Libertas

„Freiheit, nicht die Tochter, sondern die Mutter der Ordnung“ – Proudhon

Spontaneität erhabener als Pflichtgefühl.

[George Eliot.]

In dem Grade, in welchem die Moral Gemütssache ist, d. h. in Verwandtschaft mit der Kunst steht, wird sie sich in Mitgefühl und Handlung unmittelbar äussern, und nicht als Beobachtung einer Regel. Die Liebe sagt nicht, „Ich sollte lieben“; sie liebt. Das Mitleid sagt nicht, „Es ist recht, mitleidsvoll zu sein“; es bemitleidet. Die Gerechtigkeit sagt nicht, „Ich bin verpflichtet, gerecht zu sein“; sie ist gerecht. Nur da, wo das moralische Gefühl verhältnismässig schwach ist, läuft der Gedanke an eine Regel oder Theorie bei der Handlung mit unter, und in Übereinstimmung damit glauben wir, dass die Erfahrung, in der Literatur wie im Leben, gelehrt hat, dass vorwiegend didaktische Intelligenzen, die auf einer „Moral“ bestehen und Alles verwerfen, was nicht eine „Moral“ vermittelt, nicht mit dem vollen Masse natürlichen Mitgefühls ausgestattet sind.

(Libertas 2, Samstag, 7. April 1888, S. 7.)

Anmerkungen

George Eliot war das Pseudonym der englischen Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin Mary Ann Evans (1819–1880).

So Etwas wie genug.

[Brick Pomeroy.]

Zuviel ist stets verhängnisvoller als gar nichts, indem Zuviel einen Widerwillen gegen die Sache selbst erzeugt, wie auch eine Abstumpfung des Eifers für etwas anderes.

Einer der Flüche dieses Landes ist die Zuvielregiererei. Der Mann, der sich um seine eigenen Sachen bekümmert und indem er dies tut, dasselbe Recht auch Andern zuerkennt, hat mehr Freunde, mehr Komfort, mehr Erfolg und mehr Glück, als derjenige, der fortwährend übersprudelt.

Topfguckerei ist unverzeihlich bei Individuen und unerträglich und verderblich bei der Gesetzmacherei für die Masse. Freiheit und ähnliche Wörter findet man in den Wörterbüchern, aber jedes Jahr verzeichnet eine Schmälerung des ursprünglichen Artikels. Wie ein Mann sein Pferd umgürtet und das Band immer fester schnürt, bis es zerreisst oder das Pferd krepiert, so verleugnet das Volk dieses Landes mittels der Kette der Gesetzgebung die Freiheit und öffnet den Weg für die Wolken von Übelständen, welche den überzähligen Gesetzen entsteigen.

Hierzulande ist es bereits der Fall, dass wenn ein Mensch selbst nicht seine Ideen in das Leben eines Nachbarn hineinzwängen kann, er sich auf die Herstellung eines legislativen Zwingers wirft, welcher das Opfer binden soll und dann mit Hilfe Derer, die sich für einen Anteil abbalgen oder für Lohn arbeiten, das Verhasste hineinpumpt oder die Milch herausholt.

Willst du eine Vorrichtung, um die Freiheit deines Nachbarn zu verkürzen, gehe zur Gesetzgebung und lasse sie herstellen, d. h. falls noch nichts Derartiges vorrätig ist. Es gibt einzelne Stellen auf der Haut, die noch nicht mit irgendeinem legislativen Pflaster bedeckt sind. Nur wenige Atmungsporen sind noch offen. Ein paar Stellen, wo die Magenpumpe der Besteuerung noch nicht angesetzt worden ist zum Vorteil der Ansetzer, aber diese Flecken oder Stellen werden rasch immer weniger infolge der Wirksamkeit des legislativen Ätzers und Schröpfers.

Hier sind ein paar Dinge, die einst vom Menschen verrichtet werden konnten, aber welche jetzt vom Gesetz getan werden müssen, oder doch nach der Schnur.

Ein Kind darf nicht empfangen werden, bis ein Pfaff oder ein Richter seine Sporteln erhalten und die Erlaubnis dazu erteilt hat.

Die Mutter des Kindes darf nicht von einer Hebamme oder einem Arzt verpflegt werden, die nicht von der Legislatur dazu auserlesen sind.

Sie darf keine Medizin einnehmen, die nicht von der Legislatur verschrieben ist, noch darf sie ihre Füsse oder ihren Kopf oder ihren Körper von irgendeiner Person reiben lassen, ausser der Staat hat derselben eine Eselshaut oder ein Diplom verkauft.

Das Kind darf keine Schule besuchen oder andere Bücher benutzen als die, die vom Gesetz vorgeschrieben sind.

Die Sorge für das Kind obliegt ursprünglich den Eltern oder Vormündern, aber die Gesetzgebung mischt sich ein und sagt, wo das Kind hingehen darf und wo nicht und welche Vergnügungen es haben darf, und all dies ohne Rücksicht auf die Rechte der Eltern, ihre Kinder zu kontrollieren, bis sie die Äquatoriallinie überschreiten und auf eigene Faust wirtschaften.

Wie er älter wird, macht er die Erfahrung, dass er ein Mädchen nicht küssen darf, ausser in Übereinstimmung mit dem Gesetz. Dass er einen Zahn nicht ziehen oder füllen lassen darf, ausser durch die Gesetzgebung. Kann kein Brot essen, das nicht von der Gesetzgebung gemacht ist. Kann keine Butter, Brühe, keinen Sirup, keine Haarpomade oder Wagenschmiere auf sein Brot streichen, ohne die Gesetzgebung. Dass er kein Vieh eignen kann, ohne dasselbe mit einem legislativen Zeichen zu versehen. Dass er weder Billard noch Karten spielen, weder Tabak gebrauchen noch Bier trinken oder am Sonntag arbeiten darf ohne Erlaubnis der Legislatur.

Zum Manne gereift erfährt er, dass er nicht einen Augenblick vor dem Haus eines anderen Mannes stehen, eine Fahrt hinter seinem Schnelltraber geniessen, am Kampfe kriegerischer Hähne im Stallhof sich ergötzen, in seinem Geschäftsplatz ein- und ausgehen, für Jackson oder Blaine Hurrarufen oder einen Baumstamm den Fluss hinunter zur Sägemühle flössen kann ohne die Gesetzgebung oder irgendeine rote Verbrämung, für die er dem Gebührenhäscher einen mehr oder minder hohen Tribut entrichten muss. Dass er nicht als Arzt praktizieren, ein Kunstwerk verkaufen, ein Buch an den Mann bringen, eine Anzeige in eine Zeitung einrücken, ein Ticket bei einem Kirchenbazar kaufen, auf das Gewicht eines Schweins oder die Zahl der Bohnen in einem Sack raten, Weizen mahlen oder mahlen lassen, den Hund töten, der seine Schafe zerreisst, auf der Eisenbahn ein- und aussteigen, eine Trinkfontäne herrichten oder seine Toten begraben kann ohne die Gesetzgebung. Dass er hinsichtlich eines öffentlichen Liebes seine Meinung nicht äussern, einen Bericht über eine Lotterie nicht veröffentlichen oder an einem genossenschaftlichen Unternehmen sich nicht beteiligen kann, ohne die Gesetzgebung.

Dass er mit seinem Schatz nicht Schlittschuhlaufen, von seiner Frau, die mit einem anderen Mann durchgegangen ist, nicht frei sein, nicht ein Haus für die Bewirtung von Reisenden halten, eine Brücke über einen Bach oder Fluss bauen, eine Strasse anlegen, einen Schuldschein berichtigen, einen Diener anstellen oder das Gut eines verstorbenen Freundes oder Verwandten in Ordnung bringen kann ohne die Gesetzgebung.

Dass die Gesetzgebung es ihm untersagt hat, ein in einem anderen Lande gedrucktes Buch zu lesen, einen Rock zu tragen, eine Kaffeemühle zu gebrauchen, Pillen einzunehmen, ein Hühneraugenpflaster anzuwenden, auf einer Mundharmonika zu spielen, eine Glocke zu läuten, eine Nadel einzufädeln, Juwelen zu tragen oder irgendeinen Artikel zu benutzen (ausgenommen Proletarier), der in einem anderen Lande gemacht ist ohne die Gesetzgebung. Dass er seine Geschäftskarte nicht an der Aussenseite eines Kuverts oder Umschlags anbringen, eine Schuld bezahlen, Geld auf einer Bank deponieren, eine in seinem eigenen Geschäft einlösbare Anweisung ausgeben, seine eigenen gedruckten Scheine zirkulieren, ein ausgeschnittenes Hemd tragen, sich mit Frauenkleidern antun oder sich auf die öffentliche Strasse begeben kann ohne die Anleitung der Gesetzgebung. Dass ein Mensch seine Ansichten über Gott und Welt, das Gute und das Böse, Religion und Leute nicht aussprechen kann ohne die Gesetzgebung. Dass er weder auf der Erde bleiben noch in den Himmel gelangen kann ohne die Gesetzgebung. Dass er weder einen Park herrichten noch Hühner schlachten oder ein Schild über seiner Ladentür anbringen kann ohne die Gesetzgebung. Dass er keine Äpfel, Peanuts, Schuhbändel oder Bibeln auf der Strasse verkaufen kann ohne die Gesetzgebung. Dass er nicht in einen anderen Staat gehen kann, um Waren zu verkaufen, oder ein Stück Land kaufen und eignen, sein Leben versichern lassen, unterwertige Silberdollars losschlagen kann, wenn wir auch auf Gott vertrauen, ohne die Gesetzgebung.

Angesichts der Gesetzgebung und Gesetzmacherei seitens der Familienhäupter, der Kirchenhäupter, der Vereine, seitens der Mode, der Fabrikmonopole, der Gewerkschaftler, der Arbeitsritter, der Boycotter, seitens der Stadträte, der Ortsbehörden, der Countybeamten, der Staatslegislaturen, des Kongresses und des allmächtigen Gottes ist man zu dem Gedanken berechtigt, dass es nachgerade möglich ist, dass es bereits zu viel einer guten Sache gibt und dass die Freiheit, die Gewissensfreiheit und die Selbstbestimmung als beschädigte Waren zum Verkauf aufliegen, wenn sie nicht schon verhandelt sind.

Und dennoch wurden während der letztjährigen Sitzung des Kongresses und der Staatslegislaturen nahezu dreissigtausend neue Gesetze in Vorschlag gebracht, während die Nachfrage nach neuen Gesetzen für dieses Jahr jetzt schon anzeigt, dass eine Gesamtzahl von vierzigtausend neuen Gesetzen verlangt werden wird und dass tausende von neuen Gesetzen erlassen werden.

Wenn das so weitergeht, wird sich in fünfundzwanzig Jahren die Zahl der Gerichte in diesem Lande auf das Dreifache der heutigen Zahl belaufen, und zwischen Wucherei und Rechtsstreiterei, wie zwischen zwei eingeladenen Dieben, wird der ehrlich sein wollende Mensch so hoffnungslos gekreuzigt werden wie Jesus.

(Libertas 2, Samstag, 7. April 1888, S. 7.)

Anmerkungen

Marcus Mills „Brick“ Pomeroy (1833–1896) war ein amerikanischer Journalist und Herausgeber verschiedener Zeitungen, u. a. des „Pomeroy’s Democrat“. Pomeroy war bekannt dafür, auch afroamerikanische Journalisten in führenden Positionen zu beschäftigen. In seinen späteren Jahren war er in der „Greenback Party“ und später in der „People’s Party/Union Labor Party of Wisconsin“ führend tätig.

Auf festem Grund und Boden.

Ein alter Radikaler vom Schlage Karl Heinzens und ehemaliger Leser meiner „Radical Review“ schrieb mir kürzlich, er wolle auch ein Leser von Libertas werden, obgleich ihm das neue Blatt „keine richtige oder naturgemässe Fortsetzung des alten zu sein“ scheine. „Es ist da eine unvermittelte Lücke“, meint er, „ein Sprung, nicht vorwärts, sondern in die Luft.“

Das ist nun eine Beschuldigung, die mein Korrespondent nicht aufrechterhalten kann. Zwischen meinem früheren und meinem heutigen Standpunkt existiert weder eine unvermittelte Lücke, noch habe ich einen Sprung „in die Luft“ getan. Dass er diese Beschuldigung erheben konnte, liefert mir einen Beweis für seine geistige Konfusion. Wenn ich nicht genau mehr auf demselben Punkt stehe, den ich vor ein paar Jahren einnahm, so kann ich das damit erklären, dass ich seit jener Zeit infolge tieferer Einsicht in das Wesen des sozialen Problems in gerader Linie vorwärtsgeschritten bin. Von einem „Sprung in die Luft“ oder einer „unvermittelten Lücke“ kann da nicht die Rede sein.

Wenn mein Korrespondent ein fleissiger und aufmerksamer Leser der „Radical Review“ war, wird er sich erinnern, dass ich in derselben stets konsequent der echt demokratischen Ansicht gehuldigt habe, dass diejenige Regierung die beste sei, die am wenigsten regiere. Ich habe instinktiv nie viel von der Regiererei gehalten. Früh schon ward es mir klar, dass, wie mächtig auch eine Regierung sei, sie doch über keine Mittel verfüge, welche dem Fortschritt der Menschheit Vorschub zu leisten vermöchten. Es leuchtete mir ein, dass die gesellschaftliche Entwicklung wesentlich ein Naturprozess sei und dass man sich für den Fortschritt ausschliesslich auf die natürlichen Agentien verlassen müsse, welche im Zustand der Freiheit immer zur Geltung gelangen. Aber obwohl ich in Bezug auf diese Punkte mit mir im Reinen war und meine Tätigkeit mit dieser Anschauung in Einklang brachte, lebte ich doch noch in Unkunde hinsichtlich des wahren Wesens des Staates. In dem Streben nach Verbesserung der Volkslage hatte ich zwar längst schon auf alle Unterstützung seitens des Staats verzichtet, aber es war mir noch nicht klar geworden, wie gerade in ihm die fortschrittsfeindlichen Mächte und Interessen ihre Verkörperung finden, und dass man ihn folglich nicht einfach ignorieren könne, was ich ja tat, sondern dass man ihn energisch bekämpfen müsse. Diese Erkenntnis ist mir erst später gekommen. Indem ich aber bei diesem Punkt anlangte, habe ich nach meinem Korrespondenten einen Sprung „in die Luft“ getan. Meinem Dafürhalten nach war es ein Schritt in gerader Linie vorwärts.

Betrachten wir die Sache ein wenig genauer. Ich habe einfach die Jefferson’sche Devise, dass diejenige Regierung die beste sei, die am wenigsten regiere, logisch bis zur Verneinung jeder Regierung ausgeführt. Und so befinde ich mich jetzt auf einem Standpunkt, der nicht sehr weit von demjenigen entfernt ist, den Karl Heinzen behauptete. Ich erwähne das, weil mein Korrespondent diesen grossen Denker nicht im Verdacht hat, je einen Sprung in die Luft getan zu haben. Karl Heinzen war aber ein Verfechter des Individualismus bis hart an die Grenze, wenn nicht über dieselbe hinaus, die auf anarchistisches Gebiet streift. Er nannte sich allerdings nicht Anarchist; vielmehr hätte er diese Bezeichnung wohl abgelehnt. Aber ich habe kaum einen andern Mann kennengelernt, in dem das anarchistische Grundprinzip von der Selbstherrlichkeit des Individuums in so hohem Masse zum Ausdruck gelangte wie in Karl Heinzen. Wenn es je einen Menschen gab, der sein eigenes Gewissen sich zum Leitstern nahm und der kein höheres Gesetz je anerkannte als das im eignen Wesen sich offenbarende, so war er es. Und in Übereinstimmung mit diesem Grundzug seines Charakters verwies er den Staat auf das allerkleinste Gebiet und forderte für die individuelle Initiative den grösstmöglichen Spielraum. Nach seiner Auffassung waren Staat und Volk nicht sich deckende Begriffe, und er hegte ein wohlbegründetes Misstrauen gegen den ersten. Er nahm Anstoss sogar an dem Wort Demokratie, weil es den Begriff der Herrschaft ausdrücke, aber wo Herrschaft sei, auch Diener sein müssen, und ein [freies?; Wort unleserlich] Volk weder die einen noch die anderen kenne. Und ihm zufolge fällt mit dem Begriff der Herrschaft auch der Begriff der Regierung. Die Privatinitiative wollte er möglichst uneingeschränkt. „Was der Einzelne oder eine Assoziation von Einzelnen tun kann, soll der Staat nicht tun.“ Dies wollte er namentlich in Bezug auf das Verkehrs- und Erwerbsleben beachtet wissen. Deshalb opponierte er heftig der Agitation im „Bunde der Radikalen“ zu Gunsten der Verstaatlichung der Eisenbahnen, Telegraphen, u. s. w. Dass unsere heutigen Eisenbahnmagnaten im Stande sind, Erpressungen zu üben und das Volk auszubeuten, dafür machte er nicht den Individualismus verantwortlich, sondern da schrieb er ganz richtig dem Staate selber zur Last. Es ist daher auch ein Irrtum seitens des „Freidenkers“, wenn er unlängst behauptete, Heinzen habe die Verstaatlichung des Verkehrswesens nicht prinzipiell, sondern aus opportunen Gründen bekämpft. Dass der Staat die Post besorgt, schien Heinzen „mehr eine traditionelle, im despotischen Interesse begründete Einrichtung als ein Bedürfnis zu sein.“

Das ist alles in vollkommener Übereinstimmung mit anarchistischen Anschauungen. Wenn Heinzen diese Anschauungsweise nicht konsequent durchgeführt hat, so verschlägt das nichts gegen den Anarchismus. Ein anderer grosser Denker, nebenbei bemerkt, und ein Zeitgenosse Heinzens, Ralph Waldo Emerson, führte diese Anschauungsweise konsequent durch und sah eine Zeit ab, in welcher der politische Staat in Wegfall kommen wird und freie Individuen seine Stelle einnehmen werden.

