Libertas

„Freiheit, nicht die Tochter, sondern die Mutter der Ordnung“ – Proudhon

Freiheit und Herrschaft.

Den Bauern eines gewissen deutschen Ortes wird nachgesagt, dass sie im Jahre 1848 in ihren Forderungen gegen die Regierung sehr extravagant gewesen seien. Als nämlich die Losung ausgegeben wurde: „Pressfreiheit, keine Zensur!“, da riefen sie: „Nichts da! Wir müssen alles haben, Pressfreiheit und Zensur!“

Das waren dumme deutsche Bauern, welche der, von Jugend auf in der Ausübung republikanischer Freiheit geübte, Amerikaner nur mitleidig lächelnd über die Achsel ansieht. Dazu hätte nun unser Amerikaner gar keine Ursache; denn über den Begriff der Freiheit ist er noch unwissender, als jene Bauern über die Pressfreiheit waren. Solange es Fortschritt gibt, hiess die Losung desselben: „Freiheit! Nieder mit der Herrschaft!“ Der Amerikaner aber sagt: „Nichts da, wir müssen beides haben, Freiheit und Herrschaft!“ Er scheint einen gewissen Stolz darein zu setzen, der Welt zu zeigen, dass man auch ohne Fürsten den vollen Genuss des Despotismus haben kann. Durch nichts kann sein republikanischer Unwille mehr angeregt werden, als wenn so ein dummer Grüner sich einbildet, dass er hier Manches tun dürfte, was ihm draussen nicht erlaubt war.

Zur rechtzeitigen Dämpfung solcher unerlaubten Freiheitsgefühle werden dem neuen Ankömmling, noch vor dem Betreten dieses gastlichen Gestades, gründlich die Sachen untersucht. Wenn er so sehen muss, dass sich hier eine hohe Obrigkeit um seine privatesten Privatangelegenheiten (selbst seine Leibwäsche nicht ausgeschlossen) bekümmern darf, werden ihm schon beizeiten seine ausländischen Freiheitsbegriffe vergehen. Wer sich nach diesen ersten Vorstudien auch noch eine Zeitlang mit der Philosophie des Temperenz- und Sonntagszwanges und ähnlicher schöner Einrichtungen befasst, der wird bald die Pointe der republikanischen Freiheit begriffen haben und kann an der Feier des vierten Juli mit dem vollen Verständnis und der ganzen Begeisterung eines echten Amerikaners teilnehmen.

Es ist nun einmal vorgekommen, dass ein Grüner, welcher diese Art Republikanismus sehr schnell und leicht begriffen hatte, sich überzeugt fühlte, dass man in seiner Heimat doch noch weiter darin sei. Dies veranlasste ihn, geringschätzig auszurufen: „Na, det is mer 'ne scheene Republik, nich mal keenen Keenig haben se hier!“

Diese Selbstüberhebung ist aber bei dem gesetz- und ordnungsgläubigen Amerikaner übel angebracht. „Du Grünhorn“, ruft er, „bildest Dir wohl ein, dass wir Republikaner nicht auch ohne König alles das tun können, was Ihr in Europa ohne einen solchen Herren gar nicht mehr fertigbringen könntet.“

„Wir hängen in einem Jahre mehr Menschen, als eins Eurer grössten Königreiche in zehn Jahren; ja, ausser dem konservativen England und teilweise dem heiligen Russland haben die Übrigen die gute alte Sitte des Hängens ja schon ganz aufgegeben.“

„An Stelle der wenigen Staaten, in welchen bei uns niemand mehr durch das Gesetz getötet werden darf, habt Ihr z. B. das ganze Königreich Italien, wo trotz der Existenz eines Königs auch kein Todesurteil mehr gefällt werden darf.“

„Unser Gerichtsverfahren ist ebenso langwierig, schwerfällig, kostspielig und unzuverlässig für Denjenigen, welcher sein Recht sucht, wie in dem konservativsten Eurer Königreiche.“

„Unser Gesetzes- und Aktenstil ist noch schwerfälliger, unverständlicher und mittelalterlich-pedantischer als irgendwo bei Euch.“

„Die Prügelstrafe blüht in den zivilisiertesten unserer Staaten.“

„Der Press- und Redefreiheit können wir, mit unseren Gesetzen gegen obszöne Literatur, gegen Gotteslästerung, gegen Injurien, etc., ebenso gut beikommen, wie Ihr mit Eurer Zensur. Ja, wenn es uns passt, können wir mittels der Verschwörungstheorie jemanden wegen seiner Worte und Schriften oder gar seiner Gesinnung an den Galgen hängen.“

„Für unsere 'wühlerischen Elemente' ist uns die bei Euch beliebte Ausweisungsmethode lange nicht radikal genug; wir lassen sie gar nicht fort, wenn sie auch wollten, sondern sperren sie in den Kerker oder hängen sie.“

„Bei uns darf jemand auf die geringste Anklage hin ohne Umstände verhaftet werden, und wenn er nicht folgen will, darf der betreffende Beamte irgendeine Gewalt anwenden, ihn selbst erschiessen.“

„Eure Könige sind doch immer nur die Regierer von Land und Volk; unsere Vanderbilts, Goulds und Konsorten dagegen sind die wirklichen Eigentümer und könnten, wenn sie es vorteilhaft für sich fänden, das ganze Volk zum Lande hinausjagen.“

„Die Sklaverei stand bei uns noch in voller Blüte, als Ihr selbst Eure Leibeigenschaft nicht mehr besasset; und Hexen wurden bei uns wenigstens ebenso lange verbrannt, wie bei Euch.“

„Bei Eurer zehnmal so dichten Bevölkerung kann das arme Volk immer noch existieren, während unsere Monopolisten es stellenweise jetzt schon dahin gebracht haben, dass sie den Proletariern die Existenzbedingungen ganz nach Belieben abschneiden könnten.“

„Für die Weiber unserer Bonanzakönige sind die kostbarsten Diamanten Eurer Fürstinnen nicht zu kostspielig.“

„Selbst Euren Militarismus können wir ohne König nachahmen; denn wir haben einen Krieg gehabt, bei welchem mehr Menschen umgebracht und mehr Wohlstand verwüstet wurde, als in Euren blutigsten Feldzügen“, etc.

Unter den Fittichen einer solchen republikanischen Freiheit wird sich mancher Einwanderer allerdings in seinen sanguinischen Erwartungen bitter getäuscht sehen, und man kann es den deutschen Landwehrmänner-Vereinen gar nicht so übel nehmen, wenn sie in Königsgeburtstagsfeiern, etc., einer gewissen Sehnsucht nach der alten Fürstenherrlichkeit Ausdruck verleihen. Das Gute muss man jenen Herren von Gottes Gnaden mindestens nachrühmen, dass sie ihre Stellung zur Freiheit offen und ehrlich eingestehen. „Dörchleuchting“ von Mecklenburg gab strengen Befehl, dass das verderbliche Wort „Freiheit“ nicht über seine Grenze gebracht werden dürfe, wie Fritz Reuter in seiner „Urgeschichte von Mecklenburg“, erzählt; der „alte Wilhelm“ verbat sich den Humbug, die Kriege von 1813 bis '15 „Freiheitskriege“ zu nennen, darum wurden sie in „Befreiungskriege“ umgetauft: Bismarck sandte dem hiesigen Kongress die Beileidsbeschlüsse über den Tod von Lasker, dem Freiheitskämpfer, wieder zurück.

Diese Handlungsweise lässt die genannten Herren dem Gesetz- und Ordnungsrepublikaner gegenüber immerhin in einem recht vorteilhaften Lichte erscheinen; denn, entweder ist die Freiheit das, was Letzterer darunter versteht (und dann wäre die Abneigung gegen sie nur lobenswert), oder sie ist etwas Anderes und Besseres; dann weiss man wenigstens, wie man mit den Herrschaften daran ist.

Die wahre Freiheit kann nun aber nicht der eben geschilderten Vorstellung des Gesetz- und Ordnungsrepublikaners entsprechen; denn die genannten Früchte, welche diese trägt, das sind die Früchte der Herrschaft. Wenn sich aber die Freiheit so gut mit der Herrschaft vertrüge, so würden die Herren von Gottes Gnaden eher eine Vorliebe als eine Abneigung gegen dieselbe an den Tag legen.

Die wahre Freiheit bedingt vielmehr die Abschaffung der Herrschaft, und das ist etwas Anderes und Besseres, als die Gesetz- und Ordnungsfreiheit.

Wenn wir zu dieser Einsicht gelangt sind, dann wissen wir, welchen Räubern wir die Freiheit abzuringen und gegen welche Feinde wir sie zu verteidigen haben. Über diese Räuber und Feinde schenken uns die Herren von Gottes Gnaden klaren Wein ein, und wenn ihre Niederwerfung auch keine Kleinigkeit ist, so ist mit der klaren Einsicht in die zu überwindenden Hindernisse doch schon der schwierigste Teil der Arbeit getan.

Ungleich gefährlichere und heimtückischere Feinde der Freiheit stehen uns dagegen in dieser Republik gegenüber, wo unter schnödem Missbrauch des Namens der Freiheit ihr Gegenteil, die Herrschaft, gelegt und gepflegt wird, während die aus der Herrschaft erwachsenden Übel der eigentlichen Freiheit zur Last gelegt werden. So werden wir zu unserem Leidwesen nur zu oft gewahr, dass selbst denkende und ehrlich strebende Menschen die Segnungen der Freiheit durch Erweiterung der Herrschaft zu erlangen suchen, während sie die Übel der Herrschaft durch Einschränkung der Freiheit zu beseitigen hoffen, und wenn sie mitten in der grössten Lobeshymne auf die Freiheit den präziseren Ausdruck für dieselbe, das Wort „Anarchismus“, hören, dann fahren sie erschrocken zusammen und verschliessen in abergläubischer Furcht ihr Ohr gegen alle Vernunftgründe.

