Freiheit und Herrschaft – Paul Berwig

Freiheit und Herrschaft.

Den Bauern eines gewissen deutschen Ortes wird nachgesagt, dass sie im Jahre 1848 in ihren Forderungen gegen die Regierung sehr extravagant gewesen seien. Als nämlich die Losung ausgegeben wurde: „Pressfreiheit, keine Zensur!“, da riefen sie: „Nichts da! Wir müssen alles haben, Pressfreiheit und Zensur!“

Das waren dumme deutsche Bauern, welche der, von Jugend auf in der Ausübung republikanischer Freiheit geübte, Amerikaner nur mitleidig lächelnd über die Achsel ansieht. Dazu hätte nun unser Amerikaner gar keine Ursache; denn über den Begriff der Freiheit ist er noch unwissender, als jene Bauern über die Pressfreiheit waren. Solange es Fortschritt gibt, hiess die Losung desselben: „Freiheit! Nieder mit der Herrschaft!“ Der Amerikaner aber sagt: „Nichts da, wir müssen beides haben, Freiheit und Herrschaft!“ Er scheint einen gewissen Stolz darein zu setzen, der Welt zu zeigen, dass man auch ohne Fürsten den vollen Genuss des Despotismus haben kann. Durch nichts kann sein republikanischer Unwille mehr angeregt werden, als wenn so ein dummer Grüner sich einbildet, dass er hier Manches tun dürfte, was ihm draussen nicht erlaubt war.

Zur rechtzeitigen Dämpfung solcher unerlaubten Freiheitsgefühle werden dem neuen Ankömmling, noch vor dem Betreten dieses gastlichen Gestades, gründlich die Sachen untersucht. Wenn er so sehen muss, dass sich hier eine hohe Obrigkeit um seine privatesten Privatangelegenheiten (selbst seine Leibwäsche nicht ausgeschlossen) bekümmern darf, werden ihm schon beizeiten seine ausländischen Freiheitsbegriffe vergehen. Wer sich nach diesen ersten Vorstudien auch noch eine Zeitlang mit der Philosophie des Temperenz- und Sonntagszwanges und ähnlicher schöner Einrichtungen befasst, der wird bald die Pointe der republikanischen Freiheit begriffen haben und kann an der Feier des vierten Juli mit dem vollen Verständnis und der ganzen Begeisterung eines echten Amerikaners teilnehmen.

Es ist nun einmal vorgekommen, dass ein Grüner, welcher diese Art Republikanismus sehr schnell und leicht begriffen hatte, sich überzeugt fühlte, dass man in seiner Heimat doch noch weiter darin sei. Dies veranlasste ihn, geringschätzig auszurufen: „Na, det is mer 'ne scheene Republik, nich mal keenen Keenig haben se hier!“

Diese Selbstüberhebung ist aber bei dem gesetz- und ordnungsgläubigen Amerikaner übel angebracht. „Du Grünhorn“, ruft er, „bildest Dir wohl ein, dass wir Republikaner nicht auch ohne König alles das tun können, was Ihr in Europa ohne einen solchen Herren gar nicht mehr fertigbringen könntet.“

„Wir hängen in einem Jahre mehr Menschen, als eins Eurer grössten Königreiche in zehn Jahren; ja, ausser dem konservativen England und teilweise dem heiligen Russland haben die Übrigen die gute alte Sitte des Hängens ja schon ganz aufgegeben.“

„An Stelle der wenigen Staaten, in welchen bei uns niemand mehr durch das Gesetz getötet werden darf, habt Ihr z. B. das ganze Königreich Italien, wo trotz der Existenz eines Königs auch kein Todesurteil mehr gefällt werden darf.“

„Unser Gerichtsverfahren ist ebenso langwierig, schwerfällig, kostspielig und unzuverlässig für Denjenigen, welcher sein Recht sucht, wie in dem konservativsten Eurer Königreiche.“

„Unser Gesetzes- und Aktenstil ist noch schwerfälliger, unverständlicher und mittelalterlich-pedantischer als irgendwo bei Euch.“

„Die Prügelstrafe blüht in den zivilisiertesten unserer Staaten.“

„Der Press- und Redefreiheit können wir, mit unseren Gesetzen gegen obszöne Literatur, gegen Gotteslästerung, gegen Injurien, etc., ebenso gut beikommen, wie Ihr mit Eurer Zensur. Ja, wenn es uns passt, können wir mittels der Verschwörungstheorie jemanden wegen seiner Worte und Schriften oder gar seiner Gesinnung an den Galgen hängen.“

„Für unsere 'wühlerischen Elemente' ist uns die bei Euch beliebte Ausweisungsmethode lange nicht radikal genug; wir lassen sie gar nicht fort, wenn sie auch wollten, sondern sperren sie in den Kerker oder hängen sie.“

„Bei uns darf jemand auf die geringste Anklage hin ohne Umstände verhaftet werden, und wenn er nicht folgen will, darf der betreffende Beamte irgendeine Gewalt anwenden, ihn selbst erschiessen.“

„Eure Könige sind doch immer nur die Regierer von Land und Volk; unsere Vanderbilts, Goulds und Konsorten dagegen sind die wirklichen Eigentümer und könnten, wenn sie es vorteilhaft für sich fänden, das ganze Volk zum Lande hinausjagen.“

„Die Sklaverei stand bei uns noch in voller Blüte, als Ihr selbst Eure Leibeigenschaft nicht mehr besasset; und Hexen wurden bei uns wenigstens ebenso lange verbrannt, wie bei Euch.“

„Bei Eurer zehnmal so dichten Bevölkerung kann das arme Volk immer noch existieren, während unsere Monopolisten es stellenweise jetzt schon dahin gebracht haben, dass sie den Proletariern die Existenzbedingungen ganz nach Belieben abschneiden könnten.“

„Für die Weiber unserer Bonanzakönige sind die kostbarsten Diamanten Eurer Fürstinnen nicht zu kostspielig.“

„Selbst Euren Militarismus können wir ohne König nachahmen; denn wir haben einen Krieg gehabt, bei welchem mehr Menschen umgebracht und mehr Wohlstand verwüstet wurde, als in Euren blutigsten Feldzügen“, etc.

Unter den Fittichen einer solchen republikanischen Freiheit wird sich mancher Einwanderer allerdings in seinen sanguinischen Erwartungen bitter getäuscht sehen, und man kann es den deutschen Landwehrmänner-Vereinen gar nicht so übel nehmen, wenn sie in Königsgeburtstagsfeiern, etc., einer gewissen Sehnsucht nach der alten Fürstenherrlichkeit Ausdruck verleihen. Das Gute muss man jenen Herren von Gottes Gnaden mindestens nachrühmen, dass sie ihre Stellung zur Freiheit offen und ehrlich eingestehen. „Dörchleuchting“ von Mecklenburg gab strengen Befehl, dass das verderbliche Wort „Freiheit“ nicht über seine Grenze gebracht werden dürfe, wie Fritz Reuter in seiner „Urgeschichte von Mecklenburg“, erzählt; der „alte Wilhelm“ verbat sich den Humbug, die Kriege von 1813 bis '15 „Freiheitskriege“ zu nennen, darum wurden sie in „Befreiungskriege“ umgetauft: Bismarck sandte dem hiesigen Kongress die Beileidsbeschlüsse über den Tod von Lasker, dem Freiheitskämpfer, wieder zurück.

Diese Handlungsweise lässt die genannten Herren dem Gesetz- und Ordnungsrepublikaner gegenüber immerhin in einem recht vorteilhaften Lichte erscheinen; denn, entweder ist die Freiheit das, was Letzterer darunter versteht (und dann wäre die Abneigung gegen sie nur lobenswert), oder sie ist etwas Anderes und Besseres; dann weiss man wenigstens, wie man mit den Herrschaften daran ist.

Die wahre Freiheit kann nun aber nicht der eben geschilderten Vorstellung des Gesetz- und Ordnungsrepublikaners entsprechen; denn die genannten Früchte, welche diese trägt, das sind die Früchte der Herrschaft. Wenn sich aber die Freiheit so gut mit der Herrschaft vertrüge, so würden die Herren von Gottes Gnaden eher eine Vorliebe als eine Abneigung gegen dieselbe an den Tag legen.

Die wahre Freiheit bedingt vielmehr die Abschaffung der Herrschaft, und das ist etwas Anderes und Besseres, als die Gesetz- und Ordnungsfreiheit.

Wenn wir zu dieser Einsicht gelangt sind, dann wissen wir, welchen Räubern wir die Freiheit abzuringen und gegen welche Feinde wir sie zu verteidigen haben. Über diese Räuber und Feinde schenken uns die Herren von Gottes Gnaden klaren Wein ein, und wenn ihre Niederwerfung auch keine Kleinigkeit ist, so ist mit der klaren Einsicht in die zu überwindenden Hindernisse doch schon der schwierigste Teil der Arbeit getan.

