Freidenkeriana – George Schumm
Freidenkeriana.
Noch ehe Libertas das Licht der Welt erblickt hatte, erhob der „Freidenker“ seine Warnung gegen die Angekündigte. Er stellte sie als eine Verführerin hin, die gekommen sei, um unschuldige Herzen zu vergiften. Er meinte, sie könne nur Verwirrung in den Köpfen der Menschen anstiften und zu Unheil führen. Deshalb konnte er ihr auch kein günstiges Prognostikon stellen. Die für die bedrohte Unschuld zur Schau getragene Fürsorge war rührend. Als Libertas dann dennoch ihr Erscheinen machte, unterliess es der Freidenker, „sie irgendwie zu begrüssen oder auch nur mit einem Worte zu erwähnen, obwohl es ihm nicht unbekannt war, dass in dem neuen Blatte, was sonst auch seine Mängel sein mochten, das ganze Fühlen und Denken redlich strebender und nicht gerade auf den Kopf gefallener Menschen zum Ausdruck kam. Da gewöhnte ich mich allmählich an den Gedanken, dass sich der Freidenker“ nach dem Beispiel grosser Männer Libertas gegenüber in tiefes Schweigen zu hüllen entschlossen habe, um sie auf diese Weise seine ganze Geringschätzung fühlen zu lassen. Darin habe ich mich aber geirrt. Denn noch ehe Libertas im heissen Kampf der Freiheit sich ihre Sporen verdient hat, widmet ihr der „Freidenker“ plötzlich und ganz unerwartet eine längere Besprechung. Aber was für eine! Ich habe mich darüber zu beklagen, dass er in dieser Besprechung das Goethe’sche Xenion:
Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter,
zu getreulichst befolgt zu haben scheint. Wenigstens sind es hauptsächlich Gespenster, gegen die er zu Felde zieht.
Gleich im Anfang seiner Besprechung vermisst sich der „Freidenker“ zu dem Urteil, dass Libertas „in sehr unklarer und widerspruchsvoller Weise“ für den Anarchismus Propaganda mache. Ein solches Urteil käme nur einem Anarchisten oder doch nur einem Manne zu, welcher die Sache gründlich kennt, die Libertas vertritt. Der „Freidenker“, wie aus seinen Einwänden erhellt, versteht diese Sