Eduard Schröter – Emma Heller Schumm
Eduard Schröter.
Immer mehr lichten sich die Reihen derer, die den Freiheitsdrang, der vor nun etwa einem halben Jahrhundert sich in Deutschland allenthalben zu regen begann, aus eigener Anschauung kannten. Und wie wenige sind noch übrig geblieben, die an der damaligen Bewegung aktiven Anteil genommen und deren späteres Leben das Versprechen hielt, das die Jugend voll glühender Freiheitsliebe gegeben hatte? Einer der bewährtesten dieser Helden war Eduard Schröter. Auch er ist nicht mehr. Er starb am 22. April, im Alter von 77 Jahren, in dem kleinen, stillen Landstädtchen am Wisconsinfluss, in Sauk City, wo er die letzten fünfunddreissig Jahre seines Lebens im Verborgenen verlebte, von wo aus aber, bis zu den Jahren, wo Krankheit und Körperschwäche auch seine Geisteskraft gebrochen hatten, das Echo seiner Stimme zu allen in den Vereinigten Staaten wohnenden freisinnigen Deutschen drang.
Einer der bedeutendsten Exponenten der freireligiösen Agitation in Deutschland, die in der freien Gemeinde zur Blüte kam, wurde er von der 48er-Revolution nach Amerika verschlagen, wo er jedenfalls der begeistertste und unermüdlichste Kämpfer dieser Bewegung wurde.
Als er 1850 als Exilierter, und ehedem Sprecher der freien Gemeinde zu Worms, in New York landete, gründete er sofort eine freie Gemeinde daselbst und bald darauf in noch anderen östlichen Städten. Im nächsten Jahre erhielt er einen Ruf nach Milwaukee zwecks Gründung einer Gemeinde, deren Sprecher er sein sollte. Auf der Reise dorthin liess er in allen grösseren Städten, die er berührte, Spuren seiner Gegenwart zurück in der Form freier Gemeinden, wovon aber die meisten, in Ermanglung eines Sprechers, bald wieder eingingen.
In Milwaukee entwickelte er für die Sache, der er sich nun einmal mit Leib und Seele ergeben hatte, eine unermüdliche Tätigkeit. Nicht nur lag er seinen Sprecherpflichten ob, er gründete auch den „Humanist“, als Organ der freien Gemeinden, dem er als Redakteur vorstand, und bereiste den Staat Wisconsin als Reiseredner und Organisator und gründete in diesem Staat allein dreissig freie Gemeinden.
Nachdem aus dieser Riesenarbeit bedenkliche Folgen für seine Gesundheit erwachsen waren, siedelte er in die Landeinsamkeit Sauk Citys als Sprecher der von ihm daselbst gegründeten Gemeinde über. Dort gelangte sein bewegtes Leben, äusserlich wenigstens, zur Ruhe. Dass es an inneren Kämpfen und Stürmen nicht fehlte, dafür sorgte seine rastlose, feurige Natur.
Eine feurige Natur seltenster Art war Schröter in der Tat. Mit unermüdlicher Energie begabt und mit unerschütterlichem Vertrauen in den endlichen Sieg der guten Sache, konnte keine noch so bittere Enttäuschung ihn dauerhaft entmutigen. Bei jedem auch nur geringen Erfolg seiner teuren Ideale flammte sein Auge in neuerwachter Hoffnungsfreudigkeit auf und diese Jugendlichkeit des Fühlens bewahrte er sich bis ins hohe Alter, bis der Tod ihn abrief.