Und damit genug. Mit diesem Hinweis auf den Heinzen’schen Individualismus, für den ich bei meinem Korrespondenten ein grösseres Verständnis voraussetze als für den Anarchismus, obgleich richtig verstanden und konsequent durchgeführt, beide Begriffe sich decken und eigentlich kein Unterschied zwischen ihnen herrscht, hoffe ich dargetan zu haben, dass es mit der „unvermittelten Lücke“ und dem „Sprung in die Luft“ nichts ist und dass ich mich heute mehr denn je auf festem Grund und Boden befinde.

G.S.

(Libertas 2, Samstag, 7. April 1888, S. 5 und 8.)

Anmerkungen

Bei der angesprochenen „Radical Review“ handelte es sich um eine englischsprachige radikal-liberale, freidenkerische Wochenzeitung, welche 1883–1884 in Chigago erschien und ebenfalls von George Schumm und Emma Heller Schumm herausgegeben wurde. Beide wurden in den USA geboren, doch sie bewegten sich lange in einem deutschstämmigen „48er“-Milieu. Dieses bestand aus geflüchteten Radikalen aus dem Gebiet des Deutschen Bundes. Einer dieser 48er war auch der Schriftsteller und Publizist Karl Heinzen (1809–1880), ein Unterstützer der badischen Revolution. Er gründete in den USA u. a. den im Text erwähnten „Bund der Radikalen“ (Marek Czaja (2006): Die USA und ihr Aufstieg zur Weltmacht um die Jahrhundertwende: Die Amerikaperzeption der Parteien im Kaiserreich, Historische Forschungen Band 82, Berlin: Duncker & Humblot, S. 75.).

Eintrag Radical Review Eintrag der Radical Review in: N. W. Ayer & Son’s American Newspaper Annual: containing a Catalogue of American Newspapers, a List of All Newspapers of the United States and Canada, 1884, Volume 2, S. 978. (Quelle: UNT Digital Library)

Den Zweiflern.

Die grossäugige Verwunderung, womit sogar liberale und rechtlich gesinnte Leute ein Exemplar eines anarchistischen Blattes lesen und ihre erste Bekanntschaft mit anarchistischen Doktrinen machen, wäre amüsant, wenn sie nicht so betrübend wäre. Sie sind wie gelähmt. „Was ist das mit diesem Anarchismus?“, sagen sie; „was ist damit gemeint? Keine Gesetze, keine Regierung? Das kann niemals sein. O, es ist lauter Unsinn.“ Sie stolpern und tappen um die Prinzipien von Freiheit und Gerechtigkeit herum und sagen, diese Prinzipien seien ganz gut für das Millennium, aber wir seien noch nicht dort angelangt. Es fällt ihnen niemals ein, dass, um zu einer idealen Zeit zu gelangen oder in der Richtung derselben fortzuschreiten, die Hilfe eben jener Prinzipien nötig ist, die jene Zeit ideal machen werden.

Ein Brief eines dieser Leute liegt vor mir. Der Schreiber desselben ist ein Mann von ungewöhnlicher Liberalität und geistiger Empfänglichkeit, voll grossen Verständnisses für natürliche Gerechtigkeit, voll des Enthusiasmus für die Menschheit, voll tiefer Sympathie für die Enterbten der Erde – kurz, ein Mann von dem Schlage der Anarchisten und etwaigen Märtyrer. Und dennoch, nachdem er ein oder zwei Exemplare von „Liberty“ gelesen hat, schreibt er: „Liberty verwirrt mich. Ich weiss nicht, was Anarchie ist. Wenn sie die Abwesenheit von Gesetz und Ordnung bedeutet – wie ich zu entnehmen glaube – und mehr als der Ausdruck einer Richtung ist, so kann ich nicht sagen, dass sie mir zusagt. … In der Tat, der Anarchist ist nur ein verschrobener Mensch – geistig krank – seine Krankheit ein Symptom eines bedenklichen sozialen Siechtums.“

Ich darf wohl sagen, dass die Mehrheit derjenigen, die sich Anarchisten nennen, ein ganz ähnliches Stadium durchgemacht haben wie der Schreiber dieses Briefes. Und insofern wir zur Klarheit durchgedrungen sind, ist aller Grund vorhanden, mit Vertrauen in die Zukunft auch dieser Zweifler zu blicken. Könnte es ihnen nur zum Verständnis gebracht werden, dass Anarchie keinen plötzlichen Umsturz der bestehenden Ordnung der Dinge bedeutet, keine erzwungene Einsetzung des Chaos an Stelle der Ungerechtigkeit, kein Wirbelwind tollen Durcheinanders; wollten sie nur lange genug zuhören, um auszufinden, dass Anarchie die langsame Entwicklung der Prinzipien der Freiheit und Gerechtigkeit bedeutet; das allmähliche Abfallen des „Du sollst“ und „Du sollst nicht“ der Gesetze und Verfassungen in dem Grade, wie die Menschen lernen, dass es besser ist, durch vernünftige, intelligente Überzeugungen von innen heraus regiert zu werden, als durch Zwang von aussen; die allmähliche Ausgleichung des Wohlstandes durch die Substitution eines Gesetzes, das sich der Gerechtigkeit nähert, für eines, das ungerecht ist, und dann die Abschaffung sogar dieses Gesetzes, nachdem die Augen der Menschen sich an das Licht gewöhnt haben – gerade wie man die Binden langsam, eine nach der andern, vom Auge eines Mannes nehmen würde, dem der Star operiert wurde; die beharrliche Heranbildung der Menschen zu den Ideen natürlicher Gerechtigkeit und Freiheit, zur Achtung individueller Rechte und zu der Überzeugung, dass, wenn sie diesen Prinzipien vollen Spielraum lassen, sie sich besser selbst regieren, als sie sich durch die Dikta einer Schar Leute auf dem Stadthaus regieren lassen können; das allmähliche Verschwinden von Neunzehnteln der Beweggründe zu Verbrechen durch dieselbe Ausgleichung des Wohlstandes, welche auf der einen Seite die Versuchungen des Müssiggangs und des übermässigen Reichtums und auf der andern den Zwang mühseliger Armut und erniedrigender Verhältnisse entfernen wird: – wenn diese Zweifler nur lange genug verweilen wollten, um all dies zu lernen, würden sie nicht so oft ihr eigenes Denkvermögen beschimpfen, indem sie das für unsinnig und chimärisch erklären, über dessen nächstliegende Zwecke und Ziele sie noch in Unwissenheit sind.

Diesen Leuten kann es nicht oft genug gesagt werden, dass der Anarchismus nicht seine eigene Sache strangulieren will, indem er auf der augenblicklichen Annahme seiner höchsten Entwicklung besteht. Alles, was er will, alles, was seine Vertreter erwarten, ist die langsame Entwicklung, die allmähliche Anerkennung seiner Prinzipien in derselben langsamen und ungeschickten Weise, in der die Welt alle ihre Fortschritte gemacht hat. Doch er glaubt, dass die allmähliche Anerkennung – hier ein wenig, dort ein wenig, nächstes Jahr ein wenig mehr – dieser Prinzipien, welche selbst von den Zweiflern und Verneinern als die Prinzipien anerkannt werden, die das Millennium beherrschen sollten, die einzige Bahn des Fortschrittes, der einzige Weg, auf dem das Millennium erreicht werden kann, ist. Und der Anarchismus verlangt im Namen des verfolgten Galileo, des verhöhnten Columbus, des gekreuzigten Christus und der ganzen langen Reihe der Männer, die ihre Arme ausstreckten, um der Welt in ihrem Fortschritt zu helfen und Schläge, Verfolgung und Tod zum Lohne erhalten haben – im Namen dieser verlangt der Anarchismus von den unbefangen und gerecht denkenden Menschen, dass sie in freimütiger Sympathie ihren Geist offen erhalten für das, was er zu sagen hat. Hört, fragt, überlegt. Nachdem ihr ihn wohl in Erwägung gezogen habt, verwirft ihn, wenn euch das Recht dünkt. Doch im Namen aller Märtyrer des langsamen Fortschritts der Welt, schiebt ihn nicht als „Unsinn“ beiseite und nennt nicht den Anarchisten einen „verschrobenen Menschen, geistig krank, seine Krankheit ein Symptom eines bedenklichen sozialen Siechtums“, bis ihr gründlich versteht, was er will und wie er es zu erreichen gedenkt.

