Libertas

„Freiheit, nicht die Tochter, sondern die Mutter der Ordnung“ – Proudhon

Soll die Arbeit belohnt werden oder nicht?

In No. 121 von Liberty kritisierte ich einen Versuch Kropotkins, den Kommunismus und Individualismus als identisch hinzustellen. Ich beschuldigte ihn, „die wahre Frage, ob der Kommunismus es zulassen werde, dass das Individuum selbstständig arbeite, Werkzeuge eigne, seine Arbeit oder deren Produkte verkaufe und die Arbeit Anderer oder deren Produkte einkaufe“, ignoriert zu haben. In den Augen des Herrn Most ist das etwas so Unerhörtes, dass er beim Abdruck des Satzes die Worte „die Arbeit Anderer“ in grosser Fettschrift setzte. Als Kommunist muss Herr Most, wenn er konsequent sein will, überhaupt jeden Kauf und Verkauf verwerfen, aber warum er sich besonders gegen den Kauf und Verkauf der Arbeit auflehnt, kann ich nicht verstehen. In Wahrheit ergibt sich aus einer letzten Zergliederung, dass Arbeit allein das Recht hat, gekauft und verkauft zu werden. Hat der Preis irgendeine andere gerechte Basis als die Kosten? Und gibt es sonst etwas, das Kosten verursacht, ausser der Arbeit oder Leiden (eine Form der Arbeit)? Die Arbeit soll bezahlt werden! Schrecklich, nicht wahr? Glaubte ich doch, der Umstand, dass sie nicht bezahlt wird, sei das ganze Unglück. „Unbezahlte Arbeit“ war stets die Hauptbeschwerde aller Sozialisten, und dass die Arbeit ihren Lohn erhalte, war ihr Hauptkampf. Angenommen, ich hätte zu Kropotkin gesagt, die wahre Frage sei, ob der Kommunismus den Individuen erlaube, ihre Arbeit oder Produkte zu ihren eigenen Bedingungen auszutauschen. Wäre Herr Most wohl so entrüstet gewesen? Würde er das in Fettschrift gedruckt haben? Und doch habe ich in einer andern Form genau dasselbe gesagt.

Wenn Diejenigen, welche den Lohn, d. h. den Kauf und Verkauf der Arbeit verwerfen, fähig wären, ihre Gedanken und Gefühle zu analysieren, so würden sie einsehen, dass es nicht der Umstand des Kaufs und Verkaufs der Arbeit ist, der ihren Zorn erregt, sondern der Umstand, dass eine ganze Klasse für ihren Lebensunterhalt auf den Verkauf ihrer Arbeit angewiesen ist, während eine andere Klasse durch gesetzliche Privilegien der Notwendigkeit der Arbeit überhoben ist, Privilegien, welche letztere Klasse in den Stand setzen, Etwas zu verkaufen, das nicht Arbeit ist und das in der Abwesenheit jener Privilegien Allen zu Gute käme. Und gegen einen solchen Stand der Dinge protestiere ich so sehr wie irgend Einer. Doch von dem Augenblick ab, wo das Privilegium abgeschafft wird, wird die Klasse, die es jetzt geniesst, sich genötigt sehen, ihre Arbeit zu verkaufen, und dann, wenn Nichts mehr vorhanden ist als Arbeit, um Arbeit zu kaufen, wird der Unterschied zwischen Lohngeber und Lohnempfänger aufgehoben und Jeder wird ein Arbeiter sein, der mit seinen Nebenarbeitern in Tausch steht. Das Ziel des anarchistischen Sozialismus besteht nicht in der Abschaffung des Lohns, sondern darin, Jeden auf seinen Lohn zu verweisen und ihm den vollen Betrag desselben zu sichern. Was der anarchistische Sozialismus abzuschaffen bestrebt ist, ist der Wucher. Nicht der Arbeit, dem Kapital will er die Vergütung nehmen. Er besteht nicht darauf, dass die Arbeit nicht soll verkauft werden; er besteht darauf, dass das Kapital nicht auf Wucher soll verdungen werden.

Aber, wendet Herr Most ein, diese Idee eines freien Arbeitsmarkts, aus dem das Privilegium ausgeschieden ist, ist weiter nichts als „konsequentes Manchestertum“. Nun, was kann ein Mann, der sich zum Anarchismus bekennt, besseres wünschen, als das? Denn das Prinzip des Manchestertums ist Freiheit, und konsequentes Manchestertum ist konsequente Befürwortung der Freiheit. Die einzige Inkonsequenz der Manchesterleute liegt in ihrer Untreue gegen die Freiheit in einigen ihrer Phasen. Und diese Untreue gegen die Freiheit in einigen ihrer Phasen ist gerade die verhängnisvolle Inkonsequenz der „Freiheit“ und ihrer Partei, und der einzige Unterschied zwischen ihnen und den Manchesterleuten besteht darin, dass in vielen Beziehungen, in welchen die letztern untreu sind, die erstern treu sind, während in andern Beziehungen, in welchen die letztern treu sind, die erstern untreu sind. Ja, echter Anarchismus ist konsequentes Manchestertum und kommunistischer oder Pseudoanarchismus ist inkonsequentes Manchestertum. „Ich danke dir, Jude, für dieses Wort.“

T.

(Libertas 3, Samstag, 21. April 1888, S. 5.)

Anmerkungen

Anmerkung zum letzten Satz: In der ersten Szene des vierten Aufzugs von Shakespeares Der Kaufmann von Venedig wird die Klage des Shylock, dem jüdischen Geldverleiher, gegen den glücklosen Kaufmann Antonio vor dem Dogen verhandelt. Weil Antonio das geliehene Geld nicht zurückzahlen kann, schuldet er dem Shylock „ein Pfund Fleisch“ aus seinem Körper. Die als Advokat Balthasar verkleidete Portia rettet Antonio mit einer Spitzfindigkeit: Zwar habe Shylock Anspruch auf das Fleisch, nicht jedoch auf das Blut Antonios, er dürfe also beim Herausschneiden keinen Tropfen Blut vergiessen. Tue er es doch, so drohe ihm die Todesstrafe und alle seine Güter würden vom Staat konfisziert. Als Shylock daraufhin erwiedert, „gebt mir mein Kapital, und lasst mich gehn!“, ruft Graziano, ein anwesender Freund Antonios aus: „Dank, Jude, dass du mich das Wort gelehrt.“ (in der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel von 1799; im Original: „I thank thee, Jew, for teaching me that word.“]). Beim letzten Satz in diesem Beitrag Tuckers, der klar als Zitat gekennzeichnet ist, handelt es sich wahrscheinlich um eine Übersetzung dieses Ausrufs. Zum Verständnis der jüdischen Figur des Shylock vgl. u. a. den Artikel in der Wikipedia.

Weder Dynamit noch Stimmzettel, sondern?

In der Propaganda unserer Sache greifen wir weder zum Dynamit noch zum Stimmzettel. Nach der herrschenden Meinung aber sind dies die hauptsächlichen Mittel, die einer Partei zur Verwirklichung ihres Programms zur Verfügung stehen: Sie muss sich für das eine oder andere entscheiden. Weigern wir uns, am Stimmkasten für unsere Prinzipien zu wirken, so ist es nach der herrschenden Meinung eine ausgemachte Sache, dass wir Dynamit im Schilde führen. Aber das ist stupid. Vorläufig sind wir wenigstens hierzulande noch nicht da angelangt, zwischen diesen Mitteln wählen zu müssen. Es stehen uns viel wirksamere Agentien zur Förderung unserer Sache zur Verfügung. Sollte es aber je dahin kommen, sollten wir vor eine solche Alternative gestellt werden, dann müssten wir selbstverständlich das Dynamit wählen. Denn die Dinge, welche durch Gewaltmittel zu sichern sind, wozu ich z. B. den Sturz eines sich direkt und ausschliesslich auf Kanonen und Bajonette stützenden Despoten oder die Herstellung der Presse- und Redefreiheit, kurz der Agitationsfreiheit in Wort und Schrift zähle, würden sich viel rascher durch das Dynamit sichern lassen als durch den Stimmzettel. Dynamit und Stimmzettel sind wesentlich von ein und derselben Art, beides sind Gewaltmittel, aber das Dynamit hat den ungeheuren Vorzug leichter Anwendbarkeit, grosser Einfachheit und prompter Wirksamkeit.