Ungleich gefährlichere und heimtückischere Feinde der Freiheit stehen uns dagegen in dieser Republik gegenüber, wo unter schnödem Missbrauch des Namens der Freiheit ihr Gegenteil, die Herrschaft, gelegt und gepflegt wird, während die aus der Herrschaft erwachsenden Übel der eigentlichen Freiheit zur Last gelegt werden. So werden wir zu unserem Leidwesen nur zu oft gewahr, dass selbst denkende und ehrlich strebende Menschen die Segnungen der Freiheit durch Erweiterung der Herrschaft zu erlangen suchen, während sie die Übel der Herrschaft durch Einschränkung der Freiheit zu beseitigen hoffen, und wenn sie mitten in der grössten Lobeshymne auf die Freiheit den präziseren Ausdruck für dieselbe, das Wort „Anarchismus“, hören, dann fahren sie erschrocken zusammen und verschliessen in abergläubischer Furcht ihr Ohr gegen alle Vernunftgründe.

Wo wir in der Geschichte den grössten humanen Fortschritt sehen, da sehen wir auch die grösste Freiheit; wo aber die grösste Freiheit erscheint, da ist die geringste Herrschaft. Ich will die Prüfung dieser Behauptung an den Tatsachen der Geschichte dem geneigten Leser überlassen.

Für mich stehen in Betreff der Freiheit zwei Tatsachen fest:
1. Dass wahre Freiheit nicht mit Herrschaft Hand in Hand gehen kann.
2. Dass Ungerechtigkeiten, welche scheinbar der Freiheit zur Last fallen und eine Einschränkung derselben rechtfertigen sollen, nicht der Freiheit, sondern einer Verletzung derselben entspringen.

Bezugnehmend auf No. 1 muss man die Freiheit als einen Zustand der Gleichberechtigung aller definieren. Jede Vergrösserung der Rechte des Einen über diese Grenze hinaus, bedingt eine Verminderung der Rechte anderer unter das Normalmass. Sobald man bei der Definition der Freiheit die Gesamtheit aus dem Auge verliert, kann man jede Tyrannei als Freiheit erklären und ihr jede Gewalttat zur Last legen. Eine absolute Freiheit, wie sie unverständiger und boshafter Weise als das anarchistische Ideal hingestellt wird, ist ein Unding. Absolute Freiheit kann immer nur einseitig sein; denn wenn der Eine alles tun darf, was er will, so dürfen die Anderen überhaupt nichts mehr wollen. Absolute Freiheit ist also identisch mit absoluter Herrschaft, welche für die Gesamtheit absoluter Verlust der Freiheit bedeutet. Zwischen diesem Extrem und der wahren Freiheit gibt es unzählige Zwischenstufen, in welchen die Herrschaft Einzelner immer einen entsprechenden Verlust an der Freiheit der Gesamtheit nach sich zieht.

Wenn man bedenkt, dass all diese verschiedenen herrschaftlichen Eingriffe in die Freiheit der Gesamtheit damit gerechtfertigt und begründet werden, dass sie die Rechte und Freiheiten der Einen gegen Übergriffe von Seiten Anderer schützen sollen, so erinnert das lebhaft an den berühmten Doktor Eisenbart, welcher die Beine, wenn sie vom Podagra ergriffen sind, abschneidet. Das beseitigt das Podagra gründlich. Schreiber dieses kannte einen sehr gesunden Mann, welcher sich erhängte aus Furcht, dass er die Schwindsucht bekommen möchte. Zu dieser Kategorie von Heilmitteln gehört auch die Herrschaft, wenn sie als Schutz der Freiheit dienen soll. Wo keine Freiheit übrig gelassen wird, da freilich kann sie auch nicht mehr verletzt werden.

Aber, wer ausser einer herrschenden Macht soll denn darauf sehen, dass von Einzelnen kein Übergriff in die Rechte und Freiheiten der Gesamtheit ausgeübt werde; die Menschen sind doch sowohl in Anbetracht körperlicher Stärke und geistiger Fähigkeiten, wie auch in Betreff ihres Gefühls für Recht und Billigkeit sehr verschieden? Ich muss nun gestehen, dass sich gerade der grösste Mangel an Gefühl für Recht und Billigkeit bei denen bemerkbar macht, welche nicht müde werden, uns immerfort diese Frage vorzuhalten und damit alle unsere Behauptungen widerlegt zu haben sich einbilden. Sie verlangen von uns, ihnen einen Zustand ganz idealer Vollkommenheit zu zeigen, ehe sie zugeben, dass er der jetzt üblichen Herrschaft vorzuziehen sei. Weil ohne Herrschaft der Eine sein Übergewicht an körperlicher Kraft oder geistiger Fähigkeit zur Beeinträchtigung der Freiheit des Anderen missbrauchen könnte, darum soll eine Herrschaft unbedingt nötig sein! Ich bin nun weit davon entfernt, zu behaupten, dass ein Zustand ideal gleichmässiger Freiheit (auch ohne Herrschaft) möglich wäre. Die natürlichen Unterschiede der Individuen sind vorhanden; sie werden und müssen sich bemerkbar machen. Ich frage nun aber: Beseitigt etwa die Herrschaft diesen Übelstand; ist sie nicht an und für sich schon eine Beeinträchtigung der Freiheit; sind die durch sie geschaffenen Übelstände kleiner oder grösser, als die, welche bei ihrer Abwesenheit eintreten würden?