F.F.K.

(Libertas 2, Samstag, 7. April 1888, S. 5.)

„Freiheits“-Urteil in Bezug auf Libertas

Wir sind es Herrn Most schuldig, darauf hinzuweisen, dass er in seiner Zeitung „Freiheit“ das Erscheinen von Libertas in einem durchaus gerechten und von Liberalität zeugenden Geiste begrüsste, während er es zu gleicher Zeit nicht beanstandete, diejenigen ihrer Züge hervorzuheben, denen er seinen Beifall vorenthalten muss. Neben den reichlichen Auszügen, die er aus der ersten Nummer mit gebührender Quellenangabe abdruckt, widmet er nahezu anderthalb Spalten einer kritischen Betrachtung ihrer Vorzüge und Schwächen, die in ihrem Lobe herzlich und in ihrem Tadel freimütig ist. Abgesehen von dem Gebrauch des Wortes „heuchlerisch“ in einem seiner Sätze, ist sein Artikel frei von jenen Schmähungen, zu deren Zielscheibe er mich ehedem machte. Mit diesem meinem Danke für sein Lob wie seinen Tadel als Einleitung will ich letzteren nun in demselben Geist, in dem er dargebracht wurde, kurz prüfen.

Herrn Mosts Ansicht über Libertas kann so zusammengefasst werden, dass ihre Opposition gegen den Staat durchaus richtig, ihre Anwaltschaft des Privateigentums aber durchaus hinfällig ist. Ob Libertas für das Privateigentum einsteht, hängt ganz von der Definition dieser Bezeichnung ab. Definieren wir das Privateigentum mit Proudhon als die Summe der gesetzlichen Privilegien, welche den Inhabern des Reichtums gewährt sind, dann stimmt Libertas mit Proudhon darin überein, dass Eigentum Diebstahl ist. Gebrauchen wir aber das Wort in seiner gewöhnlichen Bedeutung als Bezeichnung für den individuellen Besitz, sei es Erwerb seitens des Arbeiters oder seines angemessenen Anteils an dem gemeinschaftlichen Erwerb mit Anderen, so ist das Eigentum nach Libertas gleichbedeutend mit Freiheit. Und wo immer Proudhon das Wort zeitweilig in dem letzteren Sinne gebraucht, rechtfertigt auch er das Eigentum. Aber es ist genau in diesem Sinne des individuellen Besitzes als Gegensatz zum kommunistischen Besitz, dass Herr Most das Eigentum verwirft. Mithin, wenn er (wie er es häufig tut) als Motto Proudhons Phrase abdruckt: „Eigentum ist Diebstahl“, so missdeutet er in Wirklichkeit diesen Autoren, indem er seine Worte in einem Sinne gebraucht, welcher dem ihnen vom Verfasser selbst beigelegten diametral entgegengesetzt ist. Wenn das Eigentum im Sinne des individuellen Besitzes Freiheit ist, dann muss derjenige, der das Eigentum verwirft, notwendigerweise die Autorität – d. h. den Staat – in der einen oder andern Form auf den Schild erheben, und derjenige, der Staat und Eigentum zugleich verneint, setzt sich dadurch dem Vorwurf der Inkonsequenz aus und kann beschuldigt werden, das Unmögliche anzustreben. Doch an einer anderen Stelle gelangt Herr Schumm auf einem anderen Wege zu demselben Punkt, und ich will nicht länger darauf verweilen.

Das Hauptargument, das Herr Most gegen Libertas anführt, ist, dass sie die Notwendigkeit des Grossbetriebs gegenwärtig und in Zukunft ignoriere, eine Notwendigkeit, welche nach Herrn Most die Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital bedingt, wo immer das Privateigentum besteht. Diese Behauptung ist grundlos. Libertas verneint oder ignoriert die Notwendigkeit des Grossbetriebs nicht einen Augenblick. Sie stellt jedoch die Behauptung, dass dieser Betrieb stets eine grosse Konzentration von Kapital bedinge, ernstlich infrage und verneint es nachdrücklichst, dass er notwendigerweise die Ausbeutung der Arbeit mit sich führe, ausser das Privateigentum werde abgeschafft. Die Hauptstärke des Arguments für den Staatssozialismus und Kommunismus lag stets in der bis vor kurzem unangetasteten Behauptung, dass die permanente Tendenz des Fortschritts hinsichtlich der Produktion und Distribution des Reichtums in der Richtung mehr und mehr komplizierter und kostspieliger Methoden liege, welche eine stets grössere und grössere Konzentration von Kapital und Arbeit erfordern. Doch in den Köpfen fängt die Idee an zu dämmern; es gibt Männer der Wissenschaft, die es sogar durch Tatsachen beweisen zu können vorgeben, dass die angedeutete Tendenz nur eine Phase des Fortschritts ist, und zwar eine, welche nicht von Dauer sein wird. Es wird im Gegenteil einem Umschwung vertrauensvoll entgegengesehen. Man erwartet, dass die Betriebsmethoden billiger, kompakter und leichter zu handhaben gemacht werden, bis sie wieder den Einzelnen sowie kleinen Kombinationen zugänglich geworden sind. Einen solchen Umschwung haben wir bereits in der Richtung erfahren, welche die Verbesserungen im Gebiet der Zerstörungsinstrumente und -Materialien genommen haben. Militärischer Fortschritt lag eine lange Zeit in der Richtung des Komplizierten, ungeheure Armeen und unermessliche Auslagen erfordernd. Doch die Tendenz der jüngsten Entdeckungen und Erfindungen geht dahin, die Individuen auf gleichen Fuss mit Armeen zu stellen, indem sie denselben Mächte an die Hand geben, denen keinerlei Truppenanhäufung widerstehen kann. Glaubt man doch bereits, dass Lieutenant Zalinski mit seinem Dynamitgewehr irgendeinen Hafen gegen die ganze englische Flotte verteidigen könnte. Das Verdrängen des Dampfes durch die Elektrizität, und andere Fortschritte, wovon wir nichts wissen, machen es mehr als wahrscheinlich, dass das konstruktive Vermögen des Individuums mit dem destruktiven gleichen Schritt halten werde. Was wird in diesem Falle aus dem Staatssozialismus und Kommunismus? Es ziemt den Anhängern dieser Systeme, von der Richtigkeit dieser Hauptprämisse aller ihrer Argumente nicht so felsenfest überzeugt zu sein wie bisher.

Doch Herr Most mag einwenden, dass in diesem Raisonnement das Moment der Spekulation und Ungewissheit zu gross sei, um irgendeine Berücksichtigung desselben zu rechtfertigen. Gut denn, mag es gelten, was es wert ist; mein eigenes Vertrauen in dasselbe einfach wiederholend, werde ich mich sofort an die Erörterung der Frage machen, ob eine grosse Konzentration von Kapital zwecks Grossbetriebs uns der unangenehmen Alternative gegenüberstellt, entweder das Privateigentum abzuschaffen oder mit der Unterjochung der Arbeit unter das Kapital fortzufahren. Herr Most verspricht, dass wenn ich ihm beweisen kann, dass ein Régime des Privateigentums mit Grossbetrieb ohne Ausbeutung der Arbeit vereinbar ist, er nicht anstehen werde, sich im Sinne von Libertas überzeugt zu erklären. Dieses Versprechen enthält ein sehr bedeutungsvolles Zugeständnis. Wenn der Kommunismus, wie Herr Most gewöhnlich behauptet, der Freiheit wirklich keinen Abbruch tut und an und für sich solch eine gute und vollkommene Sache ist, warum ihn dann fallen lassen zugunsten des Privateigentums, einfach weil die Möglichkeit nachgewiesen ist, dass letzteres ohne die Ausbeutung der Arbeit bestehen kann? Sich bereitzuerklären, dies zu tun, heisst offenbar das Zugeständnis machen, dass, abgesehen von der Ausbeutung, das Privateigentum dem Kommunismus vorzuziehen ist und dass, unter Voraussetzung der Ausbeutung, der Kommunismus nur als das kleinere Übel gewählt wird. Ich notiere dieses Zugeständnis und fahre weiter.