Aber, wie gesagt, wir befinden uns in der Propaganda des Anarchismus nicht vor der Alternative einer Wahl zwischen Dynamit und Stimmzettel, und zwar erstens nicht, weil unsere Sache ihrem innersten Wesen nach weder durch das eine noch das andere der angeführten Agentien je zu verwirklichen ist; und zweitens, weil uns die natürlichen, dem Wesen der Sache entsprechenden Agitationsmittel, Wort und Schrift, grossenteils zur Verfügung stehen. Das Wesen unserer Sache, sofern es sich um den positiven Teil derselben handelt, schliesst alles Operieren mit Gewaltmitteln aus. Die zunächst vor uns liegende Aufgabe besteht weder im Sturz eines sich direkt und ausschliesslich, oder auch nur hauptsächlich, auf Militärmacht stützenden Despoten, noch in der Herstellung und Sicherung der Presse- und Redefreiheit, wiewohl diese unschätzbaren Agitationsmittel selbst hierzulande mancherorts bedroht sind; die uns zunächst liegende Aufgabe besteht in der Erkämpfung der Freiheit der Betätigung des Individuums nach allen Richtungen hin, sowie in der dadurch bedingten Abschaffung der Tributpflichtigkeit der Arbeit dem Privilegium gegenüber, wie dasselbe im Staat zum Ausdruck gelangt.

Es liegt auf der Hand, dass die zu beseitigende Unselbstständigkeit des Individuums in enger Beziehung steht mit der ökonomischen Abhängigkeit desselben. Um die allseitige Freiheit des Individuums zu erringen, muss demselben die Sicherung seiner ökonomischen Unabhängigkeit ermöglicht werden. Die Schaffung dieser Möglichkeit aber bedingt die Revolutionierung der gesellschaftlichen Einrichtungen in solcher Weise, dass das Individuum fürderhin in den Besitz des vollen Ertrags seiner Arbeit gelangt, das heisst, die Abschaffung der Monopolherrschaft des Staats. Denn es ist der Staat, der den Kredit monopolisiert und der Arbeit die Last des Zinses aufbürdet; der Staat, der den Grund und Boden monopolisiert und der Arbeit den Tribut der Bodenrente auferlegt; der Staat, der künstliche Schranken errichtet und durch Verhinderung des freien Welthandels auf Unkosten der Arbeit den Profit schafft. Es ist der Staat, der die Arbeit dem Zins, der Bodenrente, dem Profit, der Steuer, um keine andern Formen der Ausbeutung anzuführen, tributpflichtig macht. Wer und was ist hiernach der Staat? Wer und was anderes als die privilegierten Klassen, die in der angedeuteten Weise von der Exploitation der Arbeit leben. Der Ertrag der Arbeit fliesst auf dem Wege des Gesetzes grossenteils in die Taschen von Nichtstuern. Auf diesen Umstand lässt sich die Sklaverei des Individuums wie überhaupt die soziale Misere der Zeit zurückführen. Dieser Stand der Dinge soll nun abgeschafft werden. Die Arbeit soll in den Besitz ihres vollen Ertrags gelangen. Wir wollen eine Welt freier Menschen.

Welchen Weg müssen wir nun einschlagen, um dieses Ziel zu erreichen? Wie können wir unsere Sache verwirklichen? Vermag sich das Dynamit dabei als nützlich zu erweisen? Bewährt sich der Stimmzettel als das souveräne Mittel, als das er empfohlen wird? Oder gibt es andere, wirksamere Mittel zur Verwirklichung unserer Strebeziele?

Der denkende Mensch hat diese Fragen bereits im eigenen Geiste beantwortet.

Mit dem Hinweis auf die nicht wegzuleugnende Tatsache, dass das Unrecht, das soziale Elend, über das Beschwerde geführt wird, seine Hauptstütze in dem „Unverstand der Massen“ findet, glaube ich des besonderen Nachweises enthoben zu sein, dass das Dynamit in dem Kampfe zur Beseitigung desselben nicht zu erspriesslicher Anwendung gelangen kann. Mit dem Sklaven, der seine Ketten küsst, ist nichts auszurichten. Gegen die Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens. So auch wird sich der Unverstand und Sklavensinn der Massen leider nicht mittels Dynamit aus der Welt schaffen lassen. Leider nicht! Denn das wäre ein billiges Verfahren, um zu grossen Zielen zu gelangen. Der beanstandete Unverstand und Sklavensinn wird bestenfalls allmählich geistigen Waffen weichen. Wo uns daher diese zur Verfügung stehen, haben wir keine Veranlassung, zu andern zu greifen. Aber wie steht’s mit dem Stimmzettel?

Wie bereits angedeutet, setzen wir auch in den Stimmzettel kein Vertrauen. Dieses Mittel kann sich einfach nicht als ein Agens der gesellschaftlichen Entwicklung erweisen. Diese Entwicklung geht vor sich, ganz unabhängig davon. Es liegt nicht im Wesen des Stimmzettels, Freiheit, Recht und Wahrheit zu ermitteln und ins Leben einzuführen. Freiheit, Recht und Wahrheit ergeben sich aus den wechselseitigen Beziehungen, in welchen Individuum, Natur und Gesellschaft zueinander stehen, und gelangen immer zur Verwirklichung in dem Grade, in welchem sie vom Volke erkannt werden. Was der Stimmzettel einzig und allein zu ermitteln vermag, ist, wie viele Menschen sich zu einer gewissen Meinung bekennen, wie viele zu einer anderen. Entscheidet sich eine Majorität zu Gunsten eines falschen Prinzips, so erhält dasselbe Gesetzeskraft zum Schaden des Einzelnen wie der Gesamtheit. Freiheit und Recht hängen aber nicht ab von Majoritätsbeschlüssen. Lange ehe eine Majorität am Stimmkasten sich zu ihren Gunsten erklärt, hat eine einsichtsvolle und entschlossene Minorität sie praktisch zum ungeschriebenen Gesetz erhoben und im Leben verwirklicht. Seiner eigentlichen Natur nach kann der Stimmzettel nichts anderes als ein Werkzeug in den Händen des Despotismus bilden, und als solches hat er sich denn auch vortrefflich bewährt. Der Glaube an die erlösende Macht des Stimmzettels ist aus diesen Gründen nichts weiter als ein ebenso stupider wie verderblicher Aberglaube.

Und hieraus dürfte sich für den denkenden Leser die Ergänzung meiner Überschrift wohl von selber ergeben: weder Dynamit noch Stimmzettel, sondern geistige Agitation und die friedliche, von allen herrschenden Gewalten unabhängige Organisation unserer Prinzipien und Strebeziele. In der Ausführung unseres Programms in dieser Weise unterscheiden wir uns wesentlich von allen politischen Parteien, aber wir stehen auf dem Boden der Natur.

G.S.

(Libertas 3, Samstag, 21. April 1888, S. 4–5.)

Nach „Freiheit“, „Der Sozialist.“

Die erste, Libertas widerfahrene Kritik kam aus dem Lager der Kommunisten und floss aus der Feder des Herrn Most. Ich habe dieselbe beantwortet und Herr Most verspricht eine Entgegnung in der „Freiheit“. Mittlerweile erfolgt ein Angriff aus einem andern Quartier, aus dem Lager der Staatssozialisten. In dem offiziellen Organ derselben, dem „Sozialist“, widmet ein regelmässiger Mitarbeiter dieses Blattes, J. G., zwei Spalten einer Besprechung meiner Abhandlung über „Staatssozialismus und Anarchismus“. Unter der Überschrift „Konsequente Anarchisten“ stellt er zuerst einen Vergleich an zwischen den Anarchisten und den Kommunisten, die sich Anarchisten nennen, in welchem er die ersteren ihrer Konsequenz, Logik und Offenheit wegen belobt. Nach dieser Einleitung begibt er sich an die Aufgabe, die logischen Anarchisten zu vernichten, indem er mit „Widersinn“, „Unsinn“, „Ignoranz“ und all den Abwandlungen dieser Substantive wie der ihnen verwandten Adjektive, deren die reichhaltige deutsche Sprache fähig ist, um sich wirft. Nun will es mir scheinen, dass wenn die Anarchisten solche Dummköpfe sind, sie keine durch zwei Spalten sich erstreckende Aufmerksamkeit im „Sozialist“ verdienen; andrerseits aber, dass wenn sie eine durch zwei Spalten gehende Prüfung verdienen, sie dieselbe in der Form einer Beweisführung verdienen an Stelle wegwerfender Behauptungen in Verbindung mit einem Hinweis auf die Marx'schen Werke, was einen stark an Henry Georges Methode erinnert, seine staatssozialistischen Kritiker auf „Progress and Poverty“ zu verweisen. Den Anarchisten vorzuwerfen, dass sie die Begriffe Wert, Preis, Produkt und Kapital nicht verstehen, dass ökonomische Konzepte von ihnen keine Berücksichtigung finden, und dass sie die Stellung der Staatssozialisten missrepräsentieren, heisst nicht, sie zu widerlegen. Eine Widerlegung bedingt Analyse und Vergleich. Ein Argument zu widerlegen heisst, es in seine Teile zu zergliedern, das Widersprechende derselben untereinander und die Unvereinbarkeit einzelner oder aller dieser Teile mit bereits festgestellten Wahrheiten nachzuweisen. Aber in J. G.’s Artikel ist von alledem nichts, oder doch beinahe nichts zu entdecken.