Wo wir in der Geschichte den grössten humanen Fortschritt sehen, da sehen wir auch die grösste Freiheit; wo aber die grösste Freiheit erscheint, da ist die geringste Herrschaft. Ich will die Prüfung dieser Behauptung an den Tatsachen der Geschichte dem geneigten Leser überlassen.

Für mich stehen in Betreff der Freiheit zwei Tatsachen fest:
1. Dass wahre Freiheit nicht mit Herrschaft Hand in Hand gehen kann.
2. Dass Ungerechtigkeiten, welche scheinbar der Freiheit zur Last fallen und eine Einschränkung derselben rechtfertigen sollen, nicht der Freiheit, sondern einer Verletzung derselben entspringen.

Bezugnehmend auf No. 1 muss man die Freiheit als einen Zustand der Gleichberechtigung aller definieren. Jede Vergrösserung der Rechte des Einen über diese Grenze hinaus, bedingt eine Verminderung der Rechte anderer unter das Normalmass. Sobald man bei der Definition der Freiheit die Gesamtheit aus dem Auge verliert, kann man jede Tyrannei als Freiheit erklären und ihr jede Gewalttat zur Last legen. Eine absolute Freiheit, wie sie unverständiger und boshafter Weise als das anarchistische Ideal hingestellt wird, ist ein Unding. Absolute Freiheit kann immer nur einseitig sein; denn wenn der Eine alles tun darf, was er will, so dürfen die Anderen überhaupt nichts mehr wollen. Absolute Freiheit ist also identisch mit absoluter Herrschaft, welche für die Gesamtheit absoluter Verlust der Freiheit bedeutet. Zwischen diesem Extrem und der wahren Freiheit gibt es unzählige Zwischenstufen, in welchen die Herrschaft Einzelner immer einen entsprechenden Verlust an der Freiheit der Gesamtheit nach sich zieht.

Wenn man bedenkt, dass all diese verschiedenen herrschaftlichen Eingriffe in die Freiheit der Gesamtheit damit gerechtfertigt und begründet werden, dass sie die Rechte und Freiheiten der Einen gegen Übergriffe von Seiten Anderer schützen sollen, so erinnert das lebhaft an den berühmten Doktor Eisenbart, welcher die Beine, wenn sie vom Podagra ergriffen sind, abschneidet. Das beseitigt das Podagra gründlich. Schreiber dieses kannte einen sehr gesunden Mann, welcher sich erhängte aus Furcht, dass er die Schwindsucht bekommen möchte. Zu dieser Kategorie von Heilmitteln gehört auch die Herrschaft, wenn sie als Schutz der Freiheit dienen soll. Wo keine Freiheit übrig gelassen wird, da freilich kann sie auch nicht mehr verletzt werden.

Aber, wer ausser einer herrschenden Macht soll denn darauf sehen, dass von Einzelnen kein Übergriff in die Rechte und Freiheiten der Gesamtheit ausgeübt werde; die Menschen sind doch sowohl in Anbetracht körperlicher Stärke und geistiger Fähigkeiten, wie auch in Betreff ihres Gefühls für Recht und Billigkeit sehr verschieden? Ich muss nun gestehen, dass sich gerade der grösste Mangel an Gefühl für Recht und Billigkeit bei denen bemerkbar macht, welche nicht müde werden, uns immerfort diese Frage vorzuhalten und damit alle unsere Behauptungen widerlegt zu haben sich einbilden. Sie verlangen von uns, ihnen einen Zustand ganz idealer Vollkommenheit zu zeigen, ehe sie zugeben, dass er der jetzt üblichen Herrschaft vorzuziehen sei. Weil ohne Herrschaft der Eine sein Übergewicht an körperlicher Kraft oder geistiger Fähigkeit zur Beeinträchtigung der Freiheit des Anderen missbrauchen könnte, darum soll eine Herrschaft unbedingt nötig sein! Ich bin nun weit davon entfernt, zu behaupten, dass ein Zustand ideal gleichmässiger Freiheit (auch ohne Herrschaft) möglich wäre. Die natürlichen Unterschiede der Individuen sind vorhanden; sie werden und müssen sich bemerkbar machen. Ich frage nun aber: Beseitigt etwa die Herrschaft diesen Übelstand; ist sie nicht an und für sich schon eine Beeinträchtigung der Freiheit; sind die durch sie geschaffenen Übelstände kleiner oder grösser, als die, welche bei ihrer Abwesenheit eintreten würden?

Welches sind nun wohl die schlimmsten Beispiele, welche uns als die möglichen Folgen der Herrschaftslosigkeit genannt werden, und durch welche die Gesetz- und Ordnungsfreunde die Unmöglichkeit eines solchen Zustandes beweisen und illustrieren wollen? Das sind grausige Räubergeschichten, wie man sie von den „James Brothers“, „Williams Brothers“, „Younger Brothers“, „Billy the Kid“, etc., erzählt. Solche Dinge könnten und würden ohne Herrschaft vorkommen, darum ist die Herrschaftslosigkeit ein unmöglicher Gesellschaftszustand. Sonderbar, dass sich Leute mit ihren eigenen Argumenten so blamieren können, ohne es zu merken! Überall, wo diese Dinge vorgekommen sind, hat Herrschaft existiert; unter der Herrschaft konnten sie nicht nur vorkommen, sondern sind wirklich vorgekommen und tun es heute noch; demnach müsste nach dem vorigen Argument die Herrschaft erst recht unmöglich sein. Weiter: In den genannten Beispielen waren die Organe der Herrschaft, die Behörden, nicht im Stande, das Übel auszurotten, aber wenn für den besonderen Fall eine Herrschaftslosigkeit improvisiert wurde, wenn die Bürger auf eigene Faust vorgingen, und die Behörden dem Privatunternehmen freien Spielraum liessen, dann war bald der Schlussakt in der Räubergeschichte gespielt. Endlich: wenn die Behörden, nachdem die Arbeit von Anderen getan, wieder die Herrschaft antraten, boten sie den Verbrechern meistenteils Gelegenheit, der verdienten Strafe zu entschlüpfen, wie das Beispiel von Gouverneur Oglesby und Frank James recht auffallend zeigt.

In diesen Beispielen spricht also alles gegen die Herrschaft und zu Gunsten der Freiheit. Die Übel, welche in der Freiheit vorkommen könnten, kommen unter der Herrschaft wirklich vor; die Freiheit kann sie erfolgreicher bekämpfen; die Freiheit lässt das Recht nicht so korrumpieren, wie die Herrschaft.

All das Gute, welches die Herrschaft leisten könnte, leistet die Freiheit auch; zu vielen Schändlichkeiten aber, welche die Herrschaft immerfort begeht, ist die Freiheit nicht fähig. Im Namen der Herrschaft werden Gewalt- und Mordtaten begangen; die Opfer derselben sind aber zu keinem Widerstand berechtigt; gegen etwaige Rache ihrer Freunde und Anverwandten sind die Übeltäter geschützt; auch die Schande für die begangenen Verbrechen fällt nicht auf den Verbrecher, sondern auf sein Opfer. So ermöglicht die Herrschaft das Verüben ganz besonders schändlicher Verbrechen und hilft manchem, den seine natürliche Feigheit vor der gefährlichen Verbrecherlaufbahn bewahrt haben würde, über diese Schwierigkeit hinweg.

Geben wir daher immerhin zu, dass in der herrschaftslosen Gesellschaft Verletzungen der Freiheiten und Rechte vorkommen können und müssen, so haben wir doch begründete Ursache, die Herrschaftslosigkeit, als das kleinere Übel, der Herrschaft vorzuziehen.

Viele, die Obiges bereits einsehen können, verfehlen aber noch, in der Anhäufung des Besitzes in einzelnen Händen mit der entsprechenden Verarmung der Massen, etwas Anderes, als einen Auswuchs der Freiheit zu erblicken, und dies bringt mich zur Besprechung der weiter oben unter No. 2 angedeuteten Tatsache, dass nämlich Ungerechtigkeiten, welche scheinbar der Freiheit zur Last fallen und eine Einschränkung derselben rechtfertigen sollen, nicht dieser, sondern einer Verletzung derselben entspringen.

Die Eisenbahnmonopole, die Landmonopole, die Telegrafenmonopole, die Kohlenmonopole, die Monopole in allen Dingen, welche Menschen zur Existenz bedürfen, sollen entstanden sein, weil der Staat, die Herrschaft, sie nicht eingeschränkt habe. Wäre dem wirklich so, dann sollte man erwarten, dass die Monopolherren die eifrigsten Befürworter der Abschaffung des Staates wären; denn dann würden sie für immer der Sorge überhoben sein, dass es dem Staate je einfallen könnte, ihnen Beschränkungen ihrer Freiheit aufzulegen. Wir sehen aber, dass diese Herren für den Staat, die Herrschaft, förmlich schwärmen. Wie kommt denn das? Es wird uns so oft mit Pathos entgegengehalten, dass der Staat die Schwachen gegen die Starken schützen muss, und doch zittern die Starken nicht etwa vor dem Staat, sondern vor der Idee, dass derselbe abgeschafft werden könnte. Das erregt den Verdacht, dass der Staat nicht die Schwachen, sondern die Starken beschütze.

Sehen wir uns diese Starken etwas näher an. Die Vanderbilts, Goulds, Fields, etc., mögen immerhin an Intelligenz und Leistungsfähigkeit vor anderen Menschen hervorragen; ist dieser Unterschied aber demjenigen in ihren Besitz- und Machtverhältnissen entsprechend? Nimmermehr! Ein Mensch, und wäre er der talentvollste und tatkräftigste, kann, wenn er nur auf seine persönliche Leistungsfähigkeit angewiesen ist, kein Übergewicht über Zehntausende und Hunderttausende seiner Mitmenschen erlangen, wie es bei den Genannten doch tatsächlich der Fall ist. Hier ist dem eigenen Übergewicht noch eine fremde Potenz hinzugefügt, und das ist der Staat, die Herrschaft. Ohne Herrschaft könnten weder die Landlords in Irland, noch die Eisenbahnmagnaten, Kohlenbarone, Landmonopolisten, etc., in Amerika, ihr sogenanntes Eigentum halten und ihre Mitmenschen davon ausschliessen.