Gerade hier jedoch qualifiziert Herr Most sein Versprechen, indem er der Erfüllung desselben eine weitere Bedingung stellt. Ich muss die vorliegende Frage nicht einfach beweisen, ich muss sie auch ohne Hinweis auf Proudhons Banksystem beweisen. Das verwickelt das Problem. Zeige mir, dass A gleich B ist, sagt Herr Most, und ich werde mich an A halten; nur musst du es mir nicht zeigen, indem du dartust, dass sowohl A wie B gleich C sind. Doch vielleicht ist die Gleichheit von A und B mit C der einzige Beweis, den ich für die Gleichheit A’s mit B vorzubringen habe. Soll es mir nun nicht erlaubt sein, die Beweisführung anzutreten, einfach weil diese Form der Logik Herrn Most nicht angenehm ist? Mitnichten; es liegt an ihm, den Fehler in der Logik nachzuweisen oder aber meine Schlussfolgerung anzunehmen. Seine Bedingung, dass ich mich nicht auf Proudhons Banksystem berufen dürfe, ist mithin lächerlich, insofern dieses Banksystem, oder doch das leitende Prinzip desselben, bei der Beweisführung meines Standpunkts wesentlich in Betracht gezogen werden muss. Ich biete ihm dieses Prinzip als endgültigen Beweis; er muss mir die Hinfälligkeit desselben nachweisen oder meine Behauptung zugeben. Es kann nicht mit einer verächtlichen Handbewegung beiseite geschoben werden.

Was ist nun dieses Prinzip? Einfach die Freiheit des Kredits und die daraus hervorgehende Organisation desselben in solch einer Weise, dass das Moment der Vergütung des Kapitals aus dem Prozess der Warenproduktion und -distribution ausgeschieden wird. Herr Most wird es wohl nicht bestreiten, dass die Kreditfreiheit das Privateigentum unangetastet lässt und selbst die praktische Ausführbarkeit des Grossbetriebs vergrössert. Die einzige übrige Frage ist alsdann, ob sie den Wucher abschaffen wird; denn wenn sie den Wucher abschaffen wird, wird auch mein Standpunkt begründet sein, da Wucher nur ein anderer Name für die Ausbeutung der Arbeit ist. Die Beweisführung, dass die Kreditfreiheit die Abschaffung des Wuchers zur Folge haben wird und somit die Beweisführung, die Herr Most zu untergraben verpflichtet ist, wird er in der letzten Hälfte meiner Abhandlung über Staatssozialismus und Anarchismus in der ersten Nummer von Libertas finden. Antwortet er nicht darauf, so bleibt die Privateigentumsplanke in der Plattform von Libertas unbeschadet seiner Kritik stehen; versucht er eine Widerlegung, so werden wir sehen, was weiter darüber zu sagen ist.

Doch Herrn Mosts Kritik hat es nicht allein auf die Plattform abgesehen: mit besonderer Strenge greift er die von Libertas zu befolgende Taktik an. Hier ist es, wo er die Grenze der höflichen Kritik überschreitet und beleidigend wird, indem er die Erklärung von Libertas, dass so lange ihr das Recht der freien Rede und der freien Presse unbenommen bleibe, sie nicht zu Gewaltmitteln greifen werde in dem Kampf gegen die Unterdrückung, als heuchlerisch bezeichnet. Dass Libertas in der Einnahme dieses Standpunkts heuchlerisch ist, schliesst er daraus, dass sie jetzt die Gewalt missbilligt, obschon fünf Männer gemordet wurden, Andere im Gefängnis schmachten und noch Andere in Gefahr schweben, eingekerkert zu werden, weil sie das Recht der freien Rede ausgeübt haben. Herr Most vergisst augenscheinlich, dass in New York noch immer die „Freiheit“, in Chicago der „Alarm“ und in Boston Liberty und Libertas herausgegeben werden, und dass alle diese Zeitungen, wenn ihnen auch nicht alles zu sagen erlaubt ist, was sie gerne sagen möchten, immerhin alles sagen können, was durchaus zu sagen nötig ist, um ihr Ziel, den Triumph der Freiheit, endlich zu erreichen. Es darf nicht gefolgert werden, dass, weil Libertas dafür hält, dass es ratsam werden kann, zwecks Sicherung der freien Rede seine Zuflucht zur Gewalt zu nehmen, sie ein Blutbad sanktionieren wird, sobald die freie Rede in einem, in einem Dutzend oder in hundert Fällen erstickt worden ist. Nicht eher als bis der Knebel in allgemeine Wirksamkeit träte, würde Libertas als letztes Mittel die Gewalt anempfehlen. Und dies, weit entfernt, Heuchelei zu sein, ist der beste Beweis für die Aufrichtigkeit dieses Blattes in seiner Verwerfung der Gewalt als eine Lösung ökonomischer Übelstände. Wenn irgendwo Heuchelei ist, so ist sie auf Seite derjenigen, welche, während sie die Gewalt als eine beklagenswerte Sache zu betrachten affektieren, zu der man nur als Verteidigungsmittel greifen dürfe, nichtsdestoweniger sehnlichst auf das Begehen von Missetaten warten, in der Hoffnung, einen Vorwand zu finden, um eine in der Geschichte beispiellose Ära des Schreckens und Blutvergiessens einzuleiten.

T.

(Libertas 2, Samstag, 7. April 1888, S. 4–5.)

Gewalt das Wesen des Staats.

Die Freiheit des Menschen besteht in der uneingeschränkten harmonischen Entfaltung seines ganzen Wesens, soweit dadurch die gleiche Freiheit aller anderen Menschen keinen Eintrag erleidet, und die Gerechtigkeit besteht in der gleichen, freien und unbesteuerten Benutzung der natürlichen Hilfsquellen der Erde und des Lebens, wie sie der Mensch zur Entfaltung und Betätigung seines Wesens bedarf. Dieser Freiheit und Gerechtigkeit gingen die Völker zuerst verlustig mit der Staatenbildung. Es heisst zwar, die Kultur habe ihren Anfang mit der Staatenbildung genommen, aber das ist ein Irrtum, wenn man damit besagen will, der Staat erst habe die Kultur ermöglicht und gefördert. Ich kann mir keine wahre Kultur denken, keine wirkliche Entwicklung der wahren Menschlichkeit ohne die gewissenhafteste Respektierung der allgemeinen und gleichen Freiheit und Gerechtigkeit. Die Zivilisation, die auf der Gewalt und der Sklaverei beruht, ist keine wahre Zivilisation. Mag man noch so viel von geschichtlicher Notwendigkeit reden, die Gewalttaten des Staates lassen sich dadurch weder bemänteln noch beschönigen. Niemals kann da von wahrer Kultur die Rede sein, wo die rohe und brutale Gewalt das Zepter führt an Stelle der vernünftigen Einsicht und des freien Übereinkommens. Nein, der Staat, wie wir ihn kennen, hat die menschliche Kultur weder hervorgerufen noch gefördert. Gerade das Gegenteil. Die Kultur hat sich vielmehr zu ihrer heutigen Höhe entwickelt, trotz des Staates. Es gibt viele Leute, welche allen Ernstes das Aufblühen der Naturwissenschaften der Kirche und den Klöstern zuschreiben. Aber diese Ansicht ist nicht hinfälliger als jene, welche den Staat mit der Förderung und dem Aufschwung der menschlichen Kultur kreditiert. Beide Ansichten können die Probe der Geschichte nicht bestehen. Staat wie Kirche sind zu allen Zeiten die organisierte Rohheit und Unwissenheit, mit einem Wort, die organisierte Unkultur. Die menschliche Kultur hat sich entwickelt trotz des Staates und trotz der Kirche; die Entwicklung einer naturgemässeren und höheren Weltanschauung und Lebensführung ging wesentlich ausserhalb des Staates und der Kirche vor sich und hat in Gemässheit mit dem Gesetz der Rückwirkung auf Staat und Kirche selber veredelnd eingewirkt.

Das leuchtet ein, wenn wir den Ursprung wie das Wesen des Staates genauer ins Auge fassen. Den Forschungen der gefeiertsten Historiker und Philosophen zufolge, sagt ein Verteidiger des Staatswesens, „war es immer und überall ein Akt der Eroberung, durch den der Staat gegründet wurde. Nicht eine Okkupation eines herrenlosen Grundes und Bodens, nein! Eine Eroberung und die Unterwerfung eines bereits durch eine früher dagewesene Bevölkerung okkupierten Landes mitsamt den unterworfenen Leuten – das ist der Anfang des Staates und alles Eigentums”, – sagen wir besser mit Max Stirner, Fremdtums. Damit stimmt auch überein das Resultat, zu dem Herbert Spencer in seinen soziologischen Untersuchungen gelangte.