In manche junge Seele fiel zündend ein Funke dieses Feuers, wie denn auch der Jugendunterricht, der einen bedeutenden Teil von Schröters Wirken in Sauk City bildete, zu den segensreichsten seiner späteren Leistungen gehörte. Auch uns, den Mitredakteuren von Libertas, war das Glück beschert, zu seinen Schülern zu gehören, und zwar zu einer Zeit, da Gesundheit und Manneskraft seinen Geist noch in voller Frische auf uns einwirken liessen. Später, freilich, als immer fühlbarer werdendes Alter und Krankheit, Körper- und Geisteskraft gebrochen hatten, verloren auch diese einst so schönen Stunden ihre Wirkung, und eine jüngere Generation, die nach uns auf denselben Bänken sass, blieb unberührt von dem Zauber dieses wirklich ungewöhnlichen Charakters, und mancher Funke, der schon verheissend zu glimmen begonnen hatte, erlosch wieder.
Schröters Verdienst liegt nicht in seinen intellektuellen Errungenschaften. Er war kein Denker, sondern ein Enthusiast und ein Charakter. Das erklärt zugleich seinen Erfolg wie seinen Misserfolg. Das Feuer seiner Begeisterung, seine unerschütterliche Hingebung an seine Ideale, seine edle Männlichkeit und Gesinnungstreue übten einen gewaltigen Einfluss auf seine Zuhörer aus, sie machten ihn zum ausgezeichneten Agitator und Organisator; aber sein verhältnismässig unwissenschaftlicher Geist, dem die Schärfe und die Ruhe des wahrhaft tiefen, systematischen Denkers und Gelehrten abging, machten ihn zum Lehrer des reiferen, fortgeschritteneren Teiles seiner Gemeinde auf die Dauer untauglich. Sie fühlten schliesslich, dass ihrem Geiste keine neue Nahrung mehr zugeführt wurde und die fortdauernde Exaltation, die zuerst mit fortgerissen hatte, ermüdete endlich. Er hätte auf einem grösseren, mehr dem Wechsel unterworfenen Gebiete, ungleich Grösseres geleistet, als ihm das auf dem engen Felde und der immer gleichen Zuhörerschaft Sauk Citys möglich war.
In einer, sich immer mehr der kalten Berechnung zuneigenden Zeit, wie der unsrigen, in der eine radikale Rekonstruktion der Gesellschaft zur immer grösseren Notwendigkeit wird, und die nur durch eine immer wachsende, lebenswarme Begeisterung für ein hohes Ideal vor sich gehen kann, tun uns Männer vom Schlage Schröters schmerzlich Not. An einer klaren Erkenntnis der Prinzipien, aufgrund derer eine solche Rekonstruktion stattfinden muss, fehlt es unter denkenden Menschen nicht mehr so sehr wie an feuerzüngigen Aposteln dieser Prinzipien, wie Schröter einer hätte sein können.
Unter all den traurigen Erfahrungen, die das Schicksal ihm nicht ersparte, war auch diese, dass er seinen eigenen Verfall, nicht nur körperlichen, sondern auch geistigen, mit klarer Erkenntnis desselben, erleben musste. Wie ein Trauerflor lag dieses Bewusstsein über den letzten Jahren seines Lebens, so tapfer er auch dagegen ankämpfte, und oft klagte er uns in tiefster Niedergeschlagenheit sein Leid. Das Allerschmerzlichste aber war, dass man, ob dieses Verfalls und anderer begleitenden Umstände, in seiner nächsten Umgebung seine früheren Verdienste fast vergessen konnte. Er wurde das zum grössten Teil unschuldige Opfer eines kleinstädtischen Parteienstreites, den hier zu erwähnen ich mich durch den Umstand berechtigt fühle, dass derselbe bereits in weiteren Kreisen Verbreitung gefunden hat. Die Motive, die mich leiten, sind einfach, das Andenken Schröters von allen kleinlichen, den Blick trübenden Nebenumständen zu reinigen. Wer ihn persönlich kannte und ihm mit unparteiischen Augen auf den Grund seines, mit so vielen der vorzüglichsten Eigenschaften ausgestatteten, für alles Wahre, Gute und Schöne stets erglühenden Herzens geschaut hat, wird seiner stets in Liebe und Verehrung gedenken, und dem wird es auch klar sein, dass eine [Wort unlesbar] Persönlichkeit nicht ohne Einfluss auf engere und weitere Kreise bleiben konnte. Wer kann es sagen, in wie vielen Köpfen seine edle Begeisterung nicht ein dauerndes Interesse für die höheren, idealeren Angelegenheiten der Menschen erweckt hat? Und auf zwei seiner Schüler wenigstens hat er noch tiefer eingewirkt. Auf sie war sein Einfluss geradezu bestimmend, insofern überhaupt ein Geist dem anderen eine Richtung fürs Leben geben kann.