So löst also die Herrschaft ihre Aufgabe, den Schwachen gegen den Starken zu schützen. Sie schafft ein Monstrum von Stärke, indem sie auf der einen Seite die uneingeschränkte Freiheit bestehen lässt, und auf der anderen dieselbe so knebelt, dass sie gegen Übergriffe von Seiten der Ersteren absolut ohnmächtig ist.

Jetzt aber will die Herrschaft gerecht sein, und den Unterschied damit ausgleichen, dass sie die unbeschränkt gelassene Freiheit auch ein wenig knebelt, auf dass der damit getriebene Missbrauch nicht zu arg werde. Würde es nicht vernünftiger sein, die Knebel überhaupt fortzunehmen? Dann würden sich nicht so ungleiche Kräfte gegenüberstehen, und der Missbrauch der Freiheit könnte keine so ungeheuerlichen Dimensionen mehr annehmen.

Man hat noch nie gehört, dass durch das ungesetzliche Räuberhandwerk, auch wo es in höchster Blüte steht, eine allgemeine Kalamität über ein grosses und reiches Land gebracht worden wäre. Hierzulande erleben wir es aber alle paar Jahre, dass fünfzig Millionen Menschen eine Erschütterung empfinden, als sollte jedem Einzelnen der Boden unter den Füssen fortgezogen werden. Das ist oft die Tat eines einzigen jener Starken, gegen welche uns die Herrschaft so väterlich beschützt. Die ungesetzlichen Räuber dürfen ein gewisses Mass des Erträglichen nicht überschreiten, sonst rührt sich die Freiheit auf der anderen Seite, und stellt das Gleichgewicht wieder her. Doch da, wo die Herrschaft waltet, bleibt diese Freiheit unwirksam, und den geschützten Räubern braucht es erst bange zu werden, nachdem jene Herrschaft umgeworfen ist.

Diese Zustände, wie sie jetzt wirklich existieren, sie sind es, welche uns als die möglichen und wahrscheinlichen, schrecklichen Folgen des Anarchismus geschildert werden; sie kommen von absoluter Freiheit, welche aber nur unter absoluter Herrschaft möglich ist. Die wahre Freiheit ist mit Herrschaft unvereinbar, und wenn ihre ideale Form wegen natürlicher Verschiedenheiten der Individuen auch nicht durchführbar ist, so kann durch Herrschaft das Übel nicht verbessert, sondern nur verschlimmert werden.

Paul Berwig.

(Libertas 4, Samstag, 5. Mai 1888, S. 7–8.)

Anmerkungen

  • Die kursiven Hervorhebungen entsprechen dem Originaltext.
  • Fritz Reuter, eigentlich: Heinrich Ludwig Christian Friedrich Reuter, (1810–1874) war ein deutscher Dichter und Schriftsteller der niederdeutschen Sprache. Reuter wurde 1836 wegen „Teilnahme an hochverräterischen burschenschaftlichen Verbindungen in Jena und Majestätsbeleidigung“ zum Tode verurteilt. Die Strafe wurde später in 30 Jahren Festungshaft umgewandelt, wovon er acht Jahre absass. Seine De Urgeschicht von Meckelnborg von 1874 ist auf Projekt Gutenberg verfügbar.
  • Beim erwähnten Freiheitskämpfer Lasker handelt es sich um den preussischen Politiker Eduard Lasker, eigentlich: Jizchak Lasker, (1829–1884). Lasker kämpfte als Student 1848/49 in Wien als Mitglied eines studentischen Korps gegen die kaiserlichen Truppen. Nach Beendigung des Jura-Studiums und seinem Staatsexamen 1857 in Berlin hatte er aber als Jude keine Chance, in den Staatsdienst übernommen zu werden. Er war später Mitglied des preussischen Abgeordnetenhauses und Mitglied der Deutschen Fortschrittspartei, später der Deutschen Freisinnigen Partei. Lasker verstarb nach einem längeren Kuraufenthalt in den USA 1884 in New York. Bismarck verbot, ein an den Reichstag gerichtetes Kondolenzschreiben des amerikanischen Kongresses an das Parlament zu übergeben. Er liess es mit der Begründung nach Washington zurücksenden, die Tätigkeit des Verstorbenen sei dem deutschen Volk nicht nützlich gewesen.
  • Der genannte Frank James, eigentlich Alexander Franklin James, (1843–1915) war der ältere Bruder von Jesse James. Nach dem Tod des Bruders 1882 stellte sich Frank dem Gouverneur von Missouri und wurde lediglich für zwei Banküberfälle verurteilt. Dafür sass er nur drei Wochen im Gefängnis. Auf diese Episode nimmt der Text wohl Bezug.

Die ganze Aufgabe der Zivilisation.

[Memoiren einer Idealistin.]

Ich griff abermals zu meinem alten Mittel, zu einem einsamen Spaziergang. Aus den geräuschvollen Strassen der grossen Hauptstadt (Berlin) fort eilte ich einem Orte ausserhalb der Thore zu, den ich allen anderen Spaziergängen der Stadt vorzog. Es war ein kleiner Hügel, auf dem sich eine gartenähnliche Anlage befand, welche die Gräber der 1848 im Kampfe gegen die Soldaten gefallenen Kämpfer für die Freiheit enthielt. Die Demokratie hatte ihnen, zur Zeit ihrer Macht, gleich nach dem Kampf dieses Asyl geweiht, wo sie allein, unter wohlgepflegten Blumen und einfachen Denkmälern, schlummerten. Ich setzte mich an einem Grabe nieder, das von Fabrikarbeitern den gefallenen Brüdern errichtet war und dessen Inschrift lautete:

Im Kampfe für des Volkes Freiheit sterben, Das ist das Testament, nach dem wir erben.

Zu meinen Füssen breitete sich die stolze Hauptstadt mit ihren Palästen, ihrem Luxus, ihrem geistigen Leben und ihren triumphierenden Soldaten in der weiten Ebene aus. Alles war übergossen von den Strahlen der untergehenden Sonne, die in den Nebeln und Dünsten, welche der nordischen Atmosphäre eigen sind, mannigfaltige glänzende Farbenspiele hervorrief. Fernher tönte das Geräusch der volkreichen Stadt, wie das Rauschen des Meers. Um mich her aber, im stillen Garten des Todes, war ein tiefer Friede. Der Gesang der Nachtigall, das Wehen des Abendwinds, der mit den Düften der Gräberblumen spielte, unterbrachen allein die Stille. Ich glaubte mich ganz allein unter diesen Gräbern und betrachtete das Bild vor mir, indem ich die schmerzlichen Betrachtungen weiter verfolgte, welche die soeben erlebte Szene hervorgerufen hatte. Diese Toten, die da um mich ruhten, hatten sie den Preis des vergossenen Blutes erhalten? Hatten sie die Rechtfertigung des Erfolgs gehabt? Und ich, hatte ich die grossmütigen Bestrebungen, für die mein Herz glühte, verwirklichen können? Hatte ich durch Vernunft und Liebe über den Widerstand, den ich antraf, gesiegt?

Sie lagen da unter der Erde, stumm und ohnmächtig, und ihre überlebenden Brüder waren mehr wie je unter dem Joch und mussten ihr Lasttierleben weiterführen.

Ich war allein, geschieden von den Meinen, meine höchsten Neigungen galten Toten, meine Arbeit war vernichtet.

Hatten sie denn Unvernünftiges verlangt? Wollten sie sich durch den Ruin anderer erheben? Nein, sie hatten nur die Arbeit von dem Fluch befreien wollen, den die Tradition auf ihr ruhen lässt, seit er an der Pforte des verlorenen Paradieses ausgesprochen war. Sie hatten freie Institutionen verlangt, um ein freies, starkes, glückliches Volk zu werden.

Und ich, hatte ich jemals gesagt, dass die Familienbande nicht heilig sind, dass die Frau sich emanzipieren soll, indem sie die besonderen Pflichten ihres Geschlechts von sich wirft und von dem Manne annimmt, was auch bei ihm sehr oft hässlich ist? Ich hatte ja im Gegenteil die Frauen würdiger machen wollen, Frauen und Mütter zu sein, durch die Entwicklung ihrer geistigen Fähigkeiten, durch die sie nicht nur die leiblichen Erzeugerinnen, sondern auch die wahren Erzieherinnen und geistigen Bildnerinnen der Jugend werden könnten. Ich hatte gewollt, dass die Frau, anstatt des Mannes Brutalität nachzuahmen, so sehr ihm ebenbürtig werden sollte für die Kulturaufgabe der Menschheit, dass sie auch ihm helfen sollte, sich von allem Schlechten zu befreien.

Weshalb waren wir denn also scheinbar im Unrecht, die Toten und ich? Die Schuld war gewiss nicht unser, sondern unseres gemeinsamen Feindes, des Despotismus im Staate und in der Familie. Ich sah klarer denn je, dass die beiden Despotismen ein und dieselbe Sache sind und aus derselben Quelle fliessen. Es ist die ewige Bevormundung der Individuen wie der Völker: verordneter Glaube, verordnete Pflichten, verordnete Liebe. Stattdessen sollte man dem Individuum sagen: „Wähle dir nach deiner Einsicht deinen Glauben, deine Verpflichtungen, deine Neigung; wir ehren deine Freiheit; ist deine Wahl unwürdig, trage die Folgen; bleibst du ein sittliches Wesen, so werden wir dich lieben trotz der Verschiedenheit unserer Ansichten.“

Und den Völkern: „Sprecht frei über eure Klagen, eure Bedürfnisse; beraten wir uns, ihnen abzuhelfen! Wir sind nur da, um allen gerecht zu werden, um den vernünftigen Willen Aller zu verwirklichen.“

Ist es denn so schwer zu begreifen, dass die Freiheit das stärkste Gesetz ist? Die Kinder dazu erziehen, die Völker daran gewöhnen, dies zu begreifen – damit wäre eigentlich die ganze Aufgabe der Zivilisation erfüllt. Die Familie und der Staat würden dadurch ihre wahre, beglückende Form finden, während die gewaltsame Autorität ewig die Empörung an ihrer Türe finden wird.