Welches sind nun wohl die schlimmsten Beispiele, welche uns als die möglichen Folgen der Herrschaftslosigkeit genannt werden, und durch welche die Gesetz- und Ordnungsfreunde die Unmöglichkeit eines solchen Zustandes beweisen und illustrieren wollen? Das sind grausige Räubergeschichten, wie man sie von den „James Brothers“, „Williams Brothers“, „Younger Brothers“, „Billy the Kid“, etc., erzählt. Solche Dinge könnten und würden ohne Herrschaft vorkommen, darum ist die Herrschaftslosigkeit ein unmöglicher Gesellschaftszustand. Sonderbar, dass sich Leute mit ihren eigenen Argumenten so blamieren können, ohne es zu merken! Überall, wo diese Dinge vorgekommen sind, hat Herrschaft existiert; unter der Herrschaft konnten sie nicht nur vorkommen, sondern sind wirklich vorgekommen und tun es heute noch; demnach müsste nach dem vorigen Argument die Herrschaft erst recht unmöglich sein. Weiter: In den genannten Beispielen waren die Organe der Herrschaft, die Behörden, nicht im Stande, das Übel auszurotten, aber wenn für den besonderen Fall eine Herrschaftslosigkeit improvisiert wurde, wenn die Bürger auf eigene Faust vorgingen, und die Behörden dem Privatunternehmen freien Spielraum liessen, dann war bald der Schlussakt in der Räubergeschichte gespielt. Endlich: wenn die Behörden, nachdem die Arbeit von Anderen getan, wieder die Herrschaft antraten, boten sie den Verbrechern meistenteils Gelegenheit, der verdienten Strafe zu entschlüpfen, wie das Beispiel von Gouverneur Oglesby und Frank James recht auffallend zeigt.

In diesen Beispielen spricht also alles gegen die Herrschaft und zu Gunsten der Freiheit. Die Übel, welche in der Freiheit vorkommen könnten, kommen unter der Herrschaft wirklich vor; die Freiheit kann sie erfolgreicher bekämpfen; die Freiheit lässt das Recht nicht so korrumpieren, wie die Herrschaft.

All das Gute, welches die Herrschaft leisten könnte, leistet die Freiheit auch; zu vielen Schändlichkeiten aber, welche die Herrschaft immerfort begeht, ist die Freiheit nicht fähig. Im Namen der Herrschaft werden Gewalt- und Mordtaten begangen; die Opfer derselben sind aber zu keinem Widerstand berechtigt; gegen etwaige Rache ihrer Freunde und Anverwandten sind die Übeltäter geschützt; auch die Schande für die begangenen Verbrechen fällt nicht auf den Verbrecher, sondern auf sein Opfer. So ermöglicht die Herrschaft das Verüben ganz besonders schändlicher Verbrechen und hilft manchem, den seine natürliche Feigheit vor der gefährlichen Verbrecherlaufbahn bewahrt haben würde, über diese Schwierigkeit hinweg.

Geben wir daher immerhin zu, dass in der herrschaftslosen Gesellschaft Verletzungen der Freiheiten und Rechte vorkommen können und müssen, so haben wir doch begründete Ursache, die Herrschaftslosigkeit, als das kleinere Übel, der Herrschaft vorzuziehen.

Viele, die Obiges bereits einsehen können, verfehlen aber noch, in der Anhäufung des Besitzes in einzelnen Händen mit der entsprechenden Verarmung der Massen, etwas Anderes, als einen Auswuchs der Freiheit zu erblicken, und dies bringt mich zur Besprechung der weiter oben unter No. 2 angedeuteten Tatsache, dass nämlich Ungerechtigkeiten, welche scheinbar der Freiheit zur Last fallen und eine Einschränkung derselben rechtfertigen sollen, nicht dieser, sondern einer Verletzung derselben entspringen.