Wie nun nach dem Zeugnis der Historiker und Philosophen der Staat durch Eroberung und Aufbietung roher Gewalt entstand, so hat er sich auch in der Geschichte fortgepflanzt und erhalten durch Gewalt. Eroberung und vollständige Missachtung aller Ethik. Ich verweise einfach auf die Geschichte. Der Staat hat sich zwar in dem Verlangen nach einem raison d'être durch seine Advokaten mit der Behauptung sicherzustellen versucht, dass seine wesentliche Aufgabe im Schutze der bürgerlichen Freiheit und des Eigentums bestehe. Aber wie es sich damit verhält, wissen wir nur allzu gut. Den Staat möchte ich kennenlernen, der sich dieser Aufgabe je auch nur im Entferntesten gewissenhaft entledigt hätte! Man sehe, wohin man mag, man durchreise alle Länder der Welt, man durchblättre die Geschichte und versetze sich im Geiste in alle Zeiten: und wenn man den Tatsachen gemäss zu urteilen befähigt ist, wird man mir beipflichten müssen, dass wo immer der Staat die menschliche Freiheit unter seine schützenden Fittiche nahm, er sie zu Neunzehnteln mit Füssen trat, dass wo er dem Eigentum seinen Schutz angedeihen liess, er es tat, um dasselbe hundertfach wieder zu konfiszieren, – und dass sich die Gerechtigkeit noch immer vergebens auf seine Initiative verlassen hat. Der Staat, als die Verkörperung der Unkultur, ist die Verneinung der Freiheit, Gerechtigkeit und des Eigentums.

Das werden die Politiker, die vollentwickelten wie die angehenden, das werden die Staatspfaffen aller Schattierungen natürlich nicht zugeben wollen, aber das ist der Schluss genauer Beobachtung und gewissenhaften, anfänglichen Denkens.

Libertas aber postuliert die Freiheit, Gerechtigkeit und das Eigentum. Daher geht ihre Forderung auf die Abschaffung des Staats.

G.S.

(Libertas 2, Samstag, 7. April 1888, S. 4.)

WAS DA FREI, DAS IST MEIN TRAUM.

[Deutsch von Freiligrath.]

Was da frei, das ist mein Traum, Eine Barke, flutgewiegt, Die sich Bahn macht durch den Schaum, Wie ein Pfeil zum Ziele fliegt! Dann ein Hirsch im grünen Wald; O, wie wirft er sein Geweih! Tausend Bäche, klar und kalt – Alles, Alles was da frei!

Dann ein Aar, der trotzig kreist Um der schroffsten Berge Zug; Ich erblickt’ ihn jüngst im Geist, Hörte rauschen seinen Flug. Einen Strom schritt ich hinan, Dicht umweht von Busch und Baum, Ohne Segel, ohne Kahn – Was da frei, das ist mein Traum!

Ein beglücktes Kind im Hain, Das mit Blumen spielt und Reh’n; Indier, die bei Sternenschein Durch des Urwalds Dickicht geh’n; Jauchzend Volk auf Siegesstätten, Bogenschütz’ am grünen Baum: – O, mein Herz liegt wund in Ketten, Und was frei, das ist mein Traum!

– Felicia Hemans.

(Libertas 2, Samstag, 7. April 1888, S. 1.)

Anmerkungen

Felicia Hemans (1793–1835) war eine britische Dichterin. Die Übersetzung stammt vom deutschen Lyriker und Übersetzer Ferdinand Freiligrath (1810–1876).

Kein goldner Mittelweg.

[Gramont im L'Intransigeant.]

Ich kann die Leute verstehen, die sagen: „Die Freiheit ist eine Pest. Den Menschen Freiheit zu verleihen heisst, die Bestie loszulassen. Wir wollen die Freiheit nicht! Nieder mit dieser Torheit! Die Völker müssen regiert, geführt, geleitet, unterworfen, eingeschränkt und am Gängelband erhalten werden. Gibst du die Zügel frei, so ist Alles verloren. Es gibt nur ein System: die Autorität, – absolute, unbestrittene, unkontrollierte Autorität. Das Volk besteht aus Kindern, die unter Vormundschaft stehen müssen. Darin allein ist seine Sicherheit; nur so kann es leben und gedeihen, vor inneren wie äusseren Gefahren bewahrt und gegen seine Feinde wie gegen sich selbst geschützt werden.“

Eine derartige Sprache hat zweierlei Vorzüge. Sie ist deutlich und sie ist logisch. Die Theorie, die sie ausdrückt, ist eine fassbare Theorie. Ich halte sie nicht für eine gute; ich bekenne mich zu einer Ansicht, die ihr diametral entgegengesetzt ist. Aber ich kann es ganz gut verstehen, wie die von mir angeführten Ideen gewissen Intelligenzen als die richtigen erscheinen. Unglücklicherweise werden politische Wahrheiten nicht mit derselben Beweisführung erhärtet wie z. B. geometrische Wahrheiten; und obgleich es keinem Menschen je einfallen würde, zu behaupten, dass die Summe der Winkel eines Dreiecks nicht gleich zwei rechten Winkeln sei, so würde er doch stundenlang um die Frage herumstreiten, ob die Autorität der Freiheit vorzuziehen sei oder umgekehrt.

Diese beiden Menschenklassen, – die, welche die Freiheit wollen und die, welche auf der Autorität bestehen, – können sich nicht gleichmässig im Rechte befinden; ist die eine im Recht, so muss die andere notwendigerweise im Unrecht sein. Aber es muss zugegeben werden, dass sich beide gleichmässig mit sich selber in Übereinstimmung befinden und von ihren Voraussetzungen, von ihren Vordersätzen logische Schlüsse ziehen.

Was mir wunderlich vorkommt, ist, dass es jene Klasse gibt, welche manchmal als die „glückliche Mitte“ bezeichnet wird und welche ich, so es gefällt, als die Klasse bezeichne, die man in Bausch und Bogen betrachten muss; das sind die Leute, welche die sich ausschliessenden Gegensätze der Freiheit und Autorität zu versöhnen und ein System zu schaffen hoffen, indem sie von jedem ein bisschen nehmen und zusammenschmieden. Als ob solches Zusammenschmieden möglich wäre, als ob widerstrebende Teile zusammenhalten könnten!

Der Mann, der sagt: „Ich bin für Freiheit, aber nicht für Zügellosigkeit“, oder wieder: „Ich bin für Autorität, aber nicht für Absolutismus!“ merkt es nicht, dass er eine so phantastische Unterscheidung macht, dass es unmöglich ist, in Wirklichkeit danach zu handeln.

In der Tat, wie, durch welch feines Verfahren kann die Stelle, der Punkt, die Grenzlinie bestimmt werden, wo die Freiheit aufhört und die Zügellosigkeit beginnt? Durch Zuhilfenahme welches unfehlbaren Zeichens kann es festgestellt werden, ob eine gegebene Handlung legitim, autoritär oder fluchwürdig arbiträr ist?

Nehmen wir ein Beispiel, und um die grösstmögliche Unparteilichkeit zu bewahren, wollen wir eins ausserhalb des Gebiets der Politik nehmen. Sie anerkennen, sagen Sie, die Freiheit der Feder, aber Sie wünschen, mit den Nachteilen derselben aufzuräumen? Sie hat einige, sie muss einige haben, weil sie Menschen erteilt ist, die wesentlich schwache und unvollkommene Geschöpfe sind. Einer der Nachteile besteht darin, dass sie die Publikation von Werken erlaubt, in welchen der Wohlanständigkeit kein Respekt erzeigt wird. Was wollen Sie nun tun?

Sie würden die Bücher proskribieren, die nach Ihrer Meinung die öffentliche Moral gefährden? So sei es. Woran werden Sie sie erkennen? Wieweit wird sich Ihre Toleranz erstrecken? Wo wird sie aufhören? An welchem Punkte der Gemeinheit werden Sie Ihre Anklage erheben? Wie werden Sie ein künstlerisches oder wissenschaftliches Werk unterscheiden von einer einfachen schmutzigen Spekulation? Durch seinen Stil? Und wer soll dann darüber entscheiden? Ausserdem, Alles ist relativ. Ein Buch, das in gewissen Händen gefährlich ist, ist gar nicht so in andern. Es gibt medizinische Bücher, welche es sehr unklug wäre, in die Hände junger Mädchen zu geben. Nichtsdestoweniger ist es notwendig, dass sie geschrieben und in freien Umlauf gesetzt werden.