(Libertas 4, Samstag, 5. Mai 1888, S. 6.)

Anmerkungen

Malwida von Meysenbug (1816–1903) war eine deutsche Schriftstellerin, die sich auch politisch und als Förderin von Schriftstellern und Künstlern betätigte. Beim vorliegenden Text handelt es sich um einen Auszug aus ihrem Buch Memoiren einer Idealistin, welches in Genf 1869 zuerst auf Französisch, später dann auch 1876 in München auf Deutsch erschien.

Herr Boppe macht in einer der jüngsten Nummern des „Freidenker“ darauf aufmerksam, wie gewissenlose Politikanten und Drahtzieher es verstehen, selbst die Turnvereine in den Dienst ihrer unlauteren Zwecke zu stellen. Das ist nun eine Beobachtung, die man täglich in den Turnvereinen wie in zahllosen anderen Vereinen machen kann. Wie nobel auch die Zwecke und Ziele seien, deren Verfolgung ein Verein sich zur Aufgabe gestellt hat, es liegt stets die Gefahr vor, dass die Mitglieder dieselben aus dem Auge verlieren und der Verein unter die Kontrolle einzelner selbstsüchtiger Streber fällt zur Förderung rein persönlicher Interessen auf Unkosten der Gesamtheit. Und diese Gefahr liegt vor trotz der Tatsache, dass sich die Mitglieder gegen alle möglichen Missbräuche verhältnismässig leicht schützen und, wenn es ja zu arg wird, wenn der Verein von der Förderung seines ursprünglichen Zweckes gänzlich abgelenkt wird, aus demselben austreten und sich auf diese Weise den etwaigen üblen Folgen der Misswirtschaft entziehen können. Wenn so etwas am grünen Holz geschieht, was will da erst am dürren werden? Wenn grosse Missbräuche in der Geschichte freiwilliger Vereinigungen, gegen die man prinzipiell nichts einwenden kann, vorkommen, in Vereinigungen, welche nur ein kleines Interessengebiet berühren, was für Missbräuche müssen da erst in der Geschichte des Staats entstehen, dieser grossen Vereinigung, die nicht auf einem freien Übereinkommen beruht, deren Leben und Weben der Einzelne nicht leicht überschauen kann, welche über ein ungeheures Interessengebiet waltet, und aus der man im Notfalle nicht austreten kann, um sich den Folgen der Misswirtschaft zu entziehen? Die daneben einhergehende Korruption entspricht denn auch ganz der Machtstellung und dem Umfang des Staats. Aber Herr Boppe besteht trotz allem Anschauungsunterricht, den ihm die Turnvereine wie die Geschichte des Staats bieten, steif und fest auf der Staatsidee und will es nicht einsehen, dass die herrschenden grossen Übelstände nur mit dem Staat selber beseitigt werden können.

(Libertas 4, Samstag, 5. Mai 1888, S. 5.)

Anmerkungen

Turnvereine waren in den USA zu der Zeit beliebte Treffpunkte deutscher und deutschsprachiger Emigranten. Der „Freidenker“ war „das Organ der Freidenker Amerikas und des Bundes der Radikalen“ und erschien in Milwaukee. Der „Freidenker“ publizierte auch „Die amerikanische Turnzeitung“, als „turnerische Ausgabe des Freidenker“ und „Organ des Nordamerikanischen Turnerbundes“. Redakteur war der angesprochene C. Hermann Boppe. Er veröffentlichte eine Reihe von politischen Schriften. Boppe wurde 1841 im Kanton Aargau (Schweiz) geboren und wanderte 1877 in die USA aus. Er verstarb 1899.

Der „Freidenker“ inserierte regelmässig in der „Libertas“:

Inserat des Freidenkers in der Libertas Inserat erschienen in der Libertas 3, S. 8.

Was ist Anarchismus?

Ein Freund aus Milwaukee schreibt mir, dass er die erste Nummer von Libertas bis auf den Roman durchgelesen habe, ohne jedoch daraus entnommen zu haben, was wir unter Anarchismus verstehen. Das wirft nun ein zweifelhaftes Licht entweder auf die Schreibkunst der Redakteure und Mitarbeiter dieses Blattes oder auf die Auffassungsgabe meines Freundes. Tatsache ist, dass wir bestrebt waren, gleich in der ersten Nummer den Anarchismus als die Sache, die wir vertreten, genau zu definieren. Natürlich konnten wir nicht hoffen, dass uns nach allen Seiten hin ein volles Verständnis zuteilwerden würde, doch hatten wir bei dem intelligenten Leser auf einen kleinen Erfolg nach dieser Richtung gerechnet. Jedoch, was nicht ist, kann noch werden, und was dem ersten Wurfe nicht gelang, mag späteren Würfen gelingen.

Der leitende Grundsatz, von dem der Anarchismus ausgeht, ist die Selbstherrlichkeit des Individuums. In der Verwirklichung dieses Grundsatzes wird schliesslich alle Kultur gipfeln müssen. Schon Kant stellte diesen Grundsatz auf, als er in seiner Grundlegung zur Sittenlehre ausführte, man könne und dürfe sich in der Welt alles in seinen Dienst stellen und zu eigenem Vorteil ausbeuten, mit einziger Ausnahme des Menschen. Der Mensch ist sich Selbstzweck. Unter den Amerikanern hat Josiah Warren den Grundsatz von der Selbstherrlichkeit des Individuums – „the Sovereignty of the Individual“, wie er sich ausdrückt – am tiefsten begründet und in seiner diesbezüglichen Arbeit den Nachweis geführt, dass die allgemeine Anerkennung dieses Grundsatzes die unerlässliche Bedingung für den Frieden und das Wohlergehen der menschlichen Gesellschaft bilde. Ich glaube, mein Freund wird mir beipflichten, dass so lange das Individuum sein eigenes Tun und Lassen nicht selber bestimmen kann, sondern einem fremden Willen unterworfen ist, offenbare sich dieser nun durch einen anderen Menschen, durch die Familie, durch die Kirche oder durch den Staat, dasselbe seine volle Statur noch nicht erlangt hat. Die volle Statur aber zu erlangen, das verlangt der von der Natur in jedes Individuum gelegte Trieb. Eher gibt es für dasselbe weder Frieden noch Glück. Aus demselben Grunde werden sich die Vergewaltiger des Individuums stets gegen eine Empörung seitens desselben vorsehen müssen, denn die Natur fordert schliesslich immer ihr Recht. Auch für die Vergewaltiger des Individuums, mögen sie sich auf noch so grosse äussere Machtmittel stützen, gibt es daher weder Frieden noch Glück, bis sie dessen Selbstherrlichkeit anerkennen und achten lernen. Frieden und Glück aber ist das Ziel aller Lebewesen. Aufgrund solcher Anschauung postuliert der Anarchismus die Selbstherrlichkeit des Individuums.

Aus diesem obersten Grundsatz des Anarchismus folgen seine praktischen Forderungen von selber. Damit der Mensch seine selbstherrliche Stellung innerhalb der Grenzen, die ihm die Natur gesteckt hat, behaupten könne, müssen ihm die natürlichen Hilfsquellen des Lebens zur freien Benutzung offen stehen. Das Recht der Existenz, das man nicht bestreiten wird, schliesst in sich das Recht an die Mittel zur Existenz. Wo dem Individuum die natürlichen Existenzmittel vorenthalten sind, kann von einer Betätigung seiner Selbstherrlichkeit schlechterdings nicht die Rede sein. Es steht da unter der Herrschaft derjenigen, welche die natürlichen Existenzmittel in ihrer Gewalt haben. Der Anarchismus verurteilt daher notwendigerweise das Grund- und Bodenmonopol wie auch alle jene Privilegien, welche dem Individuum den Tribut des Zinses und des Profits auferlegen und dasselbe nicht in den Besitz des vollen Ertrags seiner Arbeit kommen lassen. Der hauptsächliche Grund, warum die Arbeit, die doch alle Werte erzeugt, selbst nie Werte besitzt über das Mass hinaus, welches das nackte Leben benötigt, liegt in der Privilegienherrschaft, verkörpert im Staat. Darin ist auch ausschliesslich die Erklärung der Tatsache zu suchen, warum Millionen von Arbeitern beschäftigungslos das Land durchstreifen, um Arbeit bettelnd. Wo den Menschen einesteils die Gelegenheit zur Arbeit abgeschnitten ist, und wo ihnen andernteils der Hauptertrag ihrer Arbeit gesetzlich abgenommen wird, da können sie nicht ihre volle Statur erlangen, da bleiben sie körperliche und geistige Krüppel, da gibt es für sie weder Frieden noch Glück, und da ruht die Gesellschaft auf einem Vulkan.

Auf dem Grundsatz von der Selbstherrlichkeit des Individuums fussend, verlangt der Anarchismus folgerichtiger Weise die Abschaffung der Privilegien- oder Monopolherrschaft, d. h. des Staats. Damit das Individuum von dem Tribut des Zinses befreit werde, fordert er die Freiheit des Kredits; d. h. er fordert, dass die Beschaffung des den Warenaustausch vermittelnden Geldes der freien Konkurrenz anheimgestellt werde, wie andere Geschäfte. Er verlangt, dass Gold und Silber demokratisiert und allen anderen Wertgegenständen gleichgestellt werden. Kann man die Fähigkeit der Privatinitiative, im Zustande der Freiheit ein unverzinsliches Warenaustauschmittel zu beschaffen, ernstlich infrage stellen? Wenn so, warum ist dann der Versuch dazu gesetzlich untersagt? Damit das Individuum von dem Tribut der Bodenrente befreit werde, die es selbst in unserem verhältnismässig jungen Lande bereits zu erdrücken droht, verwirft der Anarchismus den heutigen Privatgrundbesitz und anerkennt als alleinigen Besitztitel auf Grund und Boden persönliche Okkupation und Benutzung. Hieraus geht auch schon hervor, wie ich hier einschalte, dass der Anarchismus die Landreform nicht in der Weise von Henry George anstrebt. Jener würde den Bearbeiter des Landes im Besitze seines vollen Ertrags belassen, während dieser im Namen des Staats eine Steuer zum Betrage der ökonomischen Rente von ihm erheben würde. Und damit das Individuum von dem Tribut des Profits befreit werde, fordert der Anarchismus einen freien Markt. Im freien Markt wird es zum Austausch von Äquivalenten kommen, wobei der Profit wegfällt und die Arbeit in den Besitz ihres Ertrags gelangt.

