Wiederholte Vermeidung der Kernfrage – Benjamin R. Tucker

Wiederholte Vermeidung der Kernfrage.

Wie ich erwartet hatte, sträubt sich Herr Most in seiner Kontroverse mit mir über Privateigentum, Kommunismus und Staat noch so sehr wie je, auf den Kernpunkt der Sache einzugehen und den Versuch zu machen, meinen eigentlichen Standpunkt zu untergraben, und als einzige Antwort auf meine Herausforderung, das zu tun, versteckt er sich hinter dem Namen von Marx, nicht einmal auf eigene Rechnung den Gebrauch der Waffen wagend, mit denen letzterer jenen Standpunkt angriff. Herr Most hatte versprochen, sich zu Gunsten des Privateigentums zu erklären, wenn ich ihm beweisen werde, dass dasselbe mit Grossbetrieb ohne Ausbeutung der Arbeit vereinbar sei. Er hatte mich allerdings gewarnt, ihn zu diesem Zweck nicht auf Proudhons Banksystem zu verweisen. Aber ich erwiderte, dass er verpflichtet sei, meine Proposition aufgrund irgendeines Beweises, den ich vorbringen würde, zu akzeptieren oder aber die Hinfälligkeit meines Beweises zu demonstrieren, mit anderen Worten, dass er meine Beweisführung nicht zurückweisen könne, ohne sie vorher zu widerlegen. Dann sagte ich ihm, dass meine Beweisgründe genau in jenem Prinzip der Freiheit und der Organisation des Kredits beständen, welches in Proudhons Banksystem oder anderen Systemen ähnlicher Natur zum Ausdruck gelange, und ich verwies ihn auf eine unlängst veröffentlichte Abhandlung, in welcher ich den Prozess auseinandersetzte, durch welchen der frei organisierte Kredit den Wucher – d. h. die Ausbeutung der Arbeit – abschaffen und den Grossbetrieb mehr als je erleichtern würde, ohne das Privateigentum anzutasten.

Nun sollte man doch annehmen, dass in der hierauf erfolgten Antwort der angedeutete Prozess einer Prüfung unterworfen und der Fehler in demselben aufgedeckt werde. Aber hat sich Herr Most diese Mühe genommen? Nicht er. Seine einzige Antwort ist, dass er Proudhons Banksystem seit Marx für abgetan halte, dass dasselbe fünfzig Jahre hinter unsrer Zeit liege, und dass es durchaus nicht einleuchtend sei, dass die Behauptung irgendetwas für sich habe, dass unter den heutigen Vermögensungleichheiten ein jeder kreditfähig werden könne. Nein, Herr Most, und es ist auch durchaus nicht einleuchtend, dass je eine solche Behauptung von irgendeinem vernünftigen Verfechter der Organisation des Kredits aufgestellt worden ist. Die eigentliche Behauptung ist nicht, dass mit der Abschaffung der Monopolisierung des Kredits jedermann sogleich kreditfähig werden würde, sondern dass, wenn aller oder die Hälfte oder ein Viertel des Kredits, der unter einem freien System auf der Stelle disponibel wäre, zur Nutzanwendung gelangte, der Produktion und dem Unternehmen ein grosser Vorschub gegeben würde, welcher allmählich die Nachfrage nach Arbeit vervielfältigen und folglich den Arbeitslohn erhöhen und in letzter Folge die Zahl kreditfähiger Leute derartig vergrössern würde, bis schliesslich jeder Arbeiter imstande wäre, seinem Arbeitgeber zu erklären: „Sehen Sie, Boss, Sie sind ein guter Geschäftsführer und ich bin willens, unter ihrer Leitung auf einer streng rechtlichen Basis weiterzuarbeiten; aber sofern Sie sich nicht mit einem Ihrer Arbeitsleistung entsprechenden Anteil an unserm gemeinschaftlichen Produkt zufriedengeben und mir den Rest für meine Arbeitsleistung überlassen, werde ich nicht länger für Sie arbeiten, sondern ein eigenes Geschäft eröffnen mit dem Kapital, das ich jetzt auf meinen Kredit hin erlangen kann.“ Herrn Mosts Verdrehung der Behauptungen der Freunde des Freibankwesens zeigt, dass er deren Argumente oder System nicht kennt, was vielleicht auch seine Unwilligkeit erklärt, denselben anderswie zu begegnen, als durch ewige Wiederholungen des Zaubernamens Marx. Proudhons Banksystem mag fünfzig Jahre hinter der Zeit zurück sein, aber es liegt offenbar weit vor dem Punkt voraus, den Herr Most auf dem Pfade seiner ökonomischen Untersuchungen erreicht hat.