Die grösste Annäherung an eine fassbare Kritik, die ich entdecken kann, ist die Behauptung, dass ich Marx einen Begriff vom Staat zuschreibe, der seiner Auffassung durchaus fern lag; dass er nicht an den alten patriarchalischen und absolutistischen Staat glaubte, sondern dass er Staat und Gesellschaft als identisch betrachtete. Ja, er betrachtete sie als identisch in dem Sinne, in welchem der Löwe und das Lamm identisch sind, nachdem der Löwe das Lamm aufgefressen hat. Die Marx'sche Einheit von Staat und Gesellschaft ist mit der Einheit der Ehegatten im Auge des Gesetzes vergleichbar. Mann und Frau sind Eins, aber das Eine ist der Mann; so sind nach Marx'scher Auffassung Staat und Gesellschaft Eins, aber das Eine ist der Staat. Hätte Marx Staat und Gesellschaft Eins gemacht, aber das Eine die Gesellschaft, dann herrschten nur kleine oder gar keine Differenzen zwischen ihm und den Anarchisten. Nach der Auffassung der Anarchisten ist die Gesellschaft einfach die Summe jener Beziehungen zwischen den Individuen, welche aus den natürlichen, durch keine äussere, eingesetzte autoritative Gewalt gehemmten Entwicklungsprozessen erwachsen. Dass Marx unter dem Staat nicht dies verstand, erhellt aus der Tatsache, dass sein Plan auf die Etablierung und Aufrechterhaltung des Sozialismus, – d. h. die Beschlagnahme des Kapitals wie dessen öffentliche Verwaltung, mittels autoritativer Gewalt abzielte, nicht weniger autoritativ, weil demokratisch anstatt patriarchalisch. Es ist diese Beziehung des Marx'schen Systems zur Autorität, die ich in meiner Abhandlung betone, und wenn ich es darin missrepräsentiere, so tue ich das gemeinschaftlich mit allen staatssozialistischen Zeitungen und allen staatssozialistischen Plattformen. Aber es ist nicht eine Missrepräsentation; welcher Sinn könnte sonst in den Spötteleien hinsichtlich der Selbstherrlichkeit des Individuums liegen, in welchen sich J. G., ein Marxianer, gegen das Ende seines Artikels hin ergeht? Hat die individuelle Selbstherrlichkeit eine andere Alternative als die Autorität? Wenn so, worin besteht sie? Wenn nicht, und wenn Marx und seine Anhänger sie verwerfen, müssen sie notwendigerweise Befürworter der Autorität sein.

Aber wir wollen noch einen weiteren Punkt der J. G.’schen „Replik“ ins Auge fassen. Diese individuelle Selbstherrlichkeit, die Ihr verlangt, sagt er, haben wir schon und sie ist die Ursache all unseres Wehes. Wieder eine leere Behauptung, ohne Analyse und Vergleich, und aufgestellt in völliger Missachtung meiner Beweisführung. Ich begann mit der Erklärung, dass was wir bereits haben, ein Mittelding zwischen individueller Selbstherrlichkeit und Autorität sei, in welchem erstere nach einigen Richtungen hin vorherrsche, letztere nach andern; und ich wies nach, dass die Quelle all unseres Wehes nicht in der individuellen Selbstherrlichkeit, sondern in der Autorität liege. Ich führte diesen Nachweis, indem ich die bedeutendsten Hemmnisse spezifizierte, welche die Autorität errichtet hat, um das freie Spiel natürlicher ökonomischer Prozesse zu verhindern, und indem ich zeigte, wie diese Prozesse alle Formen des Wuchers, – d. h. wesentlich all unser Weh – abschaffen würden nach Beseitigung jener Hemmnisse. Ist dieses Argument widerlegt worden? Mit nichten! Hm! Sagt J. G., das ist nichts weiter „als ein in der abgeschmacktesten Weise wiedergekauter kleinbürgerlicher Proudhonismus“, den Marx „für immer begraben hat“. Darauf könnte ich erwidern, dass der Inhalt des „Sozialist“ in nichts Weiterem bestehe als in einem „wiedergekauten, alles Freiheitsgefühl beleidigenden Marxismus“, und dass Proudhon denselben längst abgefertigt habe. Wenn ich einmal einsehen lerne, dass ein solcher Stil sich in der Schlichtung von Kontroversen als wirkungsvoll erweist, dann will auch ich ihn anwenden. Bis dahin ziehe ich es vor, denselben von den Staatssozialisten monopolisiert zu sehen. Diese Form des Monopols würden die Anarchisten eher erlauben als zerstören.

T.

(Libertas 3, Samstag, 21. April 1888, S. 4.)

Eigentum und Rechtsschutz.

An die Redaktion von Libertas: Ihre Sozialtheorie enthält so viel scheinbar widersprechendes, dass ich mir nähere Aufklärung erbitten möchte. Den Leitartikel „Gewalt das Wesen des Staats“ schliessen Sie mit den Worten: „Libertas aber postuliert die Freiheit, Gerechtigkeit und das Eigentum. Daher geht ihre Forderung auf die Abschaffung des Staats“.

Ich möchte mir Ihre Vorstellung von dem Begriff „Eigentum“ erbitten. Ist es ein undefinierbares Etwas, ein ungreifbares Phantom, oder ist es ein Verhältnis, von dem man sich eine bestimmte Vorstellung machen kann? Von dem physischen „Besitz“, von dem materiellen „Haben“ muss es doch verschieden sein, denn sonst wäre ja der Dieb Eigentümer des Gestohlenen.

Bisher hielt ich immer „Eigentum“ für das Besitzverhältnis, das zwischen einer Person und einem Ding durch den Rechtsschutz entsteht. Nun ist aber Rechtsschutz prinzipiell eine Gewaltäusserung, ob er zur Verhinderung des Diebstahls und des Raubes Anwendung findet, oder selbst das Mittel der unerworbenen Aneignung wird. Er mag sich in der Form von Lynchjustiz oder Gerichtsentscheidung äussern. Im einen Fall rekrutiert sich die Staatsgewalt direkt aus dem Volke, im andern indirekt, indem sie zuerst die Form von Polizei und Militarismus annimmt. Mir ist deshalb der Begriff „Eigentum“ undenkbar, wo keine Staatsgewalt besteht. Nur ein Gewaltstaat kann der Sitz eines Rechtsschutzes sein, und der letztere ist der Schöpfer des Eigentumsverhältnisses, das durch die Abschaffung des Staats folgerichtiger Weise unmöglich wird.

EGOSIT.

Meiner Auffassung zufolge besteht das Eigentum aus den Werten, welche durch die physischen und geistigen Einwirkungen (Arbeit) des Individuums auf das ausser ihm Liegende entstehen. Nur was ich mit Aufbietung meiner Zeit und Arbeitskraft erzeuge, ist mein, mein Eigentum, und ich brauche nicht erst auf einen von einer Staatsgewalt eingesetzten Rechtsschutz zu warten, um mir ein Besitzverhältnis zwischen mir und einem so erzeugten Dinge vorzustellen. Ein Besitzverhältnis aber, das sich ausschliesslich durch den Rechtsschutz bestimmen lässt, ist ein willkürliches, ist nicht Eigentum, sondern Fremdtum. In diese Kategorie gehören Kapitalzins, Bodenrente und Profit, – vom einfachen, ungeschminkten Diebstahl nur durch den Rechtsschutz, der sie straflos hält, zu unterscheiden. Ein solcher Rechtsschutz, welcher die der heutigen Auffassung des Eigentums zugrunde liegenden Besitzverhältnisse anerkennt, ist, wie „Egoist“ behauptet, gleichbedeutend mit Staatsgewalt, und weil er es ist, weil er kein Rechts-, sondern ein Unrechtsschutz ist, behaupte ich, dass nicht der Staat das Eigentum erst möglich macht, sondern dass er es verneint. Um also das Eigentum im anarchistischen Sinne herzustellen, verlange ich die Abschaffung des Staats. Das Eigentum in meinem Sinne ist auf der Arbeit begründet. Wird dieses Eigentum je des Schutzes bedürfen, was ich nicht bestreite, so werden die dabei interessierten Individuen sich schon zu helfen wissen. Ich kann nicht einsehen, was sie daran verhindern sollte, sich zur Schaffung dieses Schutzes zu organisieren. Eine solche freiwillige Organisation zum Schutze des auf der Arbeit basierten Eigentums wäre aber kein Staat in dem Sinne, in welchem ich gemeinschaftlich mit allen Anarchisten das Wort gebrauche. Auch würde sich eine solche Organisation wesentlich vom historischen Staat unterscheiden.

G.S.

(Libertas 3, Samstag, 21. April 1888, S. 1.)

Spontaneität erhabener als Pflichtgefühl.

[George Eliot.]