Die Eisenbahnmonopole, die Landmonopole, die Telegrafenmonopole, die Kohlenmonopole, die Monopole in allen Dingen, welche Menschen zur Existenz bedürfen, sollen entstanden sein, weil der Staat, die Herrschaft, sie nicht eingeschränkt habe. Wäre dem wirklich so, dann sollte man erwarten, dass die Monopolherren die eifrigsten Befürworter der Abschaffung des Staates wären; denn dann würden sie für immer der Sorge überhoben sein, dass es dem Staate je einfallen könnte, ihnen Beschränkungen ihrer Freiheit aufzulegen. Wir sehen aber, dass diese Herren für den Staat, die Herrschaft, förmlich schwärmen. Wie kommt denn das? Es wird uns so oft mit Pathos entgegengehalten, dass der Staat die Schwachen gegen die Starken schützen muss, und doch zittern die Starken nicht etwa vor dem Staat, sondern vor der Idee, dass derselbe abgeschafft werden könnte. Das erregt den Verdacht, dass der Staat nicht die Schwachen, sondern die Starken beschütze.

Sehen wir uns diese Starken etwas näher an. Die Vanderbilts, Goulds, Fields, etc., mögen immerhin an Intelligenz und Leistungsfähigkeit vor anderen Menschen hervorragen; ist dieser Unterschied aber demjenigen in ihren Besitz- und Machtverhältnissen entsprechend? Nimmermehr! Ein Mensch, und wäre er der talentvollste und tatkräftigste, kann, wenn er nur auf seine persönliche Leistungsfähigkeit angewiesen ist, kein Übergewicht über Zehntausende und Hunderttausende seiner Mitmenschen erlangen, wie es bei den Genannten doch tatsächlich der Fall ist. Hier ist dem eigenen Übergewicht noch eine fremde Potenz hinzugefügt, und das ist der Staat, die Herrschaft. Ohne Herrschaft könnten weder die Landlords in Irland, noch die Eisenbahnmagnaten, Kohlenbarone, Landmonopolisten, etc., in Amerika, ihr sogenanntes Eigentum halten und ihre Mitmenschen davon ausschliessen.

So löst also die Herrschaft ihre Aufgabe, den Schwachen gegen den Starken zu schützen. Sie schafft ein Monstrum von Stärke, indem sie auf der einen Seite die uneingeschränkte Freiheit bestehen lässt, und auf der anderen dieselbe so knebelt, dass sie gegen Übergriffe von Seiten der Ersteren absolut ohnmächtig ist.

Jetzt aber will die Herrschaft gerecht sein, und den Unterschied damit ausgleichen, dass sie die unbeschränkt gelassene Freiheit auch ein wenig knebelt, auf dass der damit getriebene Missbrauch nicht zu arg werde. Würde es nicht vernünftiger sein, die Knebel überhaupt fortzunehmen? Dann würden sich nicht so ungleiche Kräfte gegenüberstehen, und der Missbrauch der Freiheit könnte keine so ungeheuerlichen Dimensionen mehr annehmen.

Man hat noch nie gehört, dass durch das ungesetzliche Räuberhandwerk, auch wo es in höchster Blüte steht, eine allgemeine Kalamität über ein grosses und reiches Land gebracht worden wäre. Hierzulande erleben wir es aber alle paar Jahre, dass fünfzig Millionen Menschen eine Erschütterung empfinden, als sollte jedem Einzelnen der Boden unter den Füssen fortgezogen werden. Das ist oft die Tat eines einzigen jener Starken, gegen welche uns die Herrschaft so väterlich beschützt. Die ungesetzlichen Räuber dürfen ein gewisses Mass des Erträglichen nicht überschreiten, sonst rührt sich die Freiheit auf der anderen Seite, und stellt das Gleichgewicht wieder her. Doch da, wo die Herrschaft waltet, bleibt diese Freiheit unwirksam, und den geschützten Räubern braucht es erst bange zu werden, nachdem jene Herrschaft umgeworfen ist.

Diese Zustände, wie sie jetzt wirklich existieren, sie sind es, welche uns als die möglichen und wahrscheinlichen, schrecklichen Folgen des Anarchismus geschildert werden; sie kommen von absoluter Freiheit, welche aber nur unter absoluter Herrschaft möglich ist. Die wahre Freiheit ist mit Herrschaft unvereinbar, und wenn ihre ideale Form wegen natürlicher Verschiedenheiten der Individuen auch nicht durchführbar ist, so kann durch Herrschaft das Übel nicht verbessert, sondern nur verschlimmert werden.

Paul Berwig.

(Libertas 4, Samstag, 5. Mai 1888, S. 7–8.)

Anmerkungen