satz: In der ersten Szene des vierten Aufzugs von Shakespeares Der Kaufmann von Venedig wird die Klage des Shylock, dem jüdischen Geldverleiher, gegen den glücklosen Kaufmann Antonio vor dem Dogen verhandelt. Weil Antonio das geliehene Geld nicht zurückzahlen kann, schuldet er dem Shylock „ein Pfund Fleisch“ aus seinem Körper. Die als Advokat Balthasar verkleidete Portia rettet Antonio mit einer Spitzfindigkeit: Zwar habe Shylock Anspruch auf das Fleisch, nicht jedoch auf das Blut Antonios, er dürfe also beim Herausschneiden keinen Tropfen Blut vergiessen. Tue er es doch, so drohe ihm die Todesstrafe und alle seine Güter würden vom Staat konfisziert. Als Shylock daraufhin erwiedert, „gebt mir mein Kapital, und lasst mich gehn!“, ruft Graziano, ein anwesender Freund Antonios aus: „Dank, Jude, dass du mich das Wort gelehrt.“ (in der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel von 1799; im Original: „I thank thee, Jew, for teaching me that word.“]). Beim letzten Satz in diesem Beitrag Tuckers, der klar als Zitat gekennzeichnet ist, handelt es sich wahrscheinlich um eine Übersetzung dieses Ausrufs. Zum Verständnis der jüdischen Figur des Shylock vgl. u. a. den Artikel in der Wikipedia.

Weder Dynamit noch Stimmzettel, sondern?

In der Propaganda unserer Sache greifen wir weder zum Dynamit noch zum Stimmzettel. Nach der herrschenden Meinung aber sind dies die hauptsächlichen Mittel, die einer Partei zur Verwirklichung ihres Programms zur Verfügung stehen: Sie muss sich für das eine oder andere entscheiden. Weigern wir uns, am Stimmkasten für unsere Prinzipien zu wirken, so ist es nach der herrschenden Meinung eine ausgemachte Sache, dass wir Dynamit im Schilde führen. Aber das ist stupid. Vorläufig sind wir wenigstens hierzulande noch nicht da angelangt, zwischen diesen Mitteln wählen zu müssen. Es stehen uns viel wirksamere Agentien zur Förderung unserer Sache zur Verfügung. Sollte es aber je dahin kommen, sollten wir vor eine solche Alternative gestellt werden, dann müssten wir selbstverständlich das Dynamit wählen. Denn die Dinge, welche durch Gewaltmittel zu sichern sind, wozu ich z. B. den Sturz eines sich direkt und ausschliesslich auf Kanonen und Bajonette stützenden Despoten oder die Herstellung der Presse- und Redefreiheit, kurz der Agitationsfreiheit in Wort und Schrift zähle, würden sich viel rascher durch das Dynamit sichern lassen als durch den Stimmzettel. Dynamit und Stimmzettel sind wesentlich von ein und derselben Art, beides sind Gewaltmittel, aber das Dynamit hat den ungeheuren Vorzug leichter Anwendbarkeit, grosser Einfachheit und prompter Wirksamkeit.

Aber, wie gesagt, wir befinden uns in der Propaganda des Anarchismus nicht vor der Alternative einer Wahl zwischen Dynamit und Stimmzettel, und zwar erstens nicht, weil unsere Sache ihrem innersten Wesen nach weder durch das eine noch das andere der angeführten Agentien je zu verwirklichen ist; und zweitens, weil uns die natürlichen, dem Wesen der Sache entsprechenden Agitationsmittel, Wort und Schrift, grossenteils zur Verfügung stehen. Das Wesen unserer Sache, sofern es sich um den positiven Teil derselben handelt, schliesst alles Operieren mit Gewaltmitteln aus. Die zunächst vor uns liegende Aufgabe besteht weder im Sturz eines sich direkt und ausschliesslich, oder auch nur hauptsächlich, auf Militärmacht stützenden Despoten, noch in der Herstellung und Sicherung der Presse- und Redefreiheit, wiewohl diese unschätzbaren Agitationsmittel selbst hierzulande mancherorts bedroht sind; die uns zunächst liegende Aufgabe besteht in der Erkämpfung der Freiheit der Betätigung des Individuums nach allen Richtungen hin, sowie in der dadurch bedingten Abschaffung der Tributpflichtigkeit der Arbeit dem Privilegium gegenüber, wie dasselbe im Staat zum Ausdruck gelangt.