In dem Grade, in welchem die Moral Gemütssache ist, d. h. in Verwandtschaft mit der Kunst steht, wird sie sich in Mitgefühl und Handlung unmittelbar äussern, und nicht als Beobachtung einer Regel. Die Liebe sagt nicht, „Ich sollte lieben“; sie liebt. Das Mitleid sagt nicht, „Es ist recht, mitleidsvoll zu sein“; es bemitleidet. Die Gerechtigkeit sagt nicht, „Ich bin verpflichtet, gerecht zu sein“; sie ist gerecht. Nur da, wo das moralische Gefühl verhältnismässig schwach ist, läuft der Gedanke an eine Regel oder Theorie bei der Handlung mit unter, und in Übereinstimmung damit glauben wir, dass die Erfahrung, in der Literatur wie im Leben, gelehrt hat, dass vorwiegend didaktische Intelligenzen, die auf einer „Moral“ bestehen und Alles verwerfen, was nicht eine „Moral“ vermittelt, nicht mit dem vollen Masse natürlichen Mitgefühls ausgestattet sind.

(Libertas 2, Samstag, 7. April 1888, S. 7.)

Anmerkungen

George Eliot war das Pseudonym der englischen Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin Mary Ann Evans (1819–1880).

So Etwas wie genug.

[Brick Pomeroy.]

Zuviel ist stets verhängnisvoller als gar nichts, indem Zuviel einen Widerwillen gegen die Sache selbst erzeugt, wie auch eine Abstumpfung des Eifers für etwas anderes.

Einer der Flüche dieses Landes ist die Zuvielregiererei. Der Mann, der sich um seine eigenen Sachen bekümmert und indem er dies tut, dasselbe Recht auch Andern zuerkennt, hat mehr Freunde, mehr Komfort, mehr Erfolg und mehr Glück, als derjenige, der fortwährend übersprudelt.

Topfguckerei ist unverzeihlich bei Individuen und unerträglich und verderblich bei der Gesetzmacherei für die Masse. Freiheit und ähnliche Wörter findet man in den Wörterbüchern, aber jedes Jahr verzeichnet eine Schmälerung des ursprünglichen Artikels. Wie ein Mann sein Pferd umgürtet und das Band immer fester schnürt, bis es zerreisst oder das Pferd krepiert, so verleugnet das Volk dieses Landes mittels der Kette der Gesetzgebung die Freiheit und öffnet den Weg für die Wolken von Übelständen, welche den überzähligen Gesetzen entsteigen.

Hierzulande ist es bereits der Fall, dass wenn ein Mensch selbst nicht seine Ideen in das Leben eines Nachbarn hineinzwängen kann, er sich auf die Herstellung eines legislativen Zwingers wirft, welcher das Opfer binden soll und dann mit Hilfe Derer, die sich für einen Anteil abbalgen oder für Lohn arbeiten, das Verhasste hineinpumpt oder die Milch herausholt.

Willst du eine Vorrichtung, um die Freiheit deines Nachbarn zu verkürzen, gehe zur Gesetzgebung und lasse sie herstellen, d. h. falls noch nichts Derartiges vorrätig ist. Es gibt einzelne Stellen auf der Haut, die noch nicht mit irgendeinem legislativen Pflaster bedeckt sind. Nur wenige Atmungsporen sind noch offen. Ein paar Stellen, wo die Magenpumpe der Besteuerung noch nicht angesetzt worden ist zum Vorteil der Ansetzer, aber diese Flecken oder Stellen werden rasch immer weniger infolge der Wirksamkeit des legislativen Ätzers und Schröpfers.

Hier sind ein paar Dinge, die einst vom Menschen verrichtet werden konnten, aber welche jetzt vom Gesetz getan werden müssen, oder doch nach der Schnur.

Ein Kind darf nicht empfangen werden, bis ein Pfaff oder ein Richter seine Sporteln erhalten und die Erlaubnis dazu erteilt hat.

Die Mutter des Kindes darf nicht von einer Hebamme oder einem Arzt verpflegt werden, die nicht von der Legislatur dazu auserlesen sind.

Sie darf keine Medizin einnehmen, die nicht von der Legislatur verschrieben ist, noch darf sie ihre Füsse oder ihren Kopf oder ihren Körper von irgendeiner Person reiben lassen, ausser der Staat hat derselben eine Eselshaut oder ein Diplom verkauft.

Das Kind darf keine Schule besuchen oder andere Bücher benutzen als die, die vom Gesetz vorgeschrieben sind.

Die Sorge für das Kind obliegt ursprünglich den Eltern oder Vormündern, aber die Gesetzgebung mischt sich ein und sagt, wo das Kind hingehen darf und wo nicht und welche Vergnügungen es haben darf, und all dies ohne Rücksicht auf die Rechte der Eltern, ihre Kinder zu kontrollieren, bis sie die Äquatoriallinie überschreiten und auf eigene Faust wirtschaften.

Wie er älter wird, macht er die Erfahrung, dass er ein Mädchen nicht küssen darf, ausser in Übereinstimmung mit dem Gesetz. Dass er einen Zahn nicht ziehen oder füllen lassen darf, ausser durch die Gesetzgebung. Kann kein Brot essen, das nicht von der Gesetzgebung gemacht ist. Kann keine Butter, Brühe, keinen Sirup, keine Haarpomade oder Wagenschmiere auf sein Brot streichen, ohne die Gesetzgebung. Dass er kein Vieh eignen kann, ohne dasselbe mit einem legislativen Zeichen zu versehen. Dass er weder Billard noch Karten spielen, weder Tabak gebrauchen noch Bier trinken oder am Sonntag arbeiten darf ohne Erlaubnis der Legislatur.

Zum Manne gereift erfährt er, dass er nicht einen Augenblick vor dem Haus eines anderen Mannes stehen, eine Fahrt hinter seinem Schnelltraber geniessen, am Kampfe kriegerischer Hähne im Stallhof sich ergötzen, in seinem Geschäftsplatz ein- und ausgehen, für Jackson oder Blaine Hurrarufen oder einen Baumstamm den Fluss hinunter zur Sägemühle flössen kann ohne die Gesetzgebung oder irgendeine rote Verbrämung, für die er dem Gebührenhäscher einen mehr oder minder hohen Tribut entrichten muss. Dass er nicht als Arzt praktizieren, ein Kunstwerk verkaufen, ein Buch an den Mann bringen, eine Anzeige in eine Zeitung einrücken, ein Ticket bei einem Kirchenbazar kaufen, auf das Gewicht eines Schweins oder die Zahl der Bohnen in einem Sack raten, Weizen mahlen oder mahlen lassen, den Hund töten, der seine Schafe zerreisst, auf der Eisenbahn ein- und aussteigen, eine Trinkfontäne herrichten oder seine Toten begraben kann ohne die Gesetzgebung. Dass er hinsichtlich eines öffentlichen Liebes seine Meinung nicht äussern, einen Bericht über eine Lotterie nicht veröffentlichen oder an einem genossenschaftlichen Unternehmen sich nicht beteiligen kann, ohne die Gesetzgebung.

Dass er mit seinem Schatz nicht Schlittschuhlaufen, von seiner Frau, die mit einem anderen Mann durchgegangen ist, nicht frei sein, nicht ein Haus für die Bewirtung von Reisenden halten, eine Brücke über einen Bach oder Fluss bauen, eine Strasse anlegen, einen Schuldschein berichtigen, einen Diener anstellen oder das Gut eines verstorbenen Freundes oder Verwandten in Ordnung bringen kann ohne die Gesetzgebung.

Dass die Gesetzgebung es ihm untersagt hat, ein in einem anderen Lande gedrucktes Buch zu lesen, einen Rock zu tragen, eine Kaffeemühle zu gebrauchen, Pillen einzunehmen, ein Hühneraugenpflaster anzuwenden, auf einer Mundharmonika zu spielen, eine Glocke zu läuten, eine Nadel einzufädeln, Juwelen zu tragen oder irgendeinen Artikel zu benutzen (ausgenommen Proletarier), der in einem anderen Lande gemacht ist ohne die Gesetzgebung. Dass er seine Geschäftskarte nicht an der Aussenseite eines Kuverts oder Umschlags anbringen, eine Schuld bezahlen, Geld auf einer Bank deponieren, eine in seinem eigenen Geschäft einlösbare Anweisung ausgeben, seine eigenen gedruckten Scheine zirkulieren, ein ausgeschnittenes Hemd tragen, sich mit Frauenkleidern antun oder sich auf die öffentliche Strasse begeben kann ohne die Anleitung der Gesetzgebung. Dass ein Mensch seine Ansichten über Gott und Welt, das Gute und das Böse, Religion und Leute nicht aussprechen kann ohne die Gesetzgebung. Dass er weder auf der Erde bleiben noch in den Himmel gelangen kann ohne die Gesetzgebung. Dass er weder einen Park herrichten noch Hühner schlachten oder ein Schild über seiner Ladentür anbringen kann ohne die Gesetzgebung. Dass er keine Äpfel, Peanuts, Schuhbändel oder Bibeln auf der Strasse verkaufen kann ohne die Gesetzgebung. Dass er nicht in einen anderen Staat gehen kann, um Waren zu verkaufen, oder ein Stück Land kaufen und eignen, sein Leben versichern lassen, unterwertige Silberdollars losschlagen kann, wenn wir auch auf Gott vertrauen, ohne die Gesetzgebung.