Nachfolger in dem Sinne, in dem er selber sie sich wünschte, hat er keine. Es schmerzte ihn tief, dass keiner seiner liebsten Schüler sich das freigemeindliche Sprechertum zum Beruf erkoren hatte. Da er selbst niemals die Freiheit im einseitigen, religiösen Sinne auffasste und es stets als eine der Aufgaben der freien Gemeinden betonte, auch für politische und soziale Freiheit einzustehen, konnte er es nicht verstehen, dass der moderne Freiheitskämpfer sein Feld der Nützlichkeit nicht mehr innerhalb der freien Gemeinde finden könne, dass sich derselbe vielmehr sein Saatfeld auf einem andern Boden erst urbar machen müsse. Unsere Hoffnungen sind allerdings auch auf eine freie Gemeinde gerichtet, die wir aber nur anzustreben uns vorläufig begnügen müssen, da ihre Verwirklichung noch in der fernen Zukunft liegt. Diese freie Gemeinde wird nicht nur ohne die Kirche und ihre Gesetze, sondern auch ohne den Staat und seine Gesetze bestehen.
Schröter war, trotz seiner glühenden Freiheitsliebe, die Freiheit in dem Sinne, in dem wir sie auffassen, noch fremd. Weit entfernt jedoch, schlechthin als Utopie zu verdammen, was er nicht verstand, erkannte er vielmehr, dass die neue Anschauungsweise ein gründliches Studium verlange, das zu machen es für ihn zu spät war. Als ich vor wenigen Monaten, bei Gelegenheit meines Abschieds vom Westen, auch von ihm Abschied nahm, wohlfühlend, dass es das letzte Mal war, dass ich einen Kuss auf seine Lippen drücken würde, sagte er mir im Tone trauriger Resignation: „Ich verstehe den Anarchismus nicht, und meine Geisteskraft reicht nicht mehr aus, denselben gründlich zu untersuchen. Ich bin eine Ruine, ich kann nicht mehr denken.“ So herzergreifend traurig dieses Geständnis war, so war es mir doch ein wohltuendes Zeichen seiner intellektuellen Vorurteilslosigkeit. Mancher schon in verhältnismässiger Jugend verknöcherte Geist dürfte sich davor beschämt fühlen.
So ruhe denn im Nirwana, lieber alter Lehrer und Freund. Die Zeit wird die Erinnerung an Dich verklären, Deine Schwächen werden vergessen werden und die herrlichen, grossen Eigenschaften, die Dich lebend zum würdigen Vorbild machten, werden auch nach Deinem Tode ihren Einfluss nicht verlieren.
E.H.S.
(Libertas 4, Samstag, 5. Mai 1888, S. 4–5.)
Anmerkungen
Eduard Georg Schröter (1811–1888) war ein deutscher evangelischer Theologe und Mitbegründer der Freien Gemeinde in den USA. Nach seinem Studium der Theologie, Philosophie und Geschichte in Jena und Göttingen wurde er 1845 wegen seiner revolutionären Anschauungen aus der protestantischen Landeskirche des Königreichs Hannover ausgeschlossen und wurde Prediger des deutschkatholischen Vereins in Worms. Ihm drohte ab 1848 die Ausweisung aus dem Grossherzogtum Hessen und er wurde zusammen mit seiner Familie schliesslich 1850 ausgewiesen. Sie wanderten in die USA nach New York aus. Die Free Congregation of Sauk County besteht noch heute.