Kreditfreiheit, freies Land und Handelsfreiheit bedingen die Abschaffung des historischen Staats und haben im Gefolge die Verwirklichung der Selbstherrlichkeit des Individuums.

Das ist aber, in grossen Umrissen, Anarchismus.

G. S.

(Libertas 4, Samstag, 5. Mai 1888, S. 5.)

Anmerkungen

Josiah Warren (1798–1874) war US-amerikanischer Sozialreformer, Musiker, Erfinder und Schriftsteller. Benjamin Tucker widmete Instead of a Book, seine Sammlung von Essays, dem Gedächtnis an Warren, „meinem Freund und Meister […] dessen Unterrichtungen meine erste Quelle des Lichts waren“. Warren lässt sich dem Mutualismus zurechnen, seine Ideen waren aber durchdrungen von einem Individualismus, der sich auf den Standpunkt stellte, dass die persönliche Freiheit nicht hinter der Organisation zurückstehen darf.

Eduard Schröter.

Immer mehr lichten sich die Reihen derer, die den Freiheitsdrang, der vor nun etwa einem halben Jahrhundert sich in Deutschland allenthalben zu regen begann, aus eigener Anschauung kannten. Und wie wenige sind noch übrig geblieben, die an der damaligen Bewegung aktiven Anteil genommen und deren späteres Leben das Versprechen hielt, das die Jugend voll glühender Freiheitsliebe gegeben hatte? Einer der bewährtesten dieser Helden war Eduard Schröter. Auch er ist nicht mehr. Er starb am 22. April, im Alter von 77 Jahren, in dem kleinen, stillen Landstädtchen am Wisconsinfluss, in Sauk City, wo er die letzten fünfunddreissig Jahre seines Lebens im Verborgenen verlebte, von wo aus aber, bis zu den Jahren, wo Krankheit und Körperschwäche auch seine Geisteskraft gebrochen hatten, das Echo seiner Stimme zu allen in den Vereinigten Staaten wohnenden freisinnigen Deutschen drang.

Einer der bedeutendsten Exponenten der freireligiösen Agitation in Deutschland, die in der freien Gemeinde zur Blüte kam, wurde er von der 48er-Revolution nach Amerika verschlagen, wo er jedenfalls der begeistertste und unermüdlichste Kämpfer dieser Bewegung wurde.

Als er 1850 als Exilierter, und ehedem Sprecher der freien Gemeinde zu Worms, in New York landete, gründete er sofort eine freie Gemeinde daselbst und bald darauf in noch anderen östlichen Städten. Im nächsten Jahre erhielt er einen Ruf nach Milwaukee zwecks Gründung einer Gemeinde, deren Sprecher er sein sollte. Auf der Reise dorthin liess er in allen grösseren Städten, die er berührte, Spuren seiner Gegenwart zurück in der Form freier Gemeinden, wovon aber die meisten, in Ermanglung eines Sprechers, bald wieder eingingen.

In Milwaukee entwickelte er für die Sache, der er sich nun einmal mit Leib und Seele ergeben hatte, eine unermüdliche Tätigkeit. Nicht nur lag er seinen Sprecherpflichten ob, er gründete auch den „Humanist“, als Organ der freien Gemeinden, dem er als Redakteur vorstand, und bereiste den Staat Wisconsin als Reiseredner und Organisator und gründete in diesem Staat allein dreissig freie Gemeinden.

Nachdem aus dieser Riesenarbeit bedenkliche Folgen für seine Gesundheit erwachsen waren, siedelte er in die Landeinsamkeit Sauk Citys als Sprecher der von ihm daselbst gegründeten Gemeinde über. Dort gelangte sein bewegtes Leben, äusserlich wenigstens, zur Ruhe. Dass es an inneren Kämpfen und Stürmen nicht fehlte, dafür sorgte seine rastlose, feurige Natur.

Eine feurige Natur seltenster Art war Schröter in der Tat. Mit unermüdlicher Energie begabt und mit unerschütterlichem Vertrauen in den endlichen Sieg der guten Sache, konnte keine noch so bittere Enttäuschung ihn dauerhaft entmutigen. Bei jedem auch nur geringen Erfolg seiner teuren Ideale flammte sein Auge in neuerwachter Hoffnungsfreudigkeit auf und diese Jugendlichkeit des Fühlens bewahrte er sich bis ins hohe Alter, bis der Tod ihn abrief.

In manche junge Seele fiel zündend ein Funke dieses Feuers, wie denn auch der Jugendunterricht, der einen bedeutenden Teil von Schröters Wirken in Sauk City bildete, zu den segensreichsten seiner späteren Leistungen gehörte. Auch uns, den Mitredakteuren von Libertas, war das Glück beschert, zu seinen Schülern zu gehören, und zwar zu einer Zeit, da Gesundheit und Manneskraft seinen Geist noch in voller Frische auf uns einwirken liessen. Später, freilich, als immer fühlbarer werdendes Alter und Krankheit, Körper- und Geisteskraft gebrochen hatten, verloren auch diese einst so schönen Stunden ihre Wirkung, und eine jüngere Generation, die nach uns auf denselben Bänken sass, blieb unberührt von dem Zauber dieses wirklich ungewöhnlichen Charakters, und mancher Funke, der schon verheissend zu glimmen begonnen hatte, erlosch wieder.

Schröters Verdienst liegt nicht in seinen intellektuellen Errungenschaften. Er war kein Denker, sondern ein Enthusiast und ein Charakter. Das erklärt zugleich seinen Erfolg wie seinen Misserfolg. Das Feuer seiner Begeisterung, seine unerschütterliche Hingebung an seine Ideale, seine edle Männlichkeit und Gesinnungstreue übten einen gewaltigen Einfluss auf seine Zuhörer aus, sie machten ihn zum ausgezeichneten Agitator und Organisator; aber sein verhältnismässig unwissenschaftlicher Geist, dem die Schärfe und die Ruhe des wahrhaft tiefen, systematischen Denkers und Gelehrten abging, machten ihn zum Lehrer des reiferen, fortgeschritteneren Teiles seiner Gemeinde auf die Dauer untauglich. Sie fühlten schliesslich, dass ihrem Geiste keine neue Nahrung mehr zugeführt wurde und die fortdauernde Exaltation, die zuerst mit fortgerissen hatte, ermüdete endlich. Er hätte auf einem grösseren, mehr dem Wechsel unterworfenen Gebiete, ungleich Grösseres geleistet, als ihm das auf dem engen Felde und der immer gleichen Zuhörerschaft Sauk Citys möglich war.

In einer, sich immer mehr der kalten Berechnung zuneigenden Zeit, wie der unsrigen, in der eine radikale Rekonstruktion der Gesellschaft zur immer grösseren Notwendigkeit wird, und die nur durch eine immer wachsende, lebenswarme Begeisterung für ein hohes Ideal vor sich gehen kann, tun uns Männer vom Schlage Schröters schmerzlich Not. An einer klaren Erkenntnis der Prinzipien, aufgrund derer eine solche Rekonstruktion stattfinden muss, fehlt es unter denkenden Menschen nicht mehr so sehr wie an feuerzüngigen Aposteln dieser Prinzipien, wie Schröter einer hätte sein können.

Unter all den traurigen Erfahrungen, die das Schicksal ihm nicht ersparte, war auch diese, dass er seinen eigenen Verfall, nicht nur körperlichen, sondern auch geistigen, mit klarer Erkenntnis desselben, erleben musste. Wie ein Trauerflor lag dieses Bewusstsein über den letzten Jahren seines Lebens, so tapfer er auch dagegen ankämpfte, und oft klagte er uns in tiefster Niedergeschlagenheit sein Leid. Das Allerschmerzlichste aber war, dass man, ob dieses Verfalls und anderer begleitenden Umstände, in seiner nächsten Umgebung seine früheren Verdienste fast vergessen konnte. Er wurde das zum grössten Teil unschuldige Opfer eines kleinstädtischen Parteienstreites, den hier zu erwähnen ich mich durch den Umstand berechtigt fühle, dass derselbe bereits in weiteren Kreisen Verbreitung gefunden hat. Die Motive, die mich leiten, sind einfach, das Andenken Schröters von allen kleinlichen, den Blick trübenden Nebenumständen zu reinigen. Wer ihn persönlich kannte und ihm mit unparteiischen Augen auf den Grund seines, mit so vielen der vorzüglichsten Eigenschaften ausgestatteten, für alles Wahre, Gute und Schöne stets erglühenden Herzens geschaut hat, wird seiner stets in Liebe und Verehrung gedenken, und dem wird es auch klar sein, dass eine [Wort unlesbar] Persönlichkeit nicht ohne Einfluss auf engere und weitere Kreise bleiben konnte. Wer kann es sagen, in wie vielen Köpfen seine edle Begeisterung nicht ein dauerndes Interesse für die höheren, idealeren Angelegenheiten der Menschen erweckt hat? Und auf zwei seiner Schüler wenigstens hat er noch tiefer eingewirkt. Auf sie war sein Einfluss geradezu bestimmend, insofern überhaupt ein Geist dem anderen eine Richtung fürs Leben geben kann.