Angesichts der Gesetzgebung und Gesetzmacherei seitens der Familienhäupter, der Kirchenhäupter, der Vereine, seitens der Mode, der Fabrikmonopole, der Gewerkschaftler, der Arbeitsritter, der Boycotter, seitens der Stadträte, der Ortsbehörden, der Countybeamten, der Staatslegislaturen, des Kongresses und des allmächtigen Gottes ist man zu dem Gedanken berechtigt, dass es nachgerade möglich ist, dass es bereits zu viel einer guten Sache gibt und dass die Freiheit, die Gewissensfreiheit und die Selbstbestimmung als beschädigte Waren zum Verkauf aufliegen, wenn sie nicht schon verhandelt sind.

Und dennoch wurden während der letztjährigen Sitzung des Kongresses und der Staatslegislaturen nahezu dreissigtausend neue Gesetze in Vorschlag gebracht, während die Nachfrage nach neuen Gesetzen für dieses Jahr jetzt schon anzeigt, dass eine Gesamtzahl von vierzigtausend neuen Gesetzen verlangt werden wird und dass tausende von neuen Gesetzen erlassen werden.

Wenn das so weitergeht, wird sich in fünfundzwanzig Jahren die Zahl der Gerichte in diesem Lande auf das Dreifache der heutigen Zahl belaufen, und zwischen Wucherei und Rechtsstreiterei, wie zwischen zwei eingeladenen Dieben, wird der ehrlich sein wollende Mensch so hoffnungslos gekreuzigt werden wie Jesus.

(Libertas 2, Samstag, 7. April 1888, S. 7.)

Anmerkungen

Marcus Mills „Brick“ Pomeroy (1833–1896) war ein amerikanischer Journalist und Herausgeber verschiedener Zeitungen, u. a. des „Pomeroy’s Democrat“. Pomeroy war bekannt dafür, auch afroamerikanische Journalisten in führenden Positionen zu beschäftigen. In seinen späteren Jahren war er in der „Greenback Party“ und später in der „People’s Party/Union Labor Party of Wisconsin“ führend tätig.

Auf festem Grund und Boden.

Ein alter Radikaler vom Schlage Karl Heinzens und ehemaliger Leser meiner „Radical Review“ schrieb mir kürzlich, er wolle auch ein Leser von Libertas werden, obgleich ihm das neue Blatt „keine richtige oder naturgemässe Fortsetzung des alten zu sein“ scheine. „Es ist da eine unvermittelte Lücke“, meint er, „ein Sprung, nicht vorwärts, sondern in die Luft.“

Das ist nun eine Beschuldigung, die mein Korrespondent nicht aufrechterhalten kann. Zwischen meinem früheren und meinem heutigen Standpunkt existiert weder eine unvermittelte Lücke, noch habe ich einen Sprung „in die Luft“ getan. Dass er diese Beschuldigung erheben konnte, liefert mir einen Beweis für seine geistige Konfusion. Wenn ich nicht genau mehr auf demselben Punkt stehe, den ich vor ein paar Jahren einnahm, so kann ich das damit erklären, dass ich seit jener Zeit infolge tieferer Einsicht in das Wesen des sozialen Problems in gerader Linie vorwärtsgeschritten bin. Von einem „Sprung in die Luft“ oder einer „unvermittelten Lücke“ kann da nicht die Rede sein.

Wenn mein Korrespondent ein fleissiger und aufmerksamer Leser der „Radical Review“ war, wird er sich erinnern, dass ich in derselben stets konsequent der echt demokratischen Ansicht gehuldigt habe, dass diejenige Regierung die beste sei, die am wenigsten regiere. Ich habe instinktiv nie viel von der Regiererei gehalten. Früh schon ward es mir klar, dass, wie mächtig auch eine Regierung sei, sie doch über keine Mittel verfüge, welche dem Fortschritt der Menschheit Vorschub zu leisten vermöchten. Es leuchtete mir ein, dass die gesellschaftliche Entwicklung wesentlich ein Naturprozess sei und dass man sich für den Fortschritt ausschliesslich auf die natürlichen Agentien verlassen müsse, welche im Zustand der Freiheit immer zur Geltung gelangen. Aber obwohl ich in Bezug auf diese Punkte mit mir im Reinen war und meine Tätigkeit mit dieser Anschauung in Einklang brachte, lebte ich doch noch in Unkunde hinsichtlich des wahren Wesens des Staates. In dem Streben nach Verbesserung der Volkslage hatte ich zwar längst schon auf alle Unterstützung seitens des Staats verzichtet, aber es war mir noch nicht klar geworden, wie gerade in ihm die fortschrittsfeindlichen Mächte und Interessen ihre Verkörperung finden, und dass man ihn folglich nicht einfach ignorieren könne, was ich ja tat, sondern dass man ihn energisch bekämpfen müsse. Diese Erkenntnis ist mir erst später gekommen. Indem ich aber bei diesem Punkt anlangte, habe ich nach meinem Korrespondenten einen Sprung „in die Luft“ getan. Meinem Dafürhalten nach war es ein Schritt in gerader Linie vorwärts.

Betrachten wir die Sache ein wenig genauer. Ich habe einfach die Jefferson’sche Devise, dass diejenige Regierung die beste sei, die am wenigsten regiere, logisch bis zur Verneinung jeder Regierung ausgeführt. Und so befinde ich mich jetzt auf einem Standpunkt, der nicht sehr weit von demjenigen entfernt ist, den Karl Heinzen behauptete. Ich erwähne das, weil mein Korrespondent diesen grossen Denker nicht im Verdacht hat, je einen Sprung in die Luft getan zu haben. Karl Heinzen war aber ein Verfechter des Individualismus bis hart an die Grenze, wenn nicht über dieselbe hinaus, die auf anarchistisches Gebiet streift. Er nannte sich allerdings nicht Anarchist; vielmehr hätte er diese Bezeichnung wohl abgelehnt. Aber ich habe kaum einen andern Mann kennengelernt, in dem das anarchistische Grundprinzip von der Selbstherrlichkeit des Individuums in so hohem Masse zum Ausdruck gelangte wie in Karl Heinzen. Wenn es je einen Menschen gab, der sein eigenes Gewissen sich zum Leitstern nahm und der kein höheres Gesetz je anerkannte als das im eignen Wesen sich offenbarende, so war er es. Und in Übereinstimmung mit diesem Grundzug seines Charakters verwies er den Staat auf das allerkleinste Gebiet und forderte für die individuelle Initiative den grösstmöglichen Spielraum. Nach seiner Auffassung waren Staat und Volk nicht sich deckende Begriffe, und er hegte ein wohlbegründetes Misstrauen gegen den ersten. Er nahm Anstoss sogar an dem Wort Demokratie, weil es den Begriff der Herrschaft ausdrücke, aber wo Herrschaft sei, auch Diener sein müssen, und ein [freies?; Wort unleserlich] Volk weder die einen noch die anderen kenne. Und ihm zufolge fällt mit dem Begriff der Herrschaft auch der Begriff der Regierung. Die Privatinitiative wollte er möglichst uneingeschränkt. „Was der Einzelne oder eine Assoziation von Einzelnen tun kann, soll der Staat nicht tun.“ Dies wollte er namentlich in Bezug auf das Verkehrs- und Erwerbsleben beachtet wissen. Deshalb opponierte er heftig der Agitation im „Bunde der Radikalen“ zu Gunsten der Verstaatlichung der Eisenbahnen, Telegraphen, u. s. w. Dass unsere heutigen Eisenbahnmagnaten im Stande sind, Erpressungen zu üben und das Volk auszubeuten, dafür machte er nicht den Individualismus verantwortlich, sondern da schrieb er ganz richtig dem Staate selber zur Last. Es ist daher auch ein Irrtum seitens des „Freidenkers“, wenn er unlängst behauptete, Heinzen habe die Verstaatlichung des Verkehrswesens nicht prinzipiell, sondern aus opportunen Gründen bekämpft. Dass der Staat die Post besorgt, schien Heinzen „mehr eine traditionelle, im despotischen Interesse begründete Einrichtung als ein Bedürfnis zu sein.“

Das ist alles in vollkommener Übereinstimmung mit anarchistischen Anschauungen. Wenn Heinzen diese Anschauungsweise nicht konsequent durchgeführt hat, so verschlägt das nichts gegen den Anarchismus. Ein anderer grosser Denker, nebenbei bemerkt, und ein Zeitgenosse Heinzens, Ralph Waldo Emerson, führte diese Anschauungsweise konsequent durch und sah eine Zeit ab, in welcher der politische Staat in Wegfall kommen wird und freie Individuen seine Stelle einnehmen werden.

Und damit genug. Mit diesem Hinweis auf den Heinzen’schen Individualismus, für den ich bei meinem Korrespondenten ein grösseres Verständnis voraussetze als für den Anarchismus, obgleich richtig verstanden und konsequent durchgeführt, beide Begriffe sich decken und eigentlich kein Unterschied zwischen ihnen herrscht, hoffe ich dargetan zu haben, dass es mit der „unvermittelten Lücke“ und dem „Sprung in die Luft“ nichts ist und dass ich mich heute mehr denn je auf festem Grund und Boden befinde.

