Spontaneität erhabener als Pflichtgefühl – George Eliot

Spontaneität erhabener als Pflichtgefühl.

[George Eliot.]

In dem Grade, in welchem die Moral Gemütssache ist, d. h. in Verwandtschaft mit der Kunst steht, wird sie sich in Mitgefühl und Handlung unmittelbar äussern, und nicht als Beobachtung einer Regel. Die Liebe sagt nicht, „Ich sollte lieben“; sie liebt. Das Mitleid sagt nicht, „Es ist recht, mitleidsvoll zu sein“; es bemitleidet. Die Gerechtigkeit sagt nicht, „Ich bin verpflichtet, gerecht zu sein“; sie ist gerecht. Nur da, wo das moralische Gefühl verhältnismässig schwach ist, läuft der Gedanke an eine Regel oder Theorie bei der Handlung mit unter, und in Übereinstimmung damit glauben wir, dass die Erfahrung, in der Literatur wie im Leben, gelehrt hat, dass vorwiegend didaktische Intelligenzen, die auf einer „Moral“ bestehen und Alles verwerfen, was nicht eine „Moral“ vermittelt, nicht mit dem vollen Masse natürlichen Mitgefühls ausgestattet sind.

(Libertas 2, Samstag, 7. April 1888, S. 7.)

Anmerkungen

George Eliot war das Pseudonym der englischen Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin Mary Ann Evans (1819–1880).