Selbst noch mehr auf der Hut ist der vorsichtige Redakteur der „Freiheit“ bei der Umgehung der folgenden Frage, die ich à propos seines Versprechens an ihn stellte: „Wenn der Kommunismus, wie Herr Most gewöhnlich behauptet, der Freiheit wirklich keinen Abbruch tut und an und für sich solch eine gute und vollkommene Sache ist, warum ihn dann fallen lassen zu Gunsten des Privateigentums, einfach weil die Möglichkeit nachgewiesen ist, dass letzteres nicht notwendigerweise die Ausbeutung der Arbeit bedinge? Sich bereit erklären, dies zu tun, heisst offenbar das Zugeständnis machen, dass, abgesehen von der Ausbeutung, das Privateigentum dem Kommunismus vorzuziehen ist und dass, unter Voraussetzung der Ausbeutung, der Kommunismus nur als das kleinere Übel gewählt wird.“ Herr Most wusste, dass er nimmermehr zugestehen dürfe, dass der Kommunismus die Freiheit beschränke. Doch konnte er die Frage nicht beantworten, ohne dies Zugeständnis zu machen. So liess er sie denn wohlweislich unberücksichtigt.

Aber was sagt er denn in seinem drei Spalten langen Artikel?

Nun, um einen Punkt zu erwähnen, versucht er, seine Leser glauben zu machen, dass ich meine mehr suggestiven als konklusiven Bemerkungen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, dass der kommunistische Standpunkt, gegründet wie er ist auf der Voraussetzung der Notwendigkeit grosser Kombinationen zwecks Grossbetriebs, bald untergraben werden möchte infolge der neuerdings sich kundgebenden Tendenz nach Vereinfachung und Wohlfeilmachung der Maschinen – ich sage, er versucht seine Leser glauben zu machen, dass ich diese Bemerkungen als ein wesentliches Glied in der Kette meiner Argumentation anführte. „Aufgrund solcher Einbildungen“, bemerkt er, „sollen wir uns überzeugen lassen, dass der privat-kapitalistische Anarchismus dem anarchistischen Kommunismus vorzuziehen sei“, ohne auch nur mit einem Worte meine ausdrückliche Erklärung zu beherzigen, dass ich die Idee auswarf, wofür sie wert war und sie als für meinen Standpunkt nicht wesentlich bezeichnete.

Nichtsdestoweniger ist es nicht leicht einzusehen, warum er diese Idee als so gänzlich chimärisch betrachten solle, da ihm doch bei dem Versuch, den Kommunismus als praktisch ausführbar hinzustellen, die Voraussetzung so leicht wird, dass die Zeit nicht mehr ferne sei, wo es einen solchen Überfluss an Produkten geben wird, dass die Individuen nicht mehr daran denken werden, sich über den Besitz derselben herumzustreiten, sondern wie Vögel im Hanfsamen leben werden. Von den beiden Hypothesen erscheint mir die letztere als die fantastischere. Gewiss werden noch grosse Fortschritte in der Richtung der Arbeitsersparung gemacht werden, und ich bezweifle nicht im Geringsten, dass bei einer besseren Gesellschaftseinrichtung jeder gesunde Mensch dereinst imstande sein wird, sich eine komfortable Existenz mittels sehr weniger Stunden Arbeit täglich zu erringen. Aber dass je ein solches Verhältnis zwischen menschlicher Arbeit und den Gegenständen menschlichen Verbrauchs obwalten wird, wie es jetzt zwischen Vogelarbeit und Hanfsamen besteht, oder dass Grund und Boden und anderes Kapital je in solchem Überfluss vorhanden sein werden, wie das bei Wasser, Luft und Licht der Fall ist, kann nicht zugegeben werden.

Sollten jedoch die Mittel zum Leben je so gänzlich ausser Beziehung mit menschlicher Arbeit geraten, dass alle Menschen sich zum gesamten Reichtum etwa in ähnlicher Weise verhalten werden, wie sie sich heutzutage zur Luft verhalten, dann werde ich zugeben, dass, soweit der materielle Genuss in Betracht kommt, der Kommunismus praktisch ausführbar (ich sage nicht, ratsam) sein wird, ohne Gefahr für die Freiheit. Bis dahin aber, darauf muss ich bestehen, wird seine Verwirklichung und Aufrechterhaltung einen Staat bedingen.

Doch, fragt mich Herr Most, wenn die Respektierung des Privateigentums denkbar ist ohne den Staat, warum ist dann der Kommunismus nicht ebenso denkbar? Einfach, weil die einzige Gewalt, die je nötig sein wird, um die Respektierung des Privateigentums zu sichern, die Gewalt der Defensive ist, die Gewalt, welche den Arbeiter im Besitze seines Erwerbs oder im freien Austausch desselben schützt, während die Gewalt, welche die Sicherung des Kommunismus benötigt, die Gewalt der Offensive ist, die Gewalt, welche den Arbeiter zwingt, seine Produkte mit den Produkten Aller zusammenzuwerfen und ihm verbietet, seine Arbeit wie seine Produkte zu verkaufen. Nun ist aber die Gewalt der Offensive das Prinzip des Staates, während die Gewalt der Defensive eine Seite des Prinzips der Freiheit ist. Das ist die Erklärung, warum das Privateigentum nicht einen Staat bedingt, während der Kommunismus ohne denselben unmöglich ist. Herr Most scheint von dem wirklichen Wesen des Staates so wenig zu verstehen wie von Proudhons Banksystem. Er bekundet sich in seiner Opposition gegen den Staat nicht als ein intelligenter Bekämpfer der Autorität, sondern einfach als ein Rebell gegen die bestehenden Gewalten.

