Vollkommene Menschen – Emma Heller Schumm
Vollkommene Menschen.
Das Gesellschaftssystem, das Ihr anstrebt, ist schon ganz recht für vollkommene Menschen, aber für Menschen, wie wir sie nun einmal haben, taugt es nicht. Solange die Menschen nicht besser, solange sie noch die Sklaven ihrer Leidenschaften und selbstsüchtigen Eingebungen sind, müssen sie regiert werden, da richten alle Eure schönen Redensarten nichts aus. So lautet einer der stereotypen Einwände des Staatsgläubigen. Zwar ist er schon oft widerlegt worden, da er aber immer und immer wieder gemacht wird, lohnt es sich am Ende der Mühe, nochmals darauf einzugehen.
Allerdings sind die Menschen herrschsüchtig, habsüchtig, streitsüchtig, unvollkommen, überklug auf ihren Vorteil bedacht oder kreuzdumme Opfer der Ausbeutung. Dass die gegenwärtigen Staatsformen und das auf sie basierte sozialökonomische System trefflich dazu angetan sind, gerade diese empfindlichen menschlichen Unvollkommenheiten so recht zu entwickeln und auf ganz gefährliche Weise zuzuspitzen, das weiss wohl jeder humane Staatsgläubige auch, der mit sehenden Augen sieht. Aber der Aberglaube, dass alles noch viel schlimmer sein würde ohne die Zuchtrute des Gesetzes, wurzelt so tief und fest wie jener andere Aberglaube einst wurzelte, dass alle Schrecken der Hölle unbedingt nötig seien, um das menschliche Tier zu zähmen. Schliesslich sind wir doch das Fegefeuer los geworden und sind nicht schlimmer daran als zu der Zeit, als es gleich einem Damoklesschwert über unserem Haupte hing und das Leben zur Qual machte. Im Gegenteil sucht jetzt selbst die intelligentere Christenheit, die Hölle loszuwerden, da sie deren demoralisierenden Einfluss auf die Menschen einsehen gelernt hat.
Sehen wir uns einmal die schlimmsten Schwächen der Menschen etwas näher an, und mutmassen wir ein wenig über die Chancen, die sich denselben in einem regierungslosen Gesellschaftssystem eröffnen mögen.
Für die Herrschsucht bleibt wohl nur wenig Hoffnung, denn wo keine Nachfrage ist, bleibt die Ware einfach liegen. Wo das Herrschen in Verruf gekommen, wo keine hervorragenden Stellungen, die Machtausübung ermöglichen, mehr einzunehmen sind, wie soll da diesem liebsten Kinde des Staates sein Recht werden? Auf den Aussterbeetat mit ihm; von dieser Seite droht der Anarchie keine Gefahr.
Der Habsucht, mit ihrem Gefolge von Übeln gross und klein, scheint aber, auf den ersten Blick, umso freieren Spielraum gegeben. Doch auch dieser ist, wie sich bei näherer Untersuchung ergibt, mit dem Staate nur die Hauptstütze entrissen. Ohne Staat wird es keine staatsgeschützten Eigentums- und Geldprivilegien mehr geben und mit dem Zins werden wir auch glücklich den Profit und die Grundrente los geworden sein. Will man also etwas mehr erhaschen, als man durch seiner Hände und seines Geistes Arbeit erwerben kann, so wird das nicht mehr durch pfiffige Spekulation gelingen, und man muss sich schon zu einem tatsächlichen Einbruch oder Raubmord herbeilassen, oder durch einen Kunstgriff den Inhalt fremder Taschen zu dem der seinigen machen. Wie sieht aber das Stehlen gleich hässlicher aus, wenn es unmittelbar und ohne gesetzlichen Freibrief geschehen muss; es schadet unserem Ansehen unter unseren Nachbarn, und auf Respektabilität hält man doch etwas. Es gibt aber genug andere, die noch nicht auf diesem erhabenen Respektabilitätsstandpunkt angelangt sind, und die, in der Abwesenheit abschreckender Strafgesetze, frisch darauflos stehlen, rauben, morden. Wir werden sehen.
Emerson sagt über das Pioniersleben in Kalifornien zur Zeit, es „die beste Regierung hatte, die jemals existierte“ – nämlich gar keine:
Pfannen Goldes lagen zum Trocknen vor jedem Zelte in vollkommener Sicherheit. Das Land war in kleinen Streifen, wenige Fuss breit, vermessen. Ein Stückchen Grund, das mit der Hand bedeckt werden konnte, am Rande deines Streifens, war ein- bis zweihundert Dollars wert; und niemand bestritt deine Ansprüche. Jeder Mann durch das ganze Land war mit Messer und Revolver bewaffnet, und man wusste, dass jedes Vergehen von einer augenblicklichen Justiz ereilt werden würde; und es herrschte vollkommener Friede.