Nachfolger in dem Sinne, in dem er selber sie sich wünschte, hat er keine. Es schmerzte ihn tief, dass keiner seiner liebsten Schüler sich das freigemeindliche Sprechertum zum Beruf erkoren hatte. Da er selbst niemals die Freiheit im einseitigen, religiösen Sinne auffasste und es stets als eine der Aufgaben der freien Gemeinden betonte, auch für politische und soziale Freiheit einzustehen, konnte er es nicht verstehen, dass der moderne Freiheitskämpfer sein Feld der Nützlichkeit nicht mehr innerhalb der freien Gemeinde finden könne, dass sich derselbe vielmehr sein Saatfeld auf einem andern Boden erst urbar machen müsse. Unsere Hoffnungen sind allerdings auch auf eine freie Gemeinde gerichtet, die wir aber nur anzustreben uns vorläufig begnügen müssen, da ihre Verwirklichung noch in der fernen Zukunft liegt. Diese freie Gemeinde wird nicht nur ohne die Kirche und ihre Gesetze, sondern auch ohne den Staat und seine Gesetze bestehen.

Schröter war, trotz seiner glühenden Freiheitsliebe, die Freiheit in dem Sinne, in dem wir sie auffassen, noch fremd. Weit entfernt jedoch, schlechthin als Utopie zu verdammen, was er nicht verstand, erkannte er vielmehr, dass die neue Anschauungsweise ein gründliches Studium verlange, das zu machen es für ihn zu spät war. Als ich vor wenigen Monaten, bei Gelegenheit meines Abschieds vom Westen, auch von ihm Abschied nahm, wohlfühlend, dass es das letzte Mal war, dass ich einen Kuss auf seine Lippen drücken würde, sagte er mir im Tone trauriger Resignation: „Ich verstehe den Anarchismus nicht, und meine Geisteskraft reicht nicht mehr aus, denselben gründlich zu untersuchen. Ich bin eine Ruine, ich kann nicht mehr denken.“ So herzergreifend traurig dieses Geständnis war, so war es mir doch ein wohltuendes Zeichen seiner intellektuellen Vorurteilslosigkeit. Mancher schon in verhältnismässiger Jugend verknöcherte Geist dürfte sich davor beschämt fühlen.

So ruhe denn im Nirwana, lieber alter Lehrer und Freund. Die Zeit wird die Erinnerung an Dich verklären, Deine Schwächen werden vergessen werden und die herrlichen, grossen Eigenschaften, die Dich lebend zum würdigen Vorbild machten, werden auch nach Deinem Tode ihren Einfluss nicht verlieren.

E.H.S.

(Libertas 4, Samstag, 5. Mai 1888, S. 4–5.)

Anmerkungen

Eduard Georg Schröter (1811–1888) war ein deutscher evangelischer Theologe und Mitbegründer der Freien Gemeinde in den USA. Nach seinem Studium der Theologie, Philosophie und Geschichte in Jena und Göttingen wurde er 1845 wegen seiner revolutionären Anschauungen aus der protestantischen Landeskirche des Königreichs Hannover ausgeschlossen und wurde Prediger des deutschkatholischen Vereins in Worms. Ihm drohte ab 1848 die Ausweisung aus dem Grossherzogtum Hessen und er wurde zusammen mit seiner Familie schliesslich 1850 ausgewiesen. Sie wanderten in die USA nach New York aus. Die Free Congregation of Sauk County besteht noch heute.

Die Wirkung der Gewalt im Finanzwesen.

Das Verhalten des Senators Reagan von Texas in der Prohibitionsfrage hat gezeigt, dass er nichts weniger als ein zuverlässiger Verfechter der Freiheit ist; aber nichtsdestoweniger legte er eine angemessene Rücksicht für die Freiheit an den Tag und bekundete einen hohen Grad von finanzieller Einsicht, als er unlängst in einer im Senat stattgehabten Debatte der Idee des „Legal Tender“ Papiergelds opponierte und erklärte, dass, wenn noch mehr Tresorscheine ausgegeben werden müssten, sie nicht als „Legal Tender“ für Privatschulden, sondern als Zahlungsmittel für alle Steuern und öffentlichen Gebühren gelten sollten. Der Fort Worther „Southwest“ jedoch, der an ein ausschliessliches „Legal Tender“-Geld glaubt, bediente sich sehr harter Ausdrücke gegen Senator Reagan und vergleicht, was er als dessen einseitigen „Legal Tender“-Entwurf bezeichnet, d. h. einen Entwurf für „Legal Tender“ für die Regierung, aber nicht für Individuen, mit jenem andern „Legal Tender“-Entwurf, demzufolge die ursprünglichen Tresorscheine ausgegeben wurden, d. h. einen „Legal Tender“-Entwurf für Individuen, aber nicht für die Regierung betreffs der Einfuhrsteuern.

Dass die Tresorscheine unter letzterem Entwurf eine Entwertung erlitten, bezweifelt heute niemand mehr, und der „Southwest“ folgert, dass, da beide Entwürfe einseitige „Legal Tender“-Entwürfe seien, unter ersterem ausgegebene Scheine gleichfalls entwerten würden: eine Folgerung, welche zeigt, wie gefährlich es ist, eine Analogie anzunehmen, ohne sie vorher zu prüfen. In der Vergleichung zweier Dinge ist es von Wichtigkeit, zu bestimmen, nicht allein, in welchen Beziehungen sie sich gleich sind, sondern auch, in welchen Beziehungen sie sich voneinander unterscheiden. Diese beiden Entwürfe sind sich ohne Zweifel darin gleich, dass beide ein einseitiges „Legal Tender“-Geld beschaffen; doch eine etwas genauere Untersuchung wird einen wesentlichen Unterschied zwischen ihnen an den Tag legen, keinen geringeren Unterschied, in der Tat, als derjenige, welcher zwischen einem Scheinaussteller besteht, der bereit ist, seine eigenen Scheine entgegenzunehmen, und einem anderen, der nicht bereit ist, das zu tun, sondern vielmehr entschlossen ist, andere zur Entgegennahme seiner Scheine zu zwingen.

Um nicht zu viel von der Abstraktionsfähigkeit des „Southwest“ zu verlangen, werde ich die anzuwendende Illustration ein wenig konkreter machen, indem ich an Stelle der Regierung John Smith setze. Nehmen wir an, dass John Smith Scheine ausstellt und in Umlauf setzt und dann, seinem Nachbar John Brown eine Pistole vor den Kopf haltend, zu ihm sagt: „Wenn Dir meine Scheine als Zahlung für eine Dir zu entrichtende Schuld angeboten werden, musst Du sie entgegennehmen; wenn Du Dich weigerst, wirst Du mit dem Leben dafür büssen müssen; doch, was mich anbetrifft, zeige ich hiermit Dir und der Welt an, dass ich diese Scheine nicht als Zahlung für an mich zu entrichtende Schulden entgegennehmen werde.“ Der „Southwest“ wird keine Schwierigkeiten haben einzusehen, dass John Smiths Scheine unter solchen Umständen ausgegeben rasch entwerten würden. In Wirklichkeit sieht er, dass dies in einem dementsprechenden Falle tatsächlich zutraf, wo John Brown, der Bürger, von John Smith, der Regierung, gezwungen wurde, die Scheine anzunehmen, welche letzterer ausgab, aber sich weigerte, als Zahlungsmittel für Einfuhrsteuern selber zu akzeptieren.

Doch nehmen wir an, John Smith hätte seinem Nachbar John Brown gegenüber ein anderes Verfahren befolgt. Angenommen, nachdem er seine Scheine in Umlauf gesetzt, hätte er zu Brown gesagt: „Wenn Dir meine Scheine als Zahlung für an Dich zu entrichtende Schulden angeboten werden, steht es Dir frei, sie entgegenzunehmen oder zu verweigern, wie es Dir am besten dünkt; aber ich zeige Dir und der Welt hiermit an, dass ich diese Scheine unverzüglich zu ihrem vollen Betrage für irgendwelche mir zu entrichtende Schulden entgegennehmen werde.“ Glaubt der „Southwest“, dass ein solches Verfahren seitens John Smiths eine Entwertung seiner Scheine zur Folge gehabt haben würde? Glaubt er nicht vielmehr, dass John Smiths Bereitwilligkeit, das Schicksal seiner Scheine ihrer eigenen Güte zu überlassen, in Brown und Anderen ein grösseres Gefühl des Zutrauens erweckt haben würde, als sie jemals hätten fassen können, wenn Smith, selbst wenn er bereit gewesen wäre (was er nicht war), seine Scheine selbst entgegenzunehmen, den Versuch gemacht hätte, sie Anderen aufzuzwingen? Es scheint mir, dass „Southwest“ vernünftigerweise eine bejahende Antwort geben muss.

Doch diese Antwort wäre gleichbedeutend mit dem Zugeständnis, dass Senator Reagans einseitiges „Legal Tender“ nicht nur von dem einseitigen „Legal Tender“ der ursprünglichen Greenback-Gesetzgebung sehr verschieden und demselben weit überlegen ist, sondern dass ihm auch vor dem vollständigen „Legal Tender“, den „Southwest“ befürwortet, der Vorzug gegeben werden muss. Wie leicht hätte mein texanischer Zeitgenosse dieses Dilemma vermeiden können, durch Zuhilfenahme seiner Unterscheidungsgabe.

Ꭲ.

(Libertas 4, Samstag, 5. Mai 1888, S. 4.)

Anmerkungen

Seit dem Legal Tender Act, der 1862, mitten im Bürgerkrieg, erlassen wurde, wurde um die Legalität von Papiergeld heftig gestritten. Die Gegner stützten sich dabei auf Article I, Section 10 der Verfassung, welcher den Bundesstaaten explizit verbot, Schuldscheine (promissory notes, „bills of credit“) herauszugeben oder andere Zahlungsmittel als Gold- und Silbermünzen als gesetzliches Zahlungsmittel (legal tender) anzuerkennen. 1871 wurden vor dem Supreme Court zwei sog. „Legal Tender Cases“ verhandelt, welche schlussendlich Papiergeld als gesetzliches Zahlungsmittel als zulässig erklärten. Tucker bezeichnet dies im Artikel als „Greenback-Gesetzgebung“.