Aber wozu sich überhaupt mit ihm in eine Kontroverse einlassen? Gesteht er nicht gleich im Anfang des Artikels, den ich hier bespreche, zu, dass er sich vergeblich „an den Kopf gefasst“ habe, dass sein Gehirn sich weigere, meine Unterscheidung zwischen dem individuellen Besitz seines Erwerbs seitens des Arbeiters einerseits und der Summe der gesetzlichen, den Inhabern des Reichtums gewährten Privilegien anderseits zu fassen? Ist da noch Hoffnung, dass solch ein Geist je ein ökonomisches Gesetz fassen wird? Der Grund, den er für seine Unfähigkeit, diese Unterscheidung zu erkennen, anführt, liegt in seiner Überzeugung, dass Privatbesitz und Privilegium untrennbar seien. Je mehr die Einen ihr Eigen nennen, sagt er, desto weniger können Andere imstande sein, zu besitzen. Das ist nicht der Fall, wo alles Eigentum sich auf die Arbeit gründet, und ich begünstige kein anderes Eigentum. Das gilt nur von dem auf wucherbasierten Eigentum. Aber der Wucher, wie bereits gezeigt wurde, beruht auf dem Privilegium. Wenn das Eigentum des Einen durch die verstärkte Produktivität seiner Arbeit anwächst, wächst auch das Eigentum Anderer, statt sich zu verringern, in nahezu demselben Grade. Dieses Jahr produziert A 100 an Hüten und B 100 an Schuhen. Jeder verbraucht 50 seines eigenen Produkts und tauscht die übrigen 50 aus gegen die übrigen 50 des Andern. Gesetzt nun, A’s Produktion bleibe sich für das nächste Jahr gleich, während diejenige B’s, ohne Extraarbeit, auf 200 steige. In diesem Falle werden A’s übrige 50, statt wie in diesem Jahr gegen B’s übrige 50 aufzugehen, gegen 100 von B’s Produkt aufgehen. Unter dem Privatbesitztum und in Abwesenheit des Wuchers bedeutet ein Mehr für den Einen nicht ein Weniger für den Andern, sondern ein Mehr für alle. Wo bleibt da das Privilegium?

Aber es kümmert Herrn Most eigentlich wenig, wie ein Mensch in ökonomischen Angelegenheiten denkt. Ihm ist jeder ein Bundesgenosse, der im Dynamit das Universalheilmittel erblickt. Wenn ich auch beweisen sollte, dass die Verwirklichung meiner ökonomischen Ansichten unser Gesellschaftssystem auf den Kopf stellen würde, er würde mich dennoch nicht als ein Revolutionär ansehen. Er erklärt rundweg, ich sei kein Revolutionär, weil ich bei dem Gedanken an die kommende Revolution (mittels Dynamit, meint er) eine Gänsehaut bekomme. Nun, ich gestehe freimütig, dass ich an dem Gedanken an Blutvergiessen, Verstümmelung und Tod keinen Gefallen finde. Meine Gefühle empören sich bei dem Gedanken an diese Dinge. Und wenn der Gefallen daran das Erfordernis eines Revolutionärs ist, dann bin ich kein Revolutionär. Wenn Revolutionär ein Synonym für Kannibale wird, dann schliessen Sie mich gefälligst aus. Aber obgleich sich meine Gefühle empören, so stehe ich doch nicht unter ihrer Herrschaft und gestatte ihnen nicht, mich zu einem Feigling zu machen. Mehr als vor Dynamit und Blut schrecke ich vor dem Gedanken eines permanenten Gesellschaftssystems zurück, welches das langsame Sterben und Verderben der fleissigsten und verdienstlichsten seiner Mitglieder zur Notwendigkeit macht. Sollte ich je überzeugt werden, dass eine Politik des Terrorismus befolgt werden müsse, um unser heutiges Gesellschaftssystem zu stürzen, so würden die lautesten Schreier nach Blut unserer Tage mich nicht in dem Stoizismus übertreffen, mit welchem ich dem Unvermeidlichen entgegensehen würde? In der Tat, konsequent bis ans Ende, habe ich die Überzeugung, dass unter solchen Umständen manche, die mich heute für hasenherzig halten, die Steinherzigkeit verurteilen würden, mit welcher ich jedes Gefühl des Mitleids den Forderungen des Terrorismus opfern würde. Es ist also weder Furcht noch Sentimentalität, was mich zur Opposition gegen die Anwendung der Gewalt bestimmt. Wie stupid, wie ungerecht daher von Herrn Most, mich als vor der sozialen Revolution drei Kreuze schlagend hinzustellen, einfach weil ich beharrlich gemäss meiner wohlbekannten Überzeugung handle, dass die Gewalt in der Volkswirtschaft die Wahrheit nicht an die Stelle der Lüge zu setzen vermag.

T.

(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 4–5.)

Anmerkung

Tucker führt hier seine Diskussion mit Johann Most fort, welche in der Libertas 2 begann.