G.S.

(Libertas 2, Samstag, 7. April 1888, S. 5 und 8.)

Anmerkungen

Bei der angesprochenen „Radical Review“ handelte es sich um eine englischsprachige radikal-liberale, freidenkerische Wochenzeitung, welche 1883–1884 in Chigago erschien und ebenfalls von George Schumm und Emma Heller Schumm herausgegeben wurde. Beide wurden in den USA geboren, doch sie bewegten sich lange in einem deutschstämmigen „48er“-Milieu. Dieses bestand aus geflüchteten Radikalen aus dem Gebiet des Deutschen Bundes. Einer dieser 48er war auch der Schriftsteller und Publizist Karl Heinzen (1809–1880), ein Unterstützer der badischen Revolution. Er gründete in den USA u. a. den im Text erwähnten „Bund der Radikalen“ (Marek Czaja (2006): Die USA und ihr Aufstieg zur Weltmacht um die Jahrhundertwende: Die Amerikaperzeption der Parteien im Kaiserreich, Historische Forschungen Band 82, Berlin: Duncker & Humblot, S. 75.).

Eintrag Radical Review Eintrag der Radical Review in: N. W. Ayer & Son’s American Newspaper Annual: containing a Catalogue of American Newspapers, a List of All Newspapers of the United States and Canada, 1884, Volume 2, S. 978. (Quelle: UNT Digital Library)

Den Zweiflern.

Die grossäugige Verwunderung, womit sogar liberale und rechtlich gesinnte Leute ein Exemplar eines anarchistischen Blattes lesen und ihre erste Bekanntschaft mit anarchistischen Doktrinen machen, wäre amüsant, wenn sie nicht so betrübend wäre. Sie sind wie gelähmt. „Was ist das mit diesem Anarchismus?“, sagen sie; „was ist damit gemeint? Keine Gesetze, keine Regierung? Das kann niemals sein. O, es ist lauter Unsinn.“ Sie stolpern und tappen um die Prinzipien von Freiheit und Gerechtigkeit herum und sagen, diese Prinzipien seien ganz gut für das Millennium, aber wir seien noch nicht dort angelangt. Es fällt ihnen niemals ein, dass, um zu einer idealen Zeit zu gelangen oder in der Richtung derselben fortzuschreiten, die Hilfe eben jener Prinzipien nötig ist, die jene Zeit ideal machen werden.

Ein Brief eines dieser Leute liegt vor mir. Der Schreiber desselben ist ein Mann von ungewöhnlicher Liberalität und geistiger Empfänglichkeit, voll grossen Verständnisses für natürliche Gerechtigkeit, voll des Enthusiasmus für die Menschheit, voll tiefer Sympathie für die Enterbten der Erde – kurz, ein Mann von dem Schlage der Anarchisten und etwaigen Märtyrer. Und dennoch, nachdem er ein oder zwei Exemplare von „Liberty“ gelesen hat, schreibt er: „Liberty verwirrt mich. Ich weiss nicht, was Anarchie ist. Wenn sie die Abwesenheit von Gesetz und Ordnung bedeutet – wie ich zu entnehmen glaube – und mehr als der Ausdruck einer Richtung ist, so kann ich nicht sagen, dass sie mir zusagt. … In der Tat, der Anarchist ist nur ein verschrobener Mensch – geistig krank – seine Krankheit ein Symptom eines bedenklichen sozialen Siechtums.“

Ich darf wohl sagen, dass die Mehrheit derjenigen, die sich Anarchisten nennen, ein ganz ähnliches Stadium durchgemacht haben wie der Schreiber dieses Briefes. Und insofern wir zur Klarheit durchgedrungen sind, ist aller Grund vorhanden, mit Vertrauen in die Zukunft auch dieser Zweifler zu blicken. Könnte es ihnen nur zum Verständnis gebracht werden, dass Anarchie keinen plötzlichen Umsturz der bestehenden Ordnung der Dinge bedeutet, keine erzwungene Einsetzung des Chaos an Stelle der Ungerechtigkeit, kein Wirbelwind tollen Durcheinanders; wollten sie nur lange genug zuhören, um auszufinden, dass Anarchie die langsame Entwicklung der Prinzipien der Freiheit und Gerechtigkeit bedeutet; das allmähliche Abfallen des „Du sollst“ und „Du sollst nicht“ der Gesetze und Verfassungen in dem Grade, wie die Menschen lernen, dass es besser ist, durch vernünftige, intelligente Überzeugungen von innen heraus regiert zu werden, als durch Zwang von aussen; die allmähliche Ausgleichung des Wohlstandes durch die Substitution eines Gesetzes, das sich der Gerechtigkeit nähert, für eines, das ungerecht ist, und dann die Abschaffung sogar dieses Gesetzes, nachdem die Augen der Menschen sich an das Licht gewöhnt haben – gerade wie man die Binden langsam, eine nach der andern, vom Auge eines Mannes nehmen würde, dem der Star operiert wurde; die beharrliche Heranbildung der Menschen zu den Ideen natürlicher Gerechtigkeit und Freiheit, zur Achtung individueller Rechte und zu der Überzeugung, dass, wenn sie diesen Prinzipien vollen Spielraum lassen, sie sich besser selbst regieren, als sie sich durch die Dikta einer Schar Leute auf dem Stadthaus regieren lassen können; das allmähliche Verschwinden von Neunzehnteln der Beweggründe zu Verbrechen durch dieselbe Ausgleichung des Wohlstandes, welche auf der einen Seite die Versuchungen des Müssiggangs und des übermässigen Reichtums und auf der andern den Zwang mühseliger Armut und erniedrigender Verhältnisse entfernen wird: – wenn diese Zweifler nur lange genug verweilen wollten, um all dies zu lernen, würden sie nicht so oft ihr eigenes Denkvermögen beschimpfen, indem sie das für unsinnig und chimärisch erklären, über dessen nächstliegende Zwecke und Ziele sie noch in Unwissenheit sind.

Diesen Leuten kann es nicht oft genug gesagt werden, dass der Anarchismus nicht seine eigene Sache strangulieren will, indem er auf der augenblicklichen Annahme seiner höchsten Entwicklung besteht. Alles, was er will, alles, was seine Vertreter erwarten, ist die langsame Entwicklung, die allmähliche Anerkennung seiner Prinzipien in derselben langsamen und ungeschickten Weise, in der die Welt alle ihre Fortschritte gemacht hat. Doch er glaubt, dass die allmähliche Anerkennung – hier ein wenig, dort ein wenig, nächstes Jahr ein wenig mehr – dieser Prinzipien, welche selbst von den Zweiflern und Verneinern als die Prinzipien anerkannt werden, die das Millennium beherrschen sollten, die einzige Bahn des Fortschrittes, der einzige Weg, auf dem das Millennium erreicht werden kann, ist. Und der Anarchismus verlangt im Namen des verfolgten Galileo, des verhöhnten Columbus, des gekreuzigten Christus und der ganzen langen Reihe der Männer, die ihre Arme ausstreckten, um der Welt in ihrem Fortschritt zu helfen und Schläge, Verfolgung und Tod zum Lohne erhalten haben – im Namen dieser verlangt der Anarchismus von den unbefangen und gerecht denkenden Menschen, dass sie in freimütiger Sympathie ihren Geist offen erhalten für das, was er zu sagen hat. Hört, fragt, überlegt. Nachdem ihr ihn wohl in Erwägung gezogen habt, verwirft ihn, wenn euch das Recht dünkt. Doch im Namen aller Märtyrer des langsamen Fortschritts der Welt, schiebt ihn nicht als „Unsinn“ beiseite und nennt nicht den Anarchisten einen „verschrobenen Menschen, geistig krank, seine Krankheit ein Symptom eines bedenklichen sozialen Siechtums“, bis ihr gründlich versteht, was er will und wie er es zu erreichen gedenkt.

F.F.K.

(Libertas 2, Samstag, 7. April 1888, S. 5.)

„Freiheits“-Urteil in Bezug auf Libertas

Wir sind es Herrn Most schuldig, darauf hinzuweisen, dass er in seiner Zeitung „Freiheit“ das Erscheinen von Libertas in einem durchaus gerechten und von Liberalität zeugenden Geiste begrüsste, während er es zu gleicher Zeit nicht beanstandete, diejenigen ihrer Züge hervorzuheben, denen er seinen Beifall vorenthalten muss. Neben den reichlichen Auszügen, die er aus der ersten Nummer mit gebührender Quellenangabe abdruckt, widmet er nahezu anderthalb Spalten einer kritischen Betrachtung ihrer Vorzüge und Schwächen, die in ihrem Lobe herzlich und in ihrem Tadel freimütig ist. Abgesehen von dem Gebrauch des Wortes „heuchlerisch“ in einem seiner Sätze, ist sein Artikel frei von jenen Schmähungen, zu deren Zielscheibe er mich ehedem machte. Mit diesem meinem Danke für sein Lob wie seinen Tadel als Einleitung will ich letzteren nun in demselben Geist, in dem er dargebracht wurde, kurz prüfen.