Tucker, der sämtliche staatlichen Monopole ablehnte, also auch die Idee eines staatlichen Geldmonopols, bezieht hier klar Stellung. Überhaupt experimentierten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Gemeinschaften und Bewegungen in den USA und anderswo mit alternativen Zahlungsmitteln wie z. B. Zeitbanken, privaten Kassenanweisungen u. a., um sich der in der Zeit um sich greifenden staatlichen Monopolisierung des Geldes (England 1844, USA 1862, Deutschland 1871) zu entziehen. Vgl. dazu z. B. James J. Martin (1980): Männer gegen den Staat: Die Vertreter des individualistischen Anarchismus in Amerika (1827–1908), 2 Bde., Freiburg: Verlag der Mackay-Gesellschaft.

Wer nicht so weit geht, als sein Herz ihn drängt und die Vernunft ihm erlaubt, ist eine Memme; wer weiter geht, als er gehen wollte, ist ein Sklave.

– H. Heine

(Libertas 3, Samstag, 21. April 1888, S. 8.)

Anmerkungen

Christian Johann Heinrich Heine (1797–1856) war einer der bedeutendsten deutschen Dichter, Schriftsteller und Journalisten des 19. Jahrhunderts. Wegen seiner politischen Ansichten zunehmend angefeindet und der Zensur in Deutschland überdrüssig, übersiedelte Heine 1831 nach Paris. Aus Frankreich berichtete er regelmässig über die Gemäldeausstellungen im Pariser Salon. Das hier publizierte Zitat bildet den Abschluss seines Berichts zur Gemäldeausstellung von 1833 (Sämtliche Werke, Band 10, S. 161, Hamburg: Hoffmann und Campe 1887).

Reminiszenzen an August Spies.

Kurze Zeit vor dem Platzen der Unglücksbombe in Chicago war August Spies in New York. Ich hatte ihn seit mehreren Jahren nicht gesehen und war erstaunt, ihn so jugendlich frisch wiederzufinden; etwas korpulenter, sonst aber ganz der Alte. Die Wirren und persönlichen Nörgeleien in New Yorker Parteikreisen leiteten das Gespräch auf die Polizeibrutalitäten in der Concordia Halle, damals noch frisch im Gedächtnis aller durch den Prozess Schwab. Justus Schwab hatte gewiss Ursache, die Polizei zu hassen, hatte ihn doch die privilegierte Knittelgarde zeit seines Lebens schikaniert wie kaum irgendjemand Anderen, und es war gewiss nicht die Schuld der meineidigen Blauröcke, dass Justus einem mehrjährigen Aufenthalte in Sing Sing entging. Und Justus hasste die Polizei und gab seinen desfallsigen Gefühlen stets offenen Ausdruck, selbst dann, als ihm die Klugheit Schweigen gebot. Ich war daher an Ausdrücke der Verachtung und des Hasses die Polizei betreffend gewöhnt, aber einen solchen Hass, wie ihn August Spies im Herzen und zur Schau trug, habe ich niemals, weder vor noch nach meiner Unterhaltung mit Spies, zu beobachten Gelegenheit gehabt. Spies war im Ganzen sehr ruhig, kalt, sarkastisch, ein strenger Parteimann und vorzüglicher Gesellschafter, aber, wenn einmal erregt, ein Spielball der ihn beherrschenden Leidenschaft. So auch, als Justus Schwab meinte, eine gemeinere Polizei als die New Yorker Knüppelgarde sei undenkbar — da sprang der bis dahin fischkalte August auf, mit bleichem Gesicht und hochroter Stirn, und verurteilte die Chicagoer Polizei. Wie, das bin ich unfähig wiederzugeben. Als Spies nach ungefähr zehn Minuten geendigt hatte, sagte ein staunend horchender Freund: „August, wenn die Dich kriegen, die hängen Dich.“ Und so ist’s geschehen. Die Aufregung, in welche Spies geraten war, veranlasste mich, die Unterhaltung in ein ruhigeres Fahrwasser zu steuern, und ebenso schnell war die unnatürliche Nervenspannung geschwunden und August wieder der kalte, logische Spies.

„Aber, lieber Spies“, warf ich im Laufe der Unterhaltung ein, „Deine und der ‚Arbeiterzeitung‘ Prinzipien sind ja ganz schön, aber Du kannst nicht logisch Euer Anrecht auf den Namen Anarchisten begründen.“

„Und warum nicht?“, war seine Antwort.

„Weil — Eure Sorte Kommunismus nahezu das Gegenteil von Anarchismus ist und daher der Name ‚kommunistische Anarchisten‘ ein Antilogismus.“

Spies: „Ja, so erscheint es Euch Tuckeranern, weil Ihr Euch die menschliche Gesellschaft aus einer Menge Einzelindividuen bestehend vorstellt, jedes Individuum ein in sich abgeschlossenes Ganzes, begabt mit freiem Willen, Wollen und Denken, bildend. Eine solche menschliche Gesellschaft existiert weder heute noch wird eine solche jemals existieren können. Freier Wille ist eine Chimäre, es gibt kein von der Gesellschaft unabhängiges Individuum. Uns ist der Kommunismus eine selbstverständliche, weil für die Menschheit notwendige Voraussetzung, das Fundament für die Erhaltung des Ganzen. Erst nachdem der Kommunismus die Fortexistenz der Menschheit ermöglicht, treten wir ein für den Anarchismus in Angelegenheiten, die das Individuum allein betreffen und —“

„Einen Augenblick, lieber Spies“, warf ich ein, „welche Angelegenheiten z. B. betreffen solchergestalt das Individuum allein und nicht das Ganze? … hörte ich falsch oder sagtest Du nicht so?“

Nach einer Pause — „Ich denke, es würde uns das hier zu weit führen“, antwortete Spies.

Wie schon gesagt, Spies war ein strenger Parteimensch. Er verteidigte alles und irgendetwas im Parteiinteresse vor der Öffentlichkeit, privatim aber beklagte er sich schon damals bitter über das unkontrollierbare Element in den Reihen der Chicagoer Internationale. „Die ‚Arbeiterzeitung‘ ist den Feuerfressern nicht radikal genug“, erklärte er grimmig. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass er diese seine Nachgiebigkeit gegen eine Gruppe exaltierter Toren mit seinem Leben bezahlte.

B.

(Libertas 3, Samstag, 21. April 1888, S. 8.)

Anmerkungen

August Vincent Theodor Spies (1855–1887) war ein deutschamerikanischer Chefredakteur und Herausgeber der anarchistischen „Arbeiter-Zeitung“ und ein Sprecher der US-amerikanischen Arbeiterbewegung in Chicago. Im November 1887 wurde er zusammen mit drei weiteren Anarchisten durch Erhängen hingerichtet, nachdem am 4. Mai 1886 auf einer Kundgebung für den 8-Stunden-Arbeitstag auf dem Haymarket eine Bombe explodiert war. Das Urteil wurde bereits 1893 durch den Gouverneur von Illinois annulliert.

Justus H. Schwab (1847–1900) war ein weiterer Deutschamerikaner, Betreiber einer New Yorker Kneipe, die als Treffpunkt für Radikale galt, und eine wichtige Figur in der New Yorker anarchistischen Bewegung.

Bei den angesprochenen „Polizeibrutalitäten in der Concordia Halle“ dürfte es sich um den Polizeieinsatz im Februar 1885 handeln, als es in der Concordia Hall zu einer Auseinandersetzung zwischen Anarchisten und Sozialisten kam. Auslöser war, dass beide Parteien unterschiedlicher Ansicht darüber waren, ob der Einsatz von Dynamit durch irische Nationalisten in London legitim sei oder nicht.

Vollkommene Menschen.

Das Gesellschaftssystem, das Ihr anstrebt, ist schon ganz recht für vollkommene Menschen, aber für Menschen, wie wir sie nun einmal haben, taugt es nicht. Solange die Menschen nicht besser, solange sie noch die Sklaven ihrer Leidenschaften und selbstsüchtigen Eingebungen sind, müssen sie regiert werden, da richten alle Eure schönen Redensarten nichts aus. So lautet einer der stereotypen Einwände des Staatsgläubigen. Zwar ist er schon oft widerlegt worden, da er aber immer und immer wieder gemacht wird, lohnt es sich am Ende der Mühe, nochmals darauf einzugehen.

Allerdings sind die Menschen herrschsüchtig, habsüchtig, streitsüchtig, unvollkommen, überklug auf ihren Vorteil bedacht oder kreuzdumme Opfer der Ausbeutung. Dass die gegenwärtigen Staatsformen und das auf sie basierte sozialökonomische System trefflich dazu angetan sind, gerade diese empfindlichen menschlichen Unvollkommenheiten so recht zu entwickeln und auf ganz gefährliche Weise zuzuspitzen, das weiss wohl jeder humane Staatsgläubige auch, der mit sehenden Augen sieht. Aber der Aberglaube, dass alles noch viel schlimmer sein würde ohne die Zuchtrute des Gesetzes, wurzelt so tief und fest wie jener andere Aberglaube einst wurzelte, dass alle Schrecken der Hölle unbedingt nötig seien, um das menschliche Tier zu zähmen. Schliesslich sind wir doch das Fegefeuer los geworden und sind nicht schlimmer daran als zu der Zeit, als es gleich einem Damoklesschwert über unserem Haupte hing und das Leben zur Qual machte. Im Gegenteil sucht jetzt selbst die intelligentere Christenheit, die Hölle loszuwerden, da sie deren demoralisierenden Einfluss auf die Menschen einsehen gelernt hat.

Sehen wir uns einmal die schlimmsten Schwächen der Menschen etwas näher an, und mutmassen wir ein wenig über die Chancen, die sich denselben in einem regierungslosen Gesellschaftssystem eröffnen mögen.

Für die Herrschsucht bleibt wohl nur wenig Hoffnung, denn wo keine Nachfrage ist, bleibt die Ware einfach liegen. Wo das Herrschen in Verruf gekommen, wo keine hervorragenden Stellungen, die Machtausübung ermöglichen, mehr einzunehmen sind, wie soll da diesem liebsten Kinde des Staates sein Recht werden? Auf den Aussterbeetat mit ihm; von dieser Seite droht der Anarchie keine Gefahr.