Wenn wir uns auf diesen Weg begeben, wohin wird das uns führen? Dahin, -zur gerichtlichen Verfolgung von „Madame Bovary“, ein Meisterwerk, völlig keusch in Form und tief streng in den Prinzipien. Tatsache ist, dass es kein Kriterium, kein Mittel gibt, um die Grenzlinie zwischen Freiheit und Zügellosigkeit zu bestimmen.

Dass die Freiheit missbraucht werden kann, ist sehr wahr. Die Autorität hat auch ihre Missbräuche. Aber ist nicht die Freiheit mit allen ihren Nachteilen von grösserem Wert für uns als die Autorität mit allen ihren Nachteilen? Darin besteht die ganze Frage. Die Erwartung zu hegen, die Autorität mit der Freiheit so zu verschmelzen, dass wir nur die Vorteile beider ohne die Nachteile beider haben sollen, ist trotz seines praktischen Anscheins das Chimärischste aller Utopien.

Eine Wahl muss getroffen, Kompromisse und Unterscheidungen müssen beiseite gelegt und Stellung muss genommen werden auf der einen oder andern Seite, auf der Seite der absoluten Autorität oder der der schrankenlosen Freiheit.

(Libertas 2, Samstag, 7. April 1888, S. 1.)

Anmerkungen

Louis de Gramont (1854–1912) war ein französischer Journalist und Dramatiker, ab 1890 war er dann sogar Redakteur der Tageszeitung L'Intransigeant.

Eine Skizze von Pyat.

[Von Francis Enne.]

Félix Pyat gehört mit zu den glänzendsten literarischen Sternen des Jahrhunderts. Wem wäre sein berühmter Name nicht geläufig in Frankreich? Ein Name, der längst schon in der zeitgenössischen Literatur eine Stelle behauptet neben den Namen der grössten Meister aller Schulen, wie Victor Hugo, Lamartine, der ältere Dumas, Musset, Balzac, Eugène Sue, Frédéric Soulié und andere, denn die Fruchtbarkeit der ganzen auf den Sturz des Kaiserreichs folgenden Epoche ist erstaunlich.

Der Politiker? Wir lassen ihn heute unberücksichtigt, um uns ausschliesslich dem Schriftsteller hinzugeben, obwohl Félix Pyat kein Buch geschrieben hat, in dem er es sich nicht zur Aufgabe gemacht hätte, durch lebendige Ausmalung der schreienden sozialen Ungleichheiten und des Volkselends der Revolution das Wort zu reden. Ausserdem glaubt Pyat nicht an die Kunst um der Kunst willen, sondern hält es als heilige Pflicht des Schriftstellers wie des Künstlers, zu belehren, während er entzückt und unterhält.

Wir wollen hier flüchtig das voll ausgefüllte Leben Félix Pyats skizzieren. Er wurde geboren zu Vierzon; sein Vater, ein bedeutender Advokat, war ein Legitimist, seine Mutter, eine Demokratin. Den Lehren seiner Mutter folgend, begann er in seiner Studentenzeit gegen Karl X. zu agitieren und beteiligte sich an allen Kundgebungen der Schulen; 1830 erhielt er sein Advokatendiplom. Unmittelbar darauf widmete er sich der Schriftstellerei und der Politik.

Er begann am „Figaro“, unter Mitwirkung seines Landsmannes Latouche; dann gründete er das „Charivari“ unter Mitwirkung von Altaroche und Daumier. Er schrieb eine berühmte Seite, die „Filles de Séjan“, als Vorwort für ein Buch über Barnave von dem grossen Janin (Jules); nachdem letzterer die bewusste Seite unterzeichnet hatte, zankte er mit ihm, welchem Umstand wir Pyats wunderbares Pamphlet: „J. M. Chénier und der Prinz der Kritiker“ verdanken. Die Liste der Journale, Zeitschriften und Sammlungen, mit welchen er in Verbindung gestanden, ist eine lange. Wir nennen unter den bedeutenderen die „Revue de Paris“, den „Artiste“, die „Revue Démocratique“; er war der Leiter der „Revue Brittanique“; lange Zeit stand er dem Feuilleton des „Siècle“ und des „National“ vor, und überall bewährte er sich als glänzender Polemiker, wie scharfer Kritiker in Kunst und Politik. Folglich, wie viele Verfolgungen, wie viele Monate im Gefängnis!

Félix Pyat war einer der Gründer der Gesellschaft der Schriftsteller und der Gesellschaft der Dramatiker. Seine dramatischen Werke sind von nicht geringerer Bedeutung. Sein erstes Stück, „Eine Revolution aus vergangener Zeit“, gespickt mit gegen Louis Philippe gerichteten politischen Anspielungen, kam im Odéon Theater zur Aufführung. Der kleine Thiers, des Königs Pedant, verbot das Stück natürlich. Félix Pyat vergalt es mit einem in der „Revue des Deux Mondes“ veröffentlichten Pamphlet. „Eine Verschwörung aus vergangener Zeit“, ein anderes verbotenes Drama; und „Arabella“, worin er die Hinrichtung des Prinzen von Condé zu St. Leu auf die Bühne brachte. Dann schuf er „Der Brigand und der Philosoph“, „Ango, der Matrose“, „Cedric, der Norweger“ und „Die beiden Schlösser“, alles sozialistische Stücke.

Aber seine beiden Meisterwerke sind „Diogenes“ und „Der Lumpensammler von Paris“, welches letztere er vor kurzem in eine Novelle umgearbeitet hat. Dieser grosse Schriftsteller steht im Ruf, Gautiers Kreis „Jung Frankreich“ angehört zu haben zur Zeit der Geburt der Romantik; das ist beinahe richtig. Tatsache ist, dass er mit allen jenen Schriftstellern assoziiert war, welche der Reihe nach zu Meistern wurden, einige ohne die Politik auszuschliessen, und einige, indem sie die Politik verachteten, – die Sues, die Hugos oder die Gautiers, doch Pyat blieb stets seinen feurig revolutionären Überzeugungen treu, während er sich mit demselben fieberhaften Eifer der Schriftstellerei und der Kunst ergab. Dies beweist sein Wirken deutlich, welches ihm von seinen Freunden denn auch die Bezeichnung des „demokratischen Höflings“ einbrachte. Die folgende Anekdote verrät einen charakteristischen Zug. Nach dem Triumph des „Diogenes“ erhielt Pyat in Sainte Pélagie (wo er wegen eines Pressvergehens eine Strafe abbüsste) folgenden Brief von Victor Hugo:

MEIN LIEBER GEFANGENER! Ich schreibe Ihnen mit einer noch vom Applaus zitternden Hand. Sie haben besser als ich die Königlichkeit des Genius und die Göttlichkeit der Liebe bewiesen. VICTOR HUGO.

Dies war Pyats Antwort:

MEIN LIEBER MEISTER! Nicht ein Deist und ganz gewiss nicht ein Royalist, aber Ihr ergebenster und dankbarster FÉLIX PYAT.

Dieser Satz offenbart den ganzen Menschen, in der Politik wie in der Schriftstellerei, selbst in seiner knappen, raschen Form, eine Form, die er stets mit unendlichem Glück anwendet, sei es in Abhandlungen über hoch-philosophische oder politische Gegenstände, im Drama oder im Roman; denn das Charakteristische dieses lebendigen Stils ist seine Kürze, seine erstaunliche Genauigkeit, und nach einem erbarmungslosen Abstreifen aller überflüssigen Wörter, ohne aber der das Bild darstellenden Figur Eintrag zu tun, verfehlt er nie seinen Eindruck auf den Leser oder Zuhörer. Wird Pyat eine Schule gründen? Ich bezweifle es. Er würde seine Schüler entmutigen.

Seine private Persönlichkeit sollte auch besprochen werden, denn er gehört jener Klasse von Zauberern an, welche mit dem Vordringen unserer brutalen Zivilisation zu verschwinden drohen. Dieser alte Mann ist noch fest wie ein Mann von dreissig; er ist lebhaft, aufgeweckt, heiter und sehr freundlich; seine beiden schwarzen Augen erleuchten mit eigentümlichem Glanz den mit zottigem weissen Haar reich bedeckten Kopf; sein ebenfalls weisser Bart liegt wie ein Fächer über seine Brust ausgebreitet, und seine Augen haben diese auffallende Eigentümlichkeit, dass sie, wie diejenigen grosser Katzen, jetzt von Zorn blitzen, wenn im Gespräch Pyat aufgeregt wird, und dann auch wieder von Freundlichkeit strahlen. Seine Stimme ist harmonisch und fesselnd; seine Sprache ist von seltener Beredsamkeit, ob er nun eine Rede hält oder seinen Freunden einfach die Geschichte seines Lebens, seiner Abenteuer, oder von den Männern, die er hat kennengelernt, erzählt; denn wenn er ein grosser Redner ist, so ist er auch ein wunderbarer Erzähler.