Herrn Mosts Ansicht über Libertas kann so zusammengefasst werden, dass ihre Opposition gegen den Staat durchaus richtig, ihre Anwaltschaft des Privateigentums aber durchaus hinfällig ist. Ob Libertas für das Privateigentum einsteht, hängt ganz von der Definition dieser Bezeichnung ab. Definieren wir das Privateigentum mit Proudhon als die Summe der gesetzlichen Privilegien, welche den Inhabern des Reichtums gewährt sind, dann stimmt Libertas mit Proudhon darin überein, dass Eigentum Diebstahl ist. Gebrauchen wir aber das Wort in seiner gewöhnlichen Bedeutung als Bezeichnung für den individuellen Besitz, sei es Erwerb seitens des Arbeiters oder seines angemessenen Anteils an dem gemeinschaftlichen Erwerb mit Anderen, so ist das Eigentum nach Libertas gleichbedeutend mit Freiheit. Und wo immer Proudhon das Wort zeitweilig in dem letzteren Sinne gebraucht, rechtfertigt auch er das Eigentum. Aber es ist genau in diesem Sinne des individuellen Besitzes als Gegensatz zum kommunistischen Besitz, dass Herr Most das Eigentum verwirft. Mithin, wenn er (wie er es häufig tut) als Motto Proudhons Phrase abdruckt: „Eigentum ist Diebstahl“, so missdeutet er in Wirklichkeit diesen Autoren, indem er seine Worte in einem Sinne gebraucht, welcher dem ihnen vom Verfasser selbst beigelegten diametral entgegengesetzt ist. Wenn das Eigentum im Sinne des individuellen Besitzes Freiheit ist, dann muss derjenige, der das Eigentum verwirft, notwendigerweise die Autorität – d. h. den Staat – in der einen oder andern Form auf den Schild erheben, und derjenige, der Staat und Eigentum zugleich verneint, setzt sich dadurch dem Vorwurf der Inkonsequenz aus und kann beschuldigt werden, das Unmögliche anzustreben. Doch an einer anderen Stelle gelangt Herr Schumm auf einem anderen Wege zu demselben Punkt, und ich will nicht länger darauf verweilen.

Das Hauptargument, das Herr Most gegen Libertas anführt, ist, dass sie die Notwendigkeit des Grossbetriebs gegenwärtig und in Zukunft ignoriere, eine Notwendigkeit, welche nach Herrn Most die Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital bedingt, wo immer das Privateigentum besteht. Diese Behauptung ist grundlos. Libertas verneint oder ignoriert die Notwendigkeit des Grossbetriebs nicht einen Augenblick. Sie stellt jedoch die Behauptung, dass dieser Betrieb stets eine grosse Konzentration von Kapital bedinge, ernstlich infrage und verneint es nachdrücklichst, dass er notwendigerweise die Ausbeutung der Arbeit mit sich führe, ausser das Privateigentum werde abgeschafft. Die Hauptstärke des Arguments für den Staatssozialismus und Kommunismus lag stets in der bis vor kurzem unangetasteten Behauptung, dass die permanente Tendenz des Fortschritts hinsichtlich der Produktion und Distribution des Reichtums in der Richtung mehr und mehr komplizierter und kostspieliger Methoden liege, welche eine stets grössere und grössere Konzentration von Kapital und Arbeit erfordern. Doch in den Köpfen fängt die Idee an zu dämmern; es gibt Männer der Wissenschaft, die es sogar durch Tatsachen beweisen zu können vorgeben, dass die angedeutete Tendenz nur eine Phase des Fortschritts ist, und zwar eine, welche nicht von Dauer sein wird. Es wird im Gegenteil einem Umschwung vertrauensvoll entgegengesehen. Man erwartet, dass die Betriebsmethoden billiger, kompakter und leichter zu handhaben gemacht werden, bis sie wieder den Einzelnen sowie kleinen Kombinationen zugänglich geworden sind. Einen solchen Umschwung haben wir bereits in der Richtung erfahren, welche die Verbesserungen im Gebiet der Zerstörungsinstrumente und -Materialien genommen haben. Militärischer Fortschritt lag eine lange Zeit in der Richtung des Komplizierten, ungeheure Armeen und unermessliche Auslagen erfordernd. Doch die Tendenz der jüngsten Entdeckungen und Erfindungen geht dahin, die Individuen auf gleichen Fuss mit Armeen zu stellen, indem sie denselben Mächte an die Hand geben, denen keinerlei Truppenanhäufung widerstehen kann. Glaubt man doch bereits, dass Lieutenant Zalinski mit seinem Dynamitgewehr irgendeinen Hafen gegen die ganze englische Flotte verteidigen könnte. Das Verdrängen des Dampfes durch die Elektrizität, und andere Fortschritte, wovon wir nichts wissen, machen es mehr als wahrscheinlich, dass das konstruktive Vermögen des Individuums mit dem destruktiven gleichen Schritt halten werde. Was wird in diesem Falle aus dem Staatssozialismus und Kommunismus? Es ziemt den Anhängern dieser Systeme, von der Richtigkeit dieser Hauptprämisse aller ihrer Argumente nicht so felsenfest überzeugt zu sein wie bisher.

Doch Herr Most mag einwenden, dass in diesem Raisonnement das Moment der Spekulation und Ungewissheit zu gross sei, um irgendeine Berücksichtigung desselben zu rechtfertigen. Gut denn, mag es gelten, was es wert ist; mein eigenes Vertrauen in dasselbe einfach wiederholend, werde ich mich sofort an die Erörterung der Frage machen, ob eine grosse Konzentration von Kapital zwecks Grossbetriebs uns der unangenehmen Alternative gegenüberstellt, entweder das Privateigentum abzuschaffen oder mit der Unterjochung der Arbeit unter das Kapital fortzufahren. Herr Most verspricht, dass wenn ich ihm beweisen kann, dass ein Régime des Privateigentums mit Grossbetrieb ohne Ausbeutung der Arbeit vereinbar ist, er nicht anstehen werde, sich im Sinne von Libertas überzeugt zu erklären. Dieses Versprechen enthält ein sehr bedeutungsvolles Zugeständnis. Wenn der Kommunismus, wie Herr Most gewöhnlich behauptet, der Freiheit wirklich keinen Abbruch tut und an und für sich solch eine gute und vollkommene Sache ist, warum ihn dann fallen lassen zugunsten des Privateigentums, einfach weil die Möglichkeit nachgewiesen ist, dass letzteres ohne die Ausbeutung der Arbeit bestehen kann? Sich bereitzuerklären, dies zu tun, heisst offenbar das Zugeständnis machen, dass, abgesehen von der Ausbeutung, das Privateigentum dem Kommunismus vorzuziehen ist und dass, unter Voraussetzung der Ausbeutung, der Kommunismus nur als das kleinere Übel gewählt wird. Ich notiere dieses Zugeständnis und fahre weiter.

Gerade hier jedoch qualifiziert Herr Most sein Versprechen, indem er der Erfüllung desselben eine weitere Bedingung stellt. Ich muss die vorliegende Frage nicht einfach beweisen, ich muss sie auch ohne Hinweis auf Proudhons Banksystem beweisen. Das verwickelt das Problem. Zeige mir, dass A gleich B ist, sagt Herr Most, und ich werde mich an A halten; nur musst du es mir nicht zeigen, indem du dartust, dass sowohl A wie B gleich C sind. Doch vielleicht ist die Gleichheit von A und B mit C der einzige Beweis, den ich für die Gleichheit A’s mit B vorzubringen habe. Soll es mir nun nicht erlaubt sein, die Beweisführung anzutreten, einfach weil diese Form der Logik Herrn Most nicht angenehm ist? Mitnichten; es liegt an ihm, den Fehler in der Logik nachzuweisen oder aber meine Schlussfolgerung anzunehmen. Seine Bedingung, dass ich mich nicht auf Proudhons Banksystem berufen dürfe, ist mithin lächerlich, insofern dieses Banksystem, oder doch das leitende Prinzip desselben, bei der Beweisführung meines Standpunkts wesentlich in Betracht gezogen werden muss. Ich biete ihm dieses Prinzip als endgültigen Beweis; er muss mir die Hinfälligkeit desselben nachweisen oder meine Behauptung zugeben. Es kann nicht mit einer verächtlichen Handbewegung beiseite geschoben werden.