Der Habsucht, mit ihrem Gefolge von Übeln gross und klein, scheint aber, auf den ersten Blick, umso freieren Spielraum gegeben. Doch auch dieser ist, wie sich bei näherer Untersuchung ergibt, mit dem Staate nur die Hauptstütze entrissen. Ohne Staat wird es keine staatsgeschützten Eigentums- und Geldprivilegien mehr geben und mit dem Zins werden wir auch glücklich den Profit und die Grundrente los geworden sein. Will man also etwas mehr erhaschen, als man durch seiner Hände und seines Geistes Arbeit erwerben kann, so wird das nicht mehr durch pfiffige Spekulation gelingen, und man muss sich schon zu einem tatsächlichen Einbruch oder Raubmord herbeilassen, oder durch einen Kunstgriff den Inhalt fremder Taschen zu dem der seinigen machen. Wie sieht aber das Stehlen gleich hässlicher aus, wenn es unmittelbar und ohne gesetzlichen Freibrief geschehen muss; es schadet unserem Ansehen unter unseren Nachbarn, und auf Respektabilität hält man doch etwas. Es gibt aber genug andere, die noch nicht auf diesem erhabenen Respektabilitätsstandpunkt angelangt sind, und die, in der Abwesenheit abschreckender Strafgesetze, frisch darauflos stehlen, rauben, morden. Wir werden sehen.

Emerson sagt über das Pioniersleben in Kalifornien zur Zeit, es „die beste Regierung hatte, die jemals existierte“ – nämlich gar keine:

Pfannen Goldes lagen zum Trocknen vor jedem Zelte in vollkommener Sicherheit. Das Land war in kleinen Streifen, wenige Fuss breit, vermessen. Ein Stückchen Grund, das mit der Hand bedeckt werden konnte, am Rande deines Streifens, war ein- bis zweihundert Dollars wert; und niemand bestritt deine Ansprüche. Jeder Mann durch das ganze Land war mit Messer und Revolver bewaffnet, und man wusste, dass jedes Vergehen von einer augenblicklichen Justiz ereilt werden würde; und es herrschte vollkommener Friede.

„Für die Gemütlichkeit bei einem solchen Frieden danke ich“, ruft da mancher sanfte Bürger aus, dem bei Erwähnung der Revolver eine Gänsehaut überläuft. „Da ist mir der Knüppel des Polizisten doch noch lieber.“ Auch wenn er auf Instigation reicher Diebe nach Willkür arme Arbeiter verknüppelt?

Man bedenke, dass die Pioniersbevölkerung des Goldlandes Kalifornien aus einem meist rohen, abenteuerlichen Element bestand, dessen Haupt, wenn nicht ausschliessliches Sinnen und Trachten nach Reichtum war. Ist es in Anbetracht dieser Tatsachen dann so schwer, sich ein geordnetes, bürgerliches Zusammenleben ohne Regierung und Gesetze vorzustellen, dessen Individuen nicht aus leidenschaftslosen, vollkommenen Menschen bestehen, sondern aus eben solchen fehlerhaften, mit mancherlei gemeinschädlichen Neigungen und selbstsüchtigen Interessen ausgerüsteten Geschöpfen wie wir selber, und die sich wohl zu schützen wissen werden gegen Eingriffe in ihr Eigentum, ihre persönliche Sicherheit, Bequemlichkeit und Freiheit?

Natürlich fehlt es in einem anarchistischen Gemeinwesen auch nicht an Solchen, die ihre Freiheit zu missbrauchen trachten werden. Die Möglichkeit, es auf die eine oder andere Weise zu tun, würde wahrscheinlich jedem Einzelnen von uns oft genug nahe liegen – möge der „Freidenker“ mit seiner eigensinnigen Wiederholung, dass Anarchie ein mit der Menschennatur gar nicht rechnendes Zukunftsideal sei, besondere Notiz hiervon nehmen – wenn wir nicht wüssten, dass unsere wachsamen Nachbarn uns bei jedem Übergriff auf die Finger klopfen würden. „Tue, was du willst“, ruft jeder dem Anderen zu, „merke dir aber, dass ich auch dasselbe Recht habe, zu tun, was ich will, und dass ich es nicht dulden werde, dass du meine Rechte schmälerst, oder mich und die Meinen im friedlichen, harmlosen Lebensgenuss störst.“

Das Kostenprinzip, das die ökonomische Grundlage des anarchistischen Gesellschaftssystems bilden wird, wonach alle Werte nach der zu ihrer Herstellung erforderlichen Zeit und Arbeitskraft bestimmt werden, und das allen Menschen Gerechtigkeit und ökonomische Gleichheit sichern wird, wird auch in gewissem Sinne der Regler des geselligen Zusammenlebens sein. „Was immer du tust“, wird es da heissen, „tust du auf deine eigenen Kosten. Riskiere es, das Eigentum oder die Person deines Nachbarn auf irgendeine Weise absichtlich zu gefährden, und trage die unausbleiblichen Folgen.“

Wir behaupten sogar, dass es weniger möglich sein wird, sich ungestraft an seinem Nächsten zu versündigen, als das jetzt der Fall ist, und dass wir zu dieser Folgerung berechtigt sind, weil wir eben mit der Menschennatur wie sie ist, rechnen und nicht, weil wir eine dem anarchistischen Ideal vermeintlich entsprechende Verbesserung annehmen. Doch, obgleich wir keine vollkommenen Menschen voraussetzen, haben wir doch die feste Zuversicht, dass sich in anarchistischer Freiheit ein geistig und körperlich schöneres, kräftigeres, edleres Geschlecht entwickeln wird als es jemals die Erde getragen hat.

Vieles wird aus unserem Moralkodex gestrichen werden müssen, was jetzt dort als Sünde verzeichnet steht, nicht weil die Menschen sich so sehr vervollkommnet haben werden, sondern weil die Vergehen, wenn es überhaupt Vergehen sind, rein persönlicher Natur sind, keiner zweiten Person zum Schaden gereichen – Übertretungen der Naturgesetze weiss die Natur selbst zu bestrafen – und nur insofern Ärgernis geben, wie sie mit unseren konventionellen Vorurteilen in Konflikt geraten. Diese Vorurteile sind in manchen Köpfen so gross, dass die Welt aus den Fugen zu gehen droht, wenn denselben nicht genug getan wird, und nur durch einen Moralkodex, dessen Befolgung durch Staatsgewalt erzwungen werden kann, zusammengehalten wird.

Eine Vollkommenheit, die diesen Vorurteilen entspräche, wäre allerdings eine Ungeheuerlichkeit ganz in dem Sinne des „Freidenkers“, und eine treffliche Staffage zu dem höchst lächerlichen Bilde eines vollkommenen Zukunftsstaates, wie er es seinen Lesern vorführt. Gottlob! Dem anarchistischen Zukunftsideal droht keine Gefahr von Seiten der Gähnkrämpfe, denn in der Anarchie wird „ewige Wachsamkeit der Preis der Freiheit“ sein.

Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muss.

E.H.S.

(Libertas 3, Samstag, 21. April 1888, S. 5 und 8.)

„Brüderliche“ Gewalt.

Das „Commonweal“ ist eine der wenigen sozialistischen Zeitungen, die zu lesen ich immer Geduld habe, da ihre Lebendigkeit und Gedankenfülle eine ziemlich beachtenswerte Ausnahme bilden zu der langweiligen Gemeinplätzigkeit des sozialistischen Durchschnittsjournals. In seiner letzten Ausgabe finde ich folgenden, dem „People“ entnommenen Ausschnitt:

Es ist nicht ein väterlicher, sondern ein brüderlicher Staat, den wir anstreben. Könnt ihr Schreier nach Individualismus nicht den Unterschied einsehen?

Es ist dies eine sehr gute Illustration der sozialistischen Methode, Schwierigkeiten zu umgehen und mit einer beneidenswerten Leichtigkeit ihr Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen. Greife sie an, wo du willst, sie sind vollkommen sicher und unverwundbar. Zerstöre ihren Standpunkt, und sie werden seinen Namen ändern und behaupten, dass dein Feuer ihnen nicht geschadet habe. Du widersetzest dich dem Zwangselement in ihren reformatorischen Utopien und zeigst ihnen die Inkonsequenz, den Widersinn, die selbstvernichtende Tendenz der Behandlungsweise, die sie der Gesellschaft vorschreiben, und sie werden für ihre gesundheitswidrige Medizin eine andere Etikette erfinden.

Namen tun nichts zur Sache, meine Herren. Zeigt uns, dass der Staatssozialismus unsere Freiheit nicht vergewaltigt, uns unseres rechtmässigen Besitzes nicht zu entäussern trachtet und uns den unwissenden Aberglauben der Majorität nicht aufzwingt, aber versteckt euch nicht hinter dem Euphemismus eines „brüderlichen“ Staates. Bah! Lest Bastiat:

„Die Montagnards beabsichtigen, dass die Besteuerung ihren bedrückenden Charakter verlieren und nur ein Akt der Brüderlichkeit werden soll.“ — Politische Plattform. Gültiger Himmel! Ich weiss, dass es heutzutage Mode ist, die Brüderlichkeit in alles hineinzudrängen, aber ich hätte es mir nicht vorgestellt, dass sie je in die Hände des Steuereinnehmers gegeben würde.

Es gibt Leute, die es lieben, wenn sie unter dem Einfluss berauschender Getränke stehen, umherzugehen und ihre brüderlichen Umarmungen und Küsse jedermann aufzudrängen, ihnen vollkommen Unbekannte nicht verschonend. Ohne Zweifel wäre ein solches betrunkenes Individuum sehr erstaunt, wollte sich jemand von seiner Herzlichkeit beleidigt und abgestossen fühlen. Doch die Freiheit, seine Freunde und Gefährten selbst zu wählen, ist von grösster Wichtigkeit. Wir bestehen darauf, dass wir gegen unseren Willen nicht einmal geküsst werden wollen.

V.Y.

(Libertas 3, Samstag, 21. April 1888, S. 5.)