Was ist Anarchismus? – George Schumm

Was ist Anarchismus?

Ein Freund aus Milwaukee schreibt mir, dass er die erste Nummer von Libertas bis auf den Roman durchgelesen habe, ohne jedoch daraus entnommen zu haben, was wir unter Anarchismus verstehen. Das wirft nun ein zweifelhaftes Licht entweder auf die Schreibkunst der Redakteure und Mitarbeiter dieses Blattes oder auf die Auffassungsgabe meines Freundes. Tatsache ist, dass wir bestrebt waren, gleich in der ersten Nummer den Anarchismus als die Sache, die wir vertreten, genau zu definieren. Natürlich konnten wir nicht hoffen, dass uns nach allen Seiten hin ein volles Verständnis zuteilwerden würde, doch hatten wir bei dem intelligenten Leser auf einen kleinen Erfolg nach dieser Richtung gerechnet. Jedoch, was nicht ist, kann noch werden, und was dem ersten Wurfe nicht gelang, mag späteren Würfen gelingen.

Der leitende Grundsatz, von dem der Anarchismus ausgeht, ist die Selbstherrlichkeit des Individuums. In der Verwirklichung dieses Grundsatzes wird schliesslich alle Kultur gipfeln müssen. Schon Kant stellte diesen Grundsatz auf, als er in seiner Grundlegung zur Sittenlehre ausführte, man könne und dürfe sich in der Welt alles in seinen Dienst stellen und zu eigenem Vorteil ausbeuten, mit einziger Ausnahme des Menschen. Der Mensch ist sich Selbstzweck. Unter den Amerikanern hat Josiah Warren den Grundsatz von der Selbstherrlichkeit des Individuums – „the Sovereignty of the Individual“, wie er sich ausdrückt – am tiefsten begründet und in seiner diesbezüglichen Arbeit den Nachweis geführt, dass die allgemeine Anerkennung dieses Grundsatzes die unerlässliche Bedingung für den Frieden und das Wohlergehen der menschlichen Gesellschaft bilde. Ich glaube, mein Freund wird mir beipflichten, dass so lange das Individuum sein eigenes Tun und Lassen nicht selber bestimmen kann, sondern einem fremden Willen unterworfen ist, offenbare sich dieser nun durch einen anderen Menschen, durch die Familie, durch die Kirche oder durch den Staat, dasselbe seine volle Statur noch nicht erlangt hat. Die volle Statur aber zu erlangen, das verlangt der von der Natur in jedes Individuum gelegte Trieb. Eher gibt es für dasselbe weder Frieden noch Glück. Aus demselben Grunde werden sich die Vergewaltiger des Individuums stets gegen eine Empörung seitens desselben vorsehen müssen, denn die Natur fordert schliesslich immer ihr Recht. Auch für die Vergewaltiger des Individuums, mögen sie sich auf noch so grosse äussere Machtmittel stützen, gibt es daher weder Frieden noch Glück, bis sie dessen Selbstherrlichkeit anerkennen und achten lernen. Frieden und Glück aber ist das Ziel aller Lebewesen. Aufgrund solcher Anschauung postuliert der Anarchismus die Selbstherrlichkeit des Individuums.