Es liegt auf der Hand, dass die zu beseitigende Unselbstständigkeit des Individuums in enger Beziehung steht mit der ökonomischen Abhängigkeit desselben. Um die allseitige Freiheit des Individuums zu erringen, muss demselben die Sicherung seiner ökonomischen Unabhängigkeit ermöglicht werden. Die Schaffung dieser Möglichkeit aber bedingt die Revolutionierung der gesellschaftlichen Einrichtungen in solcher Weise, dass das Individuum fürderhin in den Besitz des vollen Ertrags seiner Arbeit gelangt, das heisst, die Abschaffung der Monopolherrschaft des Staats. Denn es ist der Staat, der den Kredit monopolisiert und der Arbeit die Last des Zinses aufbürdet; der Staat, der den Grund und Boden monopolisiert und der Arbeit den Tribut der Bodenrente auferlegt; der Staat, der künstliche Schranken errichtet und durch Verhinderung des freien Welthandels auf Unkosten der Arbeit den Profit schafft. Es ist der Staat, der die Arbeit dem Zins, der Bodenrente, dem Profit, der Steuer, um keine andern Formen der Ausbeutung anzuführen, tributpflichtig macht. Wer und was ist hiernach der Staat? Wer und was anderes als die privilegierten Klassen, die in der angedeuteten Weise von der Exploitation der Arbeit leben. Der Ertrag der Arbeit fliesst auf dem Wege des Gesetzes grossenteils in die Taschen von Nichtstuern. Auf diesen Umstand lässt sich die Sklaverei des Individuums wie überhaupt die soziale Misere der Zeit zurückführen. Dieser Stand der Dinge soll nun abgeschafft werden. Die Arbeit soll in den Besitz ihres vollen Ertrags gelangen. Wir wollen eine Welt freier Menschen.

Welchen Weg müssen wir nun einschlagen, um dieses Ziel zu erreichen? Wie können wir unsere Sache verwirklichen? Vermag sich das Dynamit dabei als nützlich zu erweisen? Bewährt sich der Stimmzettel als das souveräne Mittel, als das er empfohlen wird? Oder gibt es andere, wirksamere Mittel zur Verwirklichung unserer Strebeziele?

Der denkende Mensch hat diese Fragen bereits im eigenen Geiste beantwortet.

Mit dem Hinweis auf die nicht wegzuleugnende Tatsache, dass das Unrecht, das soziale Elend, über das Beschwerde geführt wird, seine Hauptstütze in dem „Unverstand der Massen“ findet, glaube ich des besonderen Nachweises enthoben zu sein, dass das Dynamit in dem Kampfe zur Beseitigung desselben nicht zu erspriesslicher Anwendung gelangen kann. Mit dem Sklaven, der seine Ketten küsst, ist nichts auszurichten. Gegen die Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens. So auch wird sich der Unverstand und Sklavensinn der Massen leider nicht mittels Dynamit aus der Welt schaffen lassen. Leider nicht! Denn das wäre ein billiges Verfahren, um zu grossen Zielen zu gelangen. Der beanstandete Unverstand und Sklavensinn wird bestenfalls allmählich geistigen Waffen weichen. Wo uns daher diese zur Verfügung stehen, haben wir keine Veranlassung, zu andern zu greifen. Aber wie steht’s mit dem Stimmzettel?

