Gewalt das Wesen des Staats – George Schumm

Gewalt das Wesen des Staats.

Die Freiheit des Menschen besteht in der uneingeschränkten harmonischen Entfaltung seines ganzen Wesens, soweit dadurch die gleiche Freiheit aller anderen Menschen keinen Eintrag erleidet, und die Gerechtigkeit besteht in der gleichen, freien und unbesteuerten Benutzung der natürlichen Hilfsquellen der Erde und des Lebens, wie sie der Mensch zur Entfaltung und Betätigung seines Wesens bedarf. Dieser Freiheit und Gerechtigkeit gingen die Völker zuerst verlustig mit der Staatenbildung. Es heisst zwar, die Kultur habe ihren Anfang mit der Staatenbildung genommen, aber das ist ein Irrtum, wenn man damit besagen will, der Staat erst habe die Kultur ermöglicht und gefördert. Ich kann mir keine wahre Kultur denken, keine wirkliche Entwicklung der wahren Menschlichkeit ohne die gewissenhafteste Respektierung der allgemeinen und gleichen Freiheit und Gerechtigkeit. Die Zivilisation, die auf der Gewalt und der Sklaverei beruht, ist keine wahre Zivilisation. Mag man noch so viel von geschichtlicher Notwendigkeit reden, die Gewalttaten des Staates lassen sich dadurch weder bemänteln noch beschönigen. Niemals kann da von wahrer Kultur die Rede sein, wo die rohe und brutale Gewalt das Zepter führt an Stelle der vernünftigen Einsicht und des freien Übereinkommens. Nein, der Staat, wie wir ihn kennen, hat die menschliche Kultur weder hervorgerufen noch gefördert. Gerade das Gegenteil. Die Kultur hat sich vielmehr zu ihrer heutigen Höhe entwickelt, trotz des Staates. Es gibt viele Leute, welche allen Ernstes das Aufblühen der Naturwissenschaften der Kirche und den Klöstern zuschreiben. Aber diese Ansicht ist nicht hinfälliger als jene, welche den Staat mit der Förderung und dem Aufschwung der menschlichen Kultur kreditiert. Beide Ansichten können die Probe der Geschichte nicht bestehen. Staat wie Kirche sind zu allen Zeiten die organisierte Rohheit und Unwissenheit, mit einem Wort, die organisierte Unkultur. Die menschliche Kultur hat sich entwickelt trotz des Staates und trotz der Kirche; die Entwicklung einer naturgemässeren und höheren Weltanschauung und Lebensführung ging wesentlich ausserhalb des Staates und der Kirche vor sich und hat in Gemässheit mit dem Gesetz der Rückwirkung auf Staat und Kirche selber veredelnd eingewirkt.

Das leuchtet ein, wenn wir den Ursprung wie das Wesen des Staates genauer ins Auge fassen. Den Forschungen der gefeiertsten Historiker und Philosophen zufolge, sagt ein Verteidiger des Staatswesens, „war es immer und überall ein Akt der Eroberung, durch den der Staat gegründet wurde. Nicht eine Okkupation eines herrenlosen Grundes und Bodens, nein! Eine Eroberung und die Unterwerfung eines bereits durch eine früher dagewesene Bevölkerung okkupierten Landes mitsamt den unterworfenen Leuten – das ist der Anfang des Staates und alles Eigentums”, – sagen wir besser mit Max Stirner, Fremdtums. Damit stimmt auch überein das Resultat, zu dem Herbert Spencer in seinen soziologischen Untersuchungen gelangte.

Wie nun nach dem Zeugnis der Historiker und Philosophen der Staat durch Eroberung und Aufbietung roher Gewalt entstand, so hat er sich auch in der Geschichte fortgepflanzt und erhalten durch Gewalt. Eroberung und vollständige Missachtung aller Ethik. Ich verweise einfach auf die Geschichte. Der Staat hat sich zwar in dem Verlangen nach einem raison d'être durch seine Advokaten mit der Behauptung sicherzustellen versucht, dass seine wesentliche Aufgabe im Schutze der bürgerlichen Freiheit und des Eigentums bestehe. Aber wie es sich damit verhält, wissen wir nur allzu gut. Den Staat möchte ich kennenlernen, der sich dieser Aufgabe je auch nur im Entferntesten gewissenhaft entledigt hätte! Man sehe, wohin man mag, man durchreise alle Länder der Welt, man durchblättre die Geschichte und versetze sich im Geiste in alle Zeiten: und wenn man den Tatsachen gemäss zu urteilen befähigt ist, wird man mir beipflichten müssen, dass wo immer der Staat die menschliche Freiheit unter seine schützenden Fittiche nahm, er sie zu Neunzehnteln mit Füssen trat, dass wo er dem Eigentum seinen Schutz angedeihen liess, er es tat, um dasselbe hundertfach wieder zu konfiszieren, – und dass sich die Gerechtigkeit noch immer vergebens auf seine Initiative verlassen hat. Der Staat, als die Verkörperung der Unkultur, ist die Verneinung der Freiheit, Gerechtigkeit und des Eigentums.

Das werden die Politiker, die vollentwickelten wie die angehenden, das werden die Staatspfaffen aller Schattierungen natürlich nicht zugeben wollen, aber das ist der Schluss genauer Beobachtung und gewissenhaften, anfänglichen Denkens.

Libertas aber postuliert die Freiheit, Gerechtigkeit und das Eigentum. Daher geht ihre Forderung auf die Abschaffung des Staats.

G.S.

(Libertas 2, Samstag, 7. April 1888, S. 4.)