Den Zweiflern – F.F.K.

Den Zweiflern.

Die grossäugige Verwunderung, womit sogar liberale und rechtlich gesinnte Leute ein Exemplar eines anarchistischen Blattes lesen und ihre erste Bekanntschaft mit anarchistischen Doktrinen machen, wäre amüsant, wenn sie nicht so betrübend wäre. Sie sind wie gelähmt. „Was ist das mit diesem Anarchismus?“, sagen sie; „was ist damit gemeint? Keine Gesetze, keine Regierung? Das kann niemals sein. O, es ist lauter Unsinn.“ Sie stolpern und tappen um die Prinzipien von Freiheit und Gerechtigkeit herum und sagen, diese Prinzipien seien ganz gut für das Millennium, aber wir seien noch nicht dort angelangt. Es fällt ihnen niemals ein, dass, um zu einer idealen Zeit zu gelangen oder in der Richtung derselben fortzuschreiten, die Hilfe eben jener Prinzipien nötig ist, die jene Zeit ideal machen werden.

Ein Brief eines dieser Leute liegt vor mir. Der Schreiber desselben ist ein Mann von ungewöhnlicher Liberalität und geistiger Empfänglichkeit, voll grossen Verständnisses für natürliche Gerechtigkeit, voll des Enthusiasmus für die Menschheit, voll tiefer Sympathie für die Enterbten der Erde – kurz, ein Mann von dem Schlage der Anarchisten und etwaigen Märtyrer. Und dennoch, nachdem er ein oder zwei Exemplare von „Liberty“ gelesen hat, schreibt er: „Liberty verwirrt mich. Ich weiss nicht, was Anarchie ist. Wenn sie die Abwesenheit von Gesetz und Ordnung bedeutet – wie ich zu entnehmen glaube – und mehr als der Ausdruck einer Richtung ist, so kann ich nicht sagen, dass sie mir zusagt. … In der Tat, der Anarchist ist nur ein verschrobener Mensch – geistig krank – seine Krankheit ein Symptom eines bedenklichen sozialen Siechtums.“

Ich darf wohl sagen, dass die Mehrheit derjenigen, die sich Anarchisten nennen, ein ganz ähnliches Stadium durchgemacht haben wie der Schreiber dieses Briefes. Und insofern wir zur Klarheit durchgedrungen sind, ist aller Grund vorhanden, mit Vertrauen in die Zukunft auch dieser Zweifler zu blicken. Könnte es ihnen nur zum Verständnis gebracht werden, dass Anarchie keinen plötzlichen Umsturz der bestehenden Ordnung der Dinge bedeutet, keine erzwungene Einsetzung des Chaos an Stelle der Ungerechtigkeit, kein Wirbelwind tollen Durcheinanders; wollten sie nur lange genug zuhören, um auszufinden, dass Anarchie die langsame Entwicklung der Prinzipien der Freiheit und Gerechtigkeit bedeutet; das allmähliche Abfallen des „Du sollst“ und „Du sollst nicht“ der Gesetze und Verfassungen in dem Grade, wie die Menschen lernen, dass es besser ist, durch vernünftige, intelligente Überzeugungen von innen heraus regiert zu werden, als durch Zwang von aussen; die allmähliche Ausgleichung des Wohlstandes durch die Substitution eines Gesetzes, das sich der Gerechtigkeit nähert, für eines, das ungerecht ist, und dann die Abschaffung sogar dieses Gesetzes, nachdem die Augen der Menschen sich an das Licht gewöhnt haben – gerade wie man die Binden langsam, eine nach der andern, vom Auge eines Mannes nehmen würde, dem der Star operiert wurde; die beharrliche Heranbildung der Menschen zu den Ideen natürlicher Gerechtigkeit und Freiheit, zur Achtung individueller Rechte und zu der Überzeugung, dass, wenn sie diesen Prinzipien vollen Spielraum lassen, sie sich besser selbst regieren, als sie sich durch die Dikta einer Schar Leute auf dem Stadthaus regieren lassen können; das allmähliche Verschwinden von Neunzehnteln der Beweggründe zu Verbrechen durch dieselbe Ausgleichung des Wohlstandes, welche auf der einen Seite die Versuchungen des Müssiggangs und des übermässigen Reichtums und auf der andern den Zwang mühseliger Armut und erniedrigender Verhältnisse entfernen wird: – wenn diese Zweifler nur lange genug verweilen wollten, um all dies zu lernen, würden sie nicht so oft ihr eigenes Denkvermögen beschimpfen, indem sie das für unsinnig und chimärisch erklären, über dessen nächstliegende Zwecke und Ziele sie noch in Unwissenheit sind.

Diesen Leuten kann es nicht oft genug gesagt werden, dass der Anarchismus nicht seine eigene Sache strangulieren will, indem er auf der augenblicklichen Annahme seiner höchsten Entwicklung besteht. Alles, was er will, alles, was seine Vertreter erwarten, ist die langsame Entwicklung, die allmähliche Anerkennung seiner Prinzipien in derselben langsamen und ungeschickten Weise, in der die Welt alle ihre Fortschritte gemacht hat. Doch er glaubt, dass die allmähliche Anerkennung – hier ein wenig, dort ein wenig, nächstes Jahr ein wenig mehr – dieser Prinzipien, welche selbst von den Zweiflern und Verneinern als die Prinzipien anerkannt werden, die das Millennium beherrschen sollten, die einzige Bahn des Fortschrittes, der einzige Weg, auf dem das Millennium erreicht werden kann, ist. Und der Anarchismus verlangt im Namen des verfolgten Galileo, des verhöhnten Columbus, des gekreuzigten Christus und der ganzen langen Reihe der Männer, die ihre Arme ausstreckten, um der Welt in ihrem Fortschritt zu helfen und Schläge, Verfolgung und Tod zum Lohne erhalten haben – im Namen dieser verlangt der Anarchismus von den unbefangen und gerecht denkenden Menschen, dass sie in freimütiger Sympathie ihren Geist offen erhalten für das, was er zu sagen hat. Hört, fragt, überlegt. Nachdem ihr ihn wohl in Erwägung gezogen habt, verwirft ihn, wenn euch das Recht dünkt. Doch im Namen aller Märtyrer des langsamen Fortschritts der Welt, schiebt ihn nicht als „Unsinn“ beiseite und nennt nicht den Anarchisten einen „verschrobenen Menschen, geistig krank, seine Krankheit ein Symptom eines bedenklichen sozialen Siechtums“, bis ihr gründlich versteht, was er will und wie er es zu erreichen gedenkt.

F.F.K.

(Libertas 2, Samstag, 7. April 1888, S. 5.)