Wie bereits angedeutet, setzen wir auch in den Stimmzettel kein Vertrauen. Dieses Mittel kann sich einfach nicht als ein Agens der gesellschaftlichen Entwicklung erweisen. Diese Entwicklung geht vor sich, ganz unabhängig davon. Es liegt nicht im Wesen des Stimmzettels, Freiheit, Recht und Wahrheit zu ermitteln und ins Leben einzuführen. Freiheit, Recht und Wahrheit ergeben sich aus den wechselseitigen Beziehungen, in welchen Individuum, Natur und Gesellschaft zueinander stehen, und gelangen immer zur Verwirklichung in dem Grade, in welchem sie vom Volke erkannt werden. Was der Stimmzettel einzig und allein zu ermitteln vermag, ist, wie viele Menschen sich zu einer gewissen Meinung bekennen, wie viele zu einer anderen. Entscheidet sich eine Majorität zu Gunsten eines falschen Prinzips, so erhält dasselbe Gesetzeskraft zum Schaden des Einzelnen wie der Gesamtheit. Freiheit und Recht hängen aber nicht ab von Majoritätsbeschlüssen. Lange ehe eine Majorität am Stimmkasten sich zu ihren Gunsten erklärt, hat eine einsichtsvolle und entschlossene Minorität sie praktisch zum ungeschriebenen Gesetz erhoben und im Leben verwirklicht. Seiner eigentlichen Natur nach kann der Stimmzettel nichts anderes als ein Werkzeug in den Händen des Despotismus bilden, und als solches hat er sich denn auch vortrefflich bewährt. Der Glaube an die erlösende Macht des Stimmzettels ist aus diesen Gründen nichts weiter als ein ebenso stupider wie verderblicher Aberglaube.

Und hieraus dürfte sich für den denkenden Leser die Ergänzung meiner Überschrift wohl von selber ergeben: weder Dynamit noch Stimmzettel, sondern geistige Agitation und die friedliche, von allen herrschenden Gewalten unabhängige Organisation unserer Prinzipien und Strebeziele. In der Ausführung unseres Programms in dieser Weise unterscheiden wir uns wesentlich von allen politischen Parteien, aber wir stehen auf dem Boden der Natur.

G.S.

(Libertas 3, Samstag, 21. April 1888, S. 4–5.)

Nach „Freiheit“, „Der Sozialist.“

Die erste, Libertas widerfahrene Kritik kam aus dem Lager der Kommunisten und floss aus der Feder des Herrn Most. Ich habe dieselbe beantwortet und Herr Most verspricht eine Entgegnung in der „Freiheit“. Mittlerweile erfolgt ein Angriff aus einem andern Quartier, aus dem Lager der Staatssozialisten. In dem offiziellen Organ derselben, dem „Sozialist“, widmet ein regelmässiger Mitarbeiter dieses Blattes, J. G., zwei Spalten einer Besprechung meiner Abhandlung über „Staatssozialismus und Anarchismus“. Unter der Überschrift „Konsequente Anarchisten“ stellt er zuerst einen Vergleich an zwischen den Anarchisten und den Kommunisten, die sich Anarchisten nennen, in welchem er die ersteren ihrer Konsequenz, Logik und Offenheit wegen belobt. Nach dieser Einleitung begibt er sich an die Aufgabe, die logischen Anarchisten zu vernichten, indem er mit „Widersinn“, „Unsinn“, „Ignoranz“ und all den Abwandlungen dieser Substantive wie der ihnen verwandten Adjektive, deren die reichhaltige deutsche Sprache fähig ist, um sich wirft. Nun will es mir scheinen, dass wenn die Anarchisten solche Dummköpfe sind, sie keine durch zwei Spalten sich erstreckende Aufmerksamkeit im „Sozialist“ verdienen; andrerseits aber, dass wenn sie eine durch zwei Spalten gehende Prüfung verdienen, sie dieselbe in der Form einer Beweisführung verdienen an Stelle wegwerfender Behauptungen in Verbindung mit einem Hinweis auf die Marx'schen Werke, was einen stark an Henry Georges Methode erinnert, seine staatssozialistischen Kritiker auf „Progress and Poverty“ zu verweisen. Den Anarchisten vorzuwerfen, dass sie die Begriffe Wert, Preis, Produkt und Kapital nicht verstehen, dass ökonomische Konzepte von ihnen keine Berücksichtigung finden, und dass sie die Stellung der Staatssozialisten missrepräsentieren, heisst nicht, sie zu widerlegen. Eine Widerlegung bedingt Analyse und Vergleich. Ein Argument zu widerlegen heisst, es in seine Teile zu zergliedern, das Widersprechende derselben untereinander und die Unvereinbarkeit einzelner oder aller dieser Teile mit bereits festgestellten Wahrheiten nachzuweisen. Aber in J. G.’s Artikel ist von alledem nichts, oder doch beinahe nichts zu entdecken.