„Für die Gemütlichkeit bei einem solchen Frieden danke ich“, ruft da mancher sanfte Bürger aus, dem bei Erwähnung der Revolver eine Gänsehaut überläuft. „Da ist mir der Knüppel des Polizisten doch noch lieber.“ Auch wenn er auf Instigation reicher Diebe nach Willkür arme Arbeiter verknüppelt?
Man bedenke, dass die Pioniersbevölkerung des Goldlandes Kalifornien aus einem meist rohen, abenteuerlichen Element bestand, dessen Haupt, wenn nicht ausschliessliches Sinnen und Trachten nach Reichtum war. Ist es in Anbetracht dieser Tatsachen dann so schwer, sich ein geordnetes, bürgerliches Zusammenleben ohne Regierung und Gesetze vorzustellen, dessen Individuen nicht aus leidenschaftslosen, vollkommenen Menschen bestehen, sondern aus eben solchen fehlerhaften, mit mancherlei gemeinschädlichen Neigungen und selbstsüchtigen Interessen ausgerüsteten Geschöpfen wie wir selber, und die sich wohl zu schützen wissen werden gegen Eingriffe in ihr Eigentum, ihre persönliche Sicherheit, Bequemlichkeit und Freiheit?
Natürlich fehlt es in einem anarchistischen Gemeinwesen auch nicht an Solchen, die ihre Freiheit zu missbrauchen trachten werden. Die Möglichkeit, es auf die eine oder andere Weise zu tun, würde wahrscheinlich jedem Einzelnen von uns oft genug nahe liegen – möge der „Freidenker“ mit seiner eigensinnigen Wiederholung, dass Anarchie ein mit der Menschennatur gar nicht rechnendes Zukunftsideal sei, besondere Notiz hiervon nehmen – wenn wir nicht wüssten, dass unsere wachsamen Nachbarn uns bei jedem Übergriff auf die Finger klopfen würden. „Tue, was du willst“, ruft jeder dem Anderen zu, „merke dir aber, dass ich auch dasselbe Recht habe, zu tun, was ich will, und dass ich es nicht dulden werde, dass du meine Rechte schmälerst, oder mich und die Meinen im friedlichen, harmlosen Lebensgenuss störst.“
Das Kostenprinzip, das die ökonomische Grundlage des anarchistischen Gesellschaftssystems bilden wird, wonach alle Werte nach der zu ihrer Herstellung erforderlichen Zeit und Arbeitskraft bestimmt werden, und das allen Menschen Gerechtigkeit und ökonomische Gleichheit sichern wird, wird auch in gewissem Sinne der Regler des geselligen Zusammenlebens sein. „Was immer du tust“, wird es da heissen, „tust du auf deine eigenen Kosten. Riskiere es, das Eigentum oder die Person deines Nachbarn auf irgendeine Weise absichtlich zu gefährden, und trage die unausbleiblichen Folgen.“
Wir behaupten sogar, dass es weniger möglich sein wird, sich ungestraft an seinem Nächsten zu versündigen, als das jetzt der Fall ist, und dass wir zu dieser Folgerung berechtigt sind, weil wir eben mit der Menschennatur wie sie ist, rechnen und nicht, weil wir eine dem anarchistischen Ideal vermeintlich entsprechende Verbesserung annehmen. Doch, obgleich wir keine vollkommenen Menschen voraussetzen, haben wir doch die feste Zuversicht, dass sich in anarchistischer Freiheit ein geistig und körperlich schöneres, kräftigeres, edleres Geschlecht entwickeln wird als es jemals die Erde getragen hat.
Vieles wird aus unserem Moralkodex gestrichen werden müssen, was jetzt dort als Sünde verzeichnet steht, nicht weil die Menschen sich so sehr vervollkommnet haben werden, sondern weil die Vergehen, wenn es überhaupt Vergehen sind, rein persönlicher Natur sind, keiner zweiten Person zum Schaden gereichen – Übertretungen der Naturgesetze weiss die Natur selbst zu bestrafen – und nur insofern Ärgernis geben, wie sie mit unseren konventionellen Vorurteilen in Konflikt geraten. Diese Vorurteile sind in manchen Köpfen so gross, dass die Welt aus den Fugen zu gehen droht, wenn denselben nicht genug getan wird, und nur durch einen Moralkodex, dessen Befolgung durch Staatsgewalt erzwungen werden kann, zusammengehalten wird.
Eine Vollkommenheit, die diesen Vorurteilen entspräche, wäre allerdings eine Ungeheuerlichkeit ganz in dem Sinne des „Freidenkers“, und eine treffliche Staffage zu dem höchst lächerlichen Bilde eines vollkommenen Zukunftsstaates, wie er es seinen Lesern vorführt. Gottlob! Dem anarchistischen Zukunftsideal droht keine Gefahr von Seiten der Gähnkrämpfe, denn in der Anarchie wird „ewige Wachsamkeit der Preis der Freiheit“ sein.
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muss.
E.H.S.
(Libertas 3, Samstag, 21. April 1888, S. 5 und 8.)