Was ist nun dieses Prinzip? Einfach die Freiheit des Kredits und die daraus hervorgehende Organisation desselben in solch einer Weise, dass das Moment der Vergütung des Kapitals aus dem Prozess der Warenproduktion und -distribution ausgeschieden wird. Herr Most wird es wohl nicht bestreiten, dass die Kreditfreiheit das Privateigentum unangetastet lässt und selbst die praktische Ausführbarkeit des Grossbetriebs vergrössert. Die einzige übrige Frage ist alsdann, ob sie den Wucher abschaffen wird; denn wenn sie den Wucher abschaffen wird, wird auch mein Standpunkt begründet sein, da Wucher nur ein anderer Name für die Ausbeutung der Arbeit ist. Die Beweisführung, dass die Kreditfreiheit die Abschaffung des Wuchers zur Folge haben wird und somit die Beweisführung, die Herr Most zu untergraben verpflichtet ist, wird er in der letzten Hälfte meiner Abhandlung über Staatssozialismus und Anarchismus in der ersten Nummer von Libertas finden. Antwortet er nicht darauf, so bleibt die Privateigentumsplanke in der Plattform von Libertas unbeschadet seiner Kritik stehen; versucht er eine Widerlegung, so werden wir sehen, was weiter darüber zu sagen ist.

Doch Herrn Mosts Kritik hat es nicht allein auf die Plattform abgesehen: mit besonderer Strenge greift er die von Libertas zu befolgende Taktik an. Hier ist es, wo er die Grenze der höflichen Kritik überschreitet und beleidigend wird, indem er die Erklärung von Libertas, dass so lange ihr das Recht der freien Rede und der freien Presse unbenommen bleibe, sie nicht zu Gewaltmitteln greifen werde in dem Kampf gegen die Unterdrückung, als heuchlerisch bezeichnet. Dass Libertas in der Einnahme dieses Standpunkts heuchlerisch ist, schliesst er daraus, dass sie jetzt die Gewalt missbilligt, obschon fünf Männer gemordet wurden, Andere im Gefängnis schmachten und noch Andere in Gefahr schweben, eingekerkert zu werden, weil sie das Recht der freien Rede ausgeübt haben. Herr Most vergisst augenscheinlich, dass in New York noch immer die „Freiheit“, in Chicago der „Alarm“ und in Boston Liberty und Libertas herausgegeben werden, und dass alle diese Zeitungen, wenn ihnen auch nicht alles zu sagen erlaubt ist, was sie gerne sagen möchten, immerhin alles sagen können, was durchaus zu sagen nötig ist, um ihr Ziel, den Triumph der Freiheit, endlich zu erreichen. Es darf nicht gefolgert werden, dass, weil Libertas dafür hält, dass es ratsam werden kann, zwecks Sicherung der freien Rede seine Zuflucht zur Gewalt zu nehmen, sie ein Blutbad sanktionieren wird, sobald die freie Rede in einem, in einem Dutzend oder in hundert Fällen erstickt worden ist. Nicht eher als bis der Knebel in allgemeine Wirksamkeit träte, würde Libertas als letztes Mittel die Gewalt anempfehlen. Und dies, weit entfernt, Heuchelei zu sein, ist der beste Beweis für die Aufrichtigkeit dieses Blattes in seiner Verwerfung der Gewalt als eine Lösung ökonomischer Übelstände. Wenn irgendwo Heuchelei ist, so ist sie auf Seite derjenigen, welche, während sie die Gewalt als eine beklagenswerte Sache zu betrachten affektieren, zu der man nur als Verteidigungsmittel greifen dürfe, nichtsdestoweniger sehnlichst auf das Begehen von Missetaten warten, in der Hoffnung, einen Vorwand zu finden, um eine in der Geschichte beispiellose Ära des Schreckens und Blutvergiessens einzuleiten.

T.

(Libertas 2, Samstag, 7. April 1888, S. 4–5.)

Gewalt das Wesen des Staats.

Die Freiheit des Menschen besteht in der uneingeschränkten harmonischen Entfaltung seines ganzen Wesens, soweit dadurch die gleiche Freiheit aller anderen Menschen keinen Eintrag erleidet, und die Gerechtigkeit besteht in der gleichen, freien und unbesteuerten Benutzung der natürlichen Hilfsquellen der Erde und des Lebens, wie sie der Mensch zur Entfaltung und Betätigung seines Wesens bedarf. Dieser Freiheit und Gerechtigkeit gingen die Völker zuerst verlustig mit der Staatenbildung. Es heisst zwar, die Kultur habe ihren Anfang mit der Staatenbildung genommen, aber das ist ein Irrtum, wenn man damit besagen will, der Staat erst habe die Kultur ermöglicht und gefördert. Ich kann mir keine wahre Kultur denken, keine wirkliche Entwicklung der wahren Menschlichkeit ohne die gewissenhafteste Respektierung der allgemeinen und gleichen Freiheit und Gerechtigkeit. Die Zivilisation, die auf der Gewalt und der Sklaverei beruht, ist keine wahre Zivilisation. Mag man noch so viel von geschichtlicher Notwendigkeit reden, die Gewalttaten des Staates lassen sich dadurch weder bemänteln noch beschönigen. Niemals kann da von wahrer Kultur die Rede sein, wo die rohe und brutale Gewalt das Zepter führt an Stelle der vernünftigen Einsicht und des freien Übereinkommens. Nein, der Staat, wie wir ihn kennen, hat die menschliche Kultur weder hervorgerufen noch gefördert. Gerade das Gegenteil. Die Kultur hat sich vielmehr zu ihrer heutigen Höhe entwickelt, trotz des Staates. Es gibt viele Leute, welche allen Ernstes das Aufblühen der Naturwissenschaften der Kirche und den Klöstern zuschreiben. Aber diese Ansicht ist nicht hinfälliger als jene, welche den Staat mit der Förderung und dem Aufschwung der menschlichen Kultur kreditiert. Beide Ansichten können die Probe der Geschichte nicht bestehen. Staat wie Kirche sind zu allen Zeiten die organisierte Rohheit und Unwissenheit, mit einem Wort, die organisierte Unkultur. Die menschliche Kultur hat sich entwickelt trotz des Staates und trotz der Kirche; die Entwicklung einer naturgemässeren und höheren Weltanschauung und Lebensführung ging wesentlich ausserhalb des Staates und der Kirche vor sich und hat in Gemässheit mit dem Gesetz der Rückwirkung auf Staat und Kirche selber veredelnd eingewirkt.

Das leuchtet ein, wenn wir den Ursprung wie das Wesen des Staates genauer ins Auge fassen. Den Forschungen der gefeiertsten Historiker und Philosophen zufolge, sagt ein Verteidiger des Staatswesens, „war es immer und überall ein Akt der Eroberung, durch den der Staat gegründet wurde. Nicht eine Okkupation eines herrenlosen Grundes und Bodens, nein! Eine Eroberung und die Unterwerfung eines bereits durch eine früher dagewesene Bevölkerung okkupierten Landes mitsamt den unterworfenen Leuten – das ist der Anfang des Staates und alles Eigentums”, – sagen wir besser mit Max Stirner, Fremdtums. Damit stimmt auch überein das Resultat, zu dem Herbert Spencer in seinen soziologischen Untersuchungen gelangte.

Wie nun nach dem Zeugnis der Historiker und Philosophen der Staat durch Eroberung und Aufbietung roher Gewalt entstand, so hat er sich auch in der Geschichte fortgepflanzt und erhalten durch Gewalt. Eroberung und vollständige Missachtung aller Ethik. Ich verweise einfach auf die Geschichte. Der Staat hat sich zwar in dem Verlangen nach einem raison d'être durch seine Advokaten mit der Behauptung sicherzustellen versucht, dass seine wesentliche Aufgabe im Schutze der bürgerlichen Freiheit und des Eigentums bestehe. Aber wie es sich damit verhält, wissen wir nur allzu gut. Den Staat möchte ich kennenlernen, der sich dieser Aufgabe je auch nur im Entferntesten gewissenhaft entledigt hätte! Man sehe, wohin man mag, man durchreise alle Länder der Welt, man durchblättre die Geschichte und versetze sich im Geiste in alle Zeiten: und wenn man den Tatsachen gemäss zu urteilen befähigt ist, wird man mir beipflichten müssen, dass wo immer der Staat die menschliche Freiheit unter seine schützenden Fittiche nahm, er sie zu Neunzehnteln mit Füssen trat, dass wo er dem Eigentum seinen Schutz angedeihen liess, er es tat, um dasselbe hundertfach wieder zu konfiszieren, – und dass sich die Gerechtigkeit noch immer vergebens auf seine Initiative verlassen hat. Der Staat, als die Verkörperung der Unkultur, ist die Verneinung der Freiheit, Gerechtigkeit und des Eigentums.

Das werden die Politiker, die vollentwickelten wie die angehenden, das werden die Staatspfaffen aller Schattierungen natürlich nicht zugeben wollen, aber das ist der Schluss genauer Beobachtung und gewissenhaften, anfänglichen Denkens.

Libertas aber postuliert die Freiheit, Gerechtigkeit und das Eigentum. Daher geht ihre Forderung auf die Abschaffung des Staats.

G.S.

(Libertas 2, Samstag, 7. April 1888, S. 4.)