Die grösste Annäherung an eine fassbare Kritik, die ich entdecken kann, ist die Behauptung, dass ich Marx einen Begriff vom Staat zuschreibe, der seiner Auffassung durchaus fern lag; dass er nicht an den alten patriarchalischen und absolutistischen Staat glaubte, sondern dass er Staat und Gesellschaft als identisch betrachtete. Ja, er betrachtete sie als identisch in dem Sinne, in welchem der Löwe und das Lamm identisch sind, nachdem der Löwe das Lamm aufgefressen hat. Die Marx'sche Einheit von Staat und Gesellschaft ist mit der Einheit der Ehegatten im Auge des Gesetzes vergleichbar. Mann und Frau sind Eins, aber das Eine ist der Mann; so sind nach Marx'scher Auffassung Staat und Gesellschaft Eins, aber das Eine ist der Staat. Hätte Marx Staat und Gesellschaft Eins gemacht, aber das Eine die Gesellschaft, dann herrschten nur kleine oder gar keine Differenzen zwischen ihm und den Anarchisten. Nach der Auffassung der Anarchisten ist die Gesellschaft einfach die Summe jener Beziehungen zwischen den Individuen, welche aus den natürlichen, durch keine äussere, eingesetzte autoritative Gewalt gehemmten Entwicklungsprozessen erwachsen. Dass Marx unter dem Staat nicht dies verstand, erhellt aus der Tatsache, dass sein Plan auf die Etablierung und Aufrechterhaltung des Sozialismus, – d. h. die Beschlagnahme des Kapitals wie dessen öffentliche Verwaltung, mittels autoritativer Gewalt abzielte, nicht weniger autoritativ, weil demokratisch anstatt patriarchalisch. Es ist diese Beziehung des Marx'schen Systems zur Autorität, die ich in meiner Abhandlung betone, und wenn ich es darin missrepräsentiere, so tue ich das gemeinschaftlich mit allen staatssozialistischen Zeitungen und allen staatssozialistischen Plattformen. Aber es ist nicht eine Missrepräsentation; welcher Sinn könnte sonst in den Spötteleien hinsichtlich der Selbstherrlichkeit des Individuums liegen, in welchen sich J. G., ein Marxianer, gegen das Ende seines Artikels hin ergeht? Hat die individuelle Selbstherrlichkeit eine andere Alternative als die Autorität? Wenn so, worin besteht sie? Wenn nicht, und wenn Marx und seine Anhänger sie verwerfen, müssen sie notwendigerweise Befürworter der Autorität sein.

Aber wir wollen noch einen weiteren Punkt der J. G.’schen „Replik“ ins Auge fassen. Diese individuelle Selbstherrlichkeit, die Ihr verlangt, sagt er, haben wir schon und sie ist die Ursache all unseres Wehes. Wieder eine leere Behauptung, ohne Analyse und Vergleich, und aufgestellt in völliger Missachtung meiner Beweisführung. Ich begann mit der Erklärung, dass was wir bereits haben, ein Mittelding zwischen individueller Selbstherrlichkeit und Autorität sei, in welchem erstere nach einigen Richtungen hin vorherrsche, letztere nach andern; und ich wies nach, dass die Quelle all unseres Wehes nicht in der individuellen Selbstherrlichkeit, sondern in der Autorität liege. Ich führte diesen Nachweis, indem ich die bedeutendsten Hemmnisse spezifizierte, welche die Autorität errichtet hat, um das freie Spiel natürlicher ökonomischer Prozesse zu verhindern, und indem ich zeigte, wie diese Prozesse alle Formen des Wuchers, – d. h. wesentlich all unser Weh – abschaffen würden nach Beseitigung jener Hemmnisse. Ist dieses Argument widerlegt worden? Mit nichten! Hm! Sagt J. G., das ist nichts weiter „als ein in der abgeschmacktesten Weise wiedergekauter kleinbürgerlicher Proudhonismus“, den Marx „für immer begraben hat“. Darauf könnte ich erwidern, dass der Inhalt des „Sozialist“ in nichts Weiterem bestehe als in einem „wiedergekauten, alles Freiheitsgefühl beleidigenden Marxismus“, und dass Proudhon denselben längst abgefertigt habe. Wenn ich einmal einsehen lerne, dass ein solcher Stil sich in der Schlichtung von Kontroversen als wirkungsvoll erweist, dann will auch ich ihn anwenden. Bis dahin ziehe ich es vor, denselben von den Staatssozialisten monopolisiert zu sehen. Diese Form des Monopols würden die Anarchisten eher erlauben als zerstören.