Ich habe versucht, einen getreuen Umriss dieses Mannes zu machen, und ich ersuche den Verfasser des „Lumpensammlers von Paris“, einem Bewunderer etwas zu Gute zu halten; überhaupt ist er sehr nachsichtig, eine andere seiner Eigenschaften, die ich beinahe zu erwähnen vergass.

(Libertas 1, Samstag, 17. März 1888, S. 8.)

Der „Eine Mann“.

Eine typische Persönlichkeit, welche in den Augen vieler Menschen die Unausführbarkeit anarchistischer Ideen über jeden Zweifel demonstriert, ist der gefürchtete „eine Mann,” welcher sich beharrlich weigert, das zu tun, was die Anderen beschliessen: Wenn ein gemeinsames Picknick veranstaltet wird, so macht der „eine Mann“ nicht mit; wenn der vierte Juli gefeiert werden soll, so feiert er den fünften; wenn eine gemeinsame Landpartie gemacht wird, so weigert er sich, seinen Anteil an den Kosten zu tragen; wenn die Anderen ihre Entwicklung zu Engeln möglichst zu beschleunigen suchen, knöpft er seine teuflische Hülle nur um so fester zu, um ein Hinausschlüpfen unmöglich zu machen; dadurch verhindert er die ganze Menschheit, den Zustand zu erreichen, in welchem Gesetze nicht mehr nötig sind.

Es ist sonderbar, was für eine zähmende Gewalt die Gesetze auf den „einen Mann“ ausüben: Ohne Gesetze juckt es ihn beständig in den Fingern, um seinem Nachbarn Steine durch die Fensterscheiben zu werfen; sein Wohnhaus will er immer quer über die Strasse bauen; Eisenbahnen sind ihm so verhasst, dass er immerfort Dynamitbomben unter die Schienen legt; selbst die unbehinderte Passage auf den Strassen ärgert ihn, darum schaufelt er niemals den Schnee vor seiner Haustür fort. Weder die Furcht vor Prügel, noch vor Lynchen hält ihn ab, diese ewigen Schikanen gegen seine Mitmenschen auszuüben. Das Alles wird aber sofort anders, wenn Gesetze gemacht werden. Vor ihnen hat der „eine Mann“ einen übernatürlichen Respekt. Während tausend Lyncher mit einer um seinen Hals gelegten, über einen Baumast gezogenen Schlinge nur ein verächtliches Hohnlachen bei ihm bewirkt hätten, wird er zahm, reuig und zerknirscht, wenn der Arm des Gesetzes in Gestalt eines Konstablers sich nach ihm ausstreckt, wenn Advokaten, Richter und Geschworene die feierlichen Zeremonien eines gesetzlichen Prozessverfahrens vor seinen Augen aufführen. Sollte er es aber bis zu dem vorschriftsmässigen Galgen bringen, so bewirken die heiligen Schauer dieses erhabenen Instrumentes eine solche Umwandlung seines inneren Menschen, dass er eine gute Aussicht auf hohe gesetzliche Ehrenstellen im Jenseits mit auf den Weg nimmt.

Die Menschheit hat daher begründete Ursache, den Gesetzen jene abgöttische Verehrung zu erweisen, welche (von freiheitsschwärmenden Republikanern ausgeübt) dem profanen Blick ungläubiger Anarchisten als der reinste Fetischdienst erscheint: Was nützten uns ohne Gesetze alle Errungenschaften der Wissenschaft und Industrie? Wenn die Bewohner einer Stadt elektrische Strassenbeleuchtung einrichten wollten, so würde der „eine Mann“ unfehlbar die Leitungsdrähte durchschneiden. Der elektrische Feueralarm wäre seinetwegen auch nicht möglich; denn er würde den Apparat fortwährend in Bewegung setzen, sodass nur Verwirrung dadurch entstehen könnte. Selbst den ungestörten Genuss älterer Einrichtungen könnten wir dieses „einen Mannes“ wegen ohne Gesetze nicht länger haben. Die Gasbeleuchtung müssten wir aufgeben; denn der „eine Mann“ würde die Leitungsröhren anbohren. Wasserleitung wäre unmöglich; denn er würde immer da, wo eine Wasserleitung liegt, seinen Keller graben wollen. Wasserklosetts müssten abgeschafft werden; denn der „eine Mann“ würde die Ableitungsröhren verstopfen.

Am unangenehmsten wäre der Zustand für die Landspekulanten; denn wo immer sie einen Bauplatz, eine Farm oder ein Stück Waldland verkaufen wollten, müssten sie befürchten, dass gerade dort der „eine Mann“ seine Hütte aufschlagen, seine Viehweide oder sein Kartoffelfeld einrichten wollte. So haben wir denn sämtlich Ursache, den Gesetzen wegen ihrer zähmenden Einwirkung auf den „einen Mann“ dankbar zu sein; wir können unser Eigentum in Ruhe geniessen und Anteil an den fortschrittlichen Errungenschaften nehmen. Diejenigen aber, welche das Schicksal nicht mit den nötigen Mitteln ausgerüstet hat, um sich Zutritt zu solchen Dingen zu verschaffen, sehen sich durch das Gesetz wenigstens der Versuchung überhoben, die Rolle dieses „einen Mannes“ zu spielen, wodurch sie hier den Anschein guter Bürger auf sich nehmen müssten und im Jenseits ihren Platz unter den ewig Verdammten angewiesen erhalten würden.

Wie die Menschen, haben auch die Engel Ursache, dem Gesetz dankbar zu sein; denn wenn es dem „einen Mann“ gelingen sollte, in den Himmel zu kommen, ohne vorher gezähmt worden zu sein, würde er das ewige Halleluja durch Absingen von Gassenhauern, rein unmöglich machen.

Doch die Sache kann auch ganz anders aufgefasst werden, sodass nur der „eine Mann“ selber Ursache hätte, dem Gesetz dankbar zu sein; seine Lust, Andere zu ärgern und zu tyrannisieren, kann er mithilfe des Gesetzes weit besser befriedigen, als wenn er nur auf seine eigenen Kräfte angewiesen wäre. Wenn es sich, wie anfangs erwähnt, um Picknicks, Vierte-Juli-Feiern, Landpartien, etc., handelt, kann er ohne Gesetze die Anderen nur dadurch ärgern, dass er nicht mitmacht; wenn er sich aber auf das Gesetz stützen darf, kann er, wie im polnischen Reichstag, durch sein Veto auch die Anderen verhindern, das zu tun, was er nicht mag. Während er privat seine Mitmenschen nur durch Einwerfen der Fenster, Versperren der Strasse, Behinderung der Eisenbahnfahrt plagen könnte, darf er sich mithilfe des Gesetzes die Häuser, Strassen und Eisenbahnen aneignen und dadurch die Mitmenschen sich tributpflichtig machen. Bei dem erstgenannten kleineren Vergnügen müsste er immerhin die Gefahr des Durchgeprügelt- oder Gelynchtwerdens mit in den Kauf nehmen; aber bei dem letztgenannten grösseren Vergnügen überhebt ihn das Gesetz jeder Gefahr, dagegen dürfen sich die Mitmenschen nicht mehr ohne Lebensgefahr den Quälereien des „einen Mannes“ auf ländlich sittliche Weise widersetzen.

Es ist daher nicht zu verwundern, dass heutzutage der „eine Mann“ als der eifrigste Verteidiger von Gesetz und Ordnung auftritt und seine Mitmenschen in dem Glauben zu bestärken sucht, dass sie ohne diese Dinge gar nicht leben könnten. Das Durchschneiden von Leitungsdrähten, Anbohren von Gasröhren, Behindern der Wasserleitung, Verstopfen von Abzugskanälen sind doch nur armselige Vergnügen, wenn man sich auf alle diese Dinge ein Besitzrecht aneignen und dann seinen Mitmenschen die Alternative stellen kann, entweder zu bezahlen oder Nichts zu bekommen. Vom Standpunkte des „einen Mannes“ lässt sich daher die zärtliche Fürsorge für die Gesetze schon erklären, vom Standpunkte der Anderen aber nicht.

PAUL BERWIG.

(Libertas 1, Samstag, 17. März 1888, S. 8.)