Aus diesem obersten Grundsatz des Anarchismus folgen seine praktischen Forderungen von selber. Damit der Mensch seine selbstherrliche Stellung innerhalb der Grenzen, die ihm die Natur gesteckt hat, behaupten könne, müssen ihm die natürlichen Hilfsquellen des Lebens zur freien Benutzung offen stehen. Das Recht der Existenz, das man nicht bestreiten wird, schliesst in sich das Recht an die Mittel zur Existenz. Wo dem Individuum die natürlichen Existenzmittel vorenthalten sind, kann von einer Betätigung seiner Selbstherrlichkeit schlechterdings nicht die Rede sein. Es steht da unter der Herrschaft derjenigen, welche die natürlichen Existenzmittel in ihrer Gewalt haben. Der Anarchismus verurteilt daher notwendigerweise das Grund- und Bodenmonopol wie auch alle jene Privilegien, welche dem Individuum den Tribut des Zinses und des Profits auferlegen und dasselbe nicht in den Besitz des vollen Ertrags seiner Arbeit kommen lassen. Der hauptsächliche Grund, warum die Arbeit, die doch alle Werte erzeugt, selbst nie Werte besitzt über das Mass hinaus, welches das nackte Leben benötigt, liegt in der Privilegienherrschaft, verkörpert im Staat. Darin ist auch ausschliesslich die Erklärung der Tatsache zu suchen, warum Millionen von Arbeitern beschäftigungslos das Land durchstreifen, um Arbeit bettelnd. Wo den Menschen einesteils die Gelegenheit zur Arbeit abgeschnitten ist, und wo ihnen andernteils der Hauptertrag ihrer Arbeit gesetzlich abgenommen wird, da können sie nicht ihre volle Statur erlangen, da bleiben sie körperliche und geistige Krüppel, da gibt es für sie weder Frieden noch Glück, und da ruht die Gesellschaft auf einem Vulkan.

Auf dem Grundsatz von der Selbstherrlichkeit des Individuums fussend, verlangt der Anarchismus folgerichtiger Weise die Abschaffung der Privilegien- oder Monopolherrschaft, d. h. des Staats. Damit das Individuum von dem Tribut des Zinses befreit werde, fordert er die Freiheit des Kredits; d. h. er fordert, dass die Beschaffung des den Warenaustausch vermittelnden Geldes der freien Konkurrenz anheimgestellt werde, wie andere Geschäfte. Er verlangt, dass Gold und Silber demokratisiert und allen anderen Wertgegenständen gleichgestellt werden. Kann man die Fähigkeit der Privatinitiative, im Zustande der Freiheit ein unverzinsliches Warenaustauschmittel zu beschaffen, ernstlich infrage stellen? Wenn so, warum ist dann der Versuch dazu gesetzlich untersagt? Damit das Individuum von dem Tribut der Bodenrente befreit werde, die es selbst in unserem verhältnismässig jungen Lande bereits zu erdrücken droht, verwirft der Anarchismus den heutigen Privatgrundbesitz und anerkennt als alleinigen Besitztitel auf Grund und Boden persönliche Okkupation und Benutzung. Hieraus geht auch schon hervor, wie ich hier einschalte, dass der Anarchismus die Landreform nicht in der Weise von Henry George anstrebt. Jener würde den Bearbeiter des Landes im Besitze seines vollen Ertrags belassen, während dieser im Namen des Staats eine Steuer zum Betrage der ökonomischen Rente von ihm erheben würde. Und damit das Individuum von dem Tribut des Profits befreit werde, fordert der Anarchismus einen freien Markt. Im freien Markt wird es zum Austausch von Äquivalenten kommen, wobei der Profit wegfällt und die Arbeit in den Besitz ihres Ertrags gelangt.

Kreditfreiheit, freies Land und Handelsfreiheit bedingen die Abschaffung des historischen Staats und haben im Gefolge die Verwirklichung der Selbstherrlichkeit des Individuums.

Das ist aber, in grossen Umrissen, Anarchismus.

G. S.

(Libertas 4, Samstag, 5. Mai 1888, S. 5.)

Anmerkungen

Josiah Warren (1798–1874) war US-amerikanischer Sozialreformer, Musiker, Erfinder und Schriftsteller. Benjamin Tucker widmete Instead of a Book, seine Sammlung von Essays, dem Gedächtnis an Warren, „meinem Freund und Meister […] dessen Unterrichtungen meine erste Quelle des Lichts waren“. Warren lässt sich dem Mutualismus zurechnen, seine Ideen waren aber durchdrungen von einem Individualismus, der sich auf den Standpunkt stellte, dass die persönliche Freiheit nicht hinter der Organisation zurückstehen darf.