T.

(Libertas 3, Samstag, 21. April 1888, S. 4.)

Eigentum und Rechtsschutz.

An die Redaktion von Libertas: Ihre Sozialtheorie enthält so viel scheinbar widersprechendes, dass ich mir nähere Aufklärung erbitten möchte. Den Leitartikel „Gewalt das Wesen des Staats“ schliessen Sie mit den Worten: „Libertas aber postuliert die Freiheit, Gerechtigkeit und das Eigentum. Daher geht ihre Forderung auf die Abschaffung des Staats“.

Ich möchte mir Ihre Vorstellung von dem Begriff „Eigentum“ erbitten. Ist es ein undefinierbares Etwas, ein ungreifbares Phantom, oder ist es ein Verhältnis, von dem man sich eine bestimmte Vorstellung machen kann? Von dem physischen „Besitz“, von dem materiellen „Haben“ muss es doch verschieden sein, denn sonst wäre ja der Dieb Eigentümer des Gestohlenen.

Bisher hielt ich immer „Eigentum“ für das Besitzverhältnis, das zwischen einer Person und einem Ding durch den Rechtsschutz entsteht. Nun ist aber Rechtsschutz prinzipiell eine Gewaltäusserung, ob er zur Verhinderung des Diebstahls und des Raubes Anwendung findet, oder selbst das Mittel der unerworbenen Aneignung wird. Er mag sich in der Form von Lynchjustiz oder Gerichtsentscheidung äussern. Im einen Fall rekrutiert sich die Staatsgewalt direkt aus dem Volke, im andern indirekt, indem sie zuerst die Form von Polizei und Militarismus annimmt. Mir ist deshalb der Begriff „Eigentum“ undenkbar, wo keine Staatsgewalt besteht. Nur ein Gewaltstaat kann der Sitz eines Rechtsschutzes sein, und der letztere ist der Schöpfer des Eigentumsverhältnisses, das durch die Abschaffung des Staats folgerichtiger Weise unmöglich wird.

EGOSIT.

Meiner Auffassung zufolge besteht das Eigentum aus den Werten, welche durch die physischen und geistigen Einwirkungen (Arbeit) des Individuums auf das ausser ihm Liegende entstehen. Nur was ich mit Aufbietung meiner Zeit und Arbeitskraft erzeuge, ist mein, mein Eigentum, und ich brauche nicht erst auf einen von einer Staatsgewalt eingesetzten Rechtsschutz zu warten, um mir ein Besitzverhältnis zwischen mir und einem so erzeugten Dinge vorzustellen. Ein Besitzverhältnis aber, das sich ausschliesslich durch den Rechtsschutz bestimmen lässt, ist ein willkürliches, ist nicht Eigentum, sondern Fremdtum. In diese Kategorie gehören Kapitalzins, Bodenrente und Profit, – vom einfachen, ungeschminkten Diebstahl nur durch den Rechtsschutz, der sie straflos hält, zu unterscheiden. Ein solcher Rechtsschutz, welcher die der heutigen Auffassung des Eigentums zugrunde liegenden Besitzverhältnisse anerkennt, ist, wie „Egoist“ behauptet, gleichbedeutend mit Staatsgewalt, und weil er es ist, weil er kein Rechts-, sondern ein Unrechtsschutz ist, behaupte ich, dass nicht der Staat das Eigentum erst möglich macht, sondern dass er es verneint. Um also das Eigentum im anarchistischen Sinne herzustellen, verlange ich die Abschaffung des Staats. Das Eigentum in meinem Sinne ist auf der Arbeit begründet. Wird dieses Eigentum je des Schutzes bedürfen, was ich nicht bestreite, so werden die dabei interessierten Individuen sich schon zu helfen wissen. Ich kann nicht einsehen, was sie daran verhindern sollte, sich zur Schaffung dieses Schutzes zu organisieren. Eine solche freiwillige Organisation zum Schutze des auf der Arbeit basierten Eigentums wäre aber kein Staat in dem Sinne, in welchem ich gemeinschaftlich mit allen Anarchisten das Wort gebrauche. Auch würde sich eine solche Organisation wesentlich vom historischen Staat unterscheiden.

G.S.

(Libertas 3, Samstag, 21. April 1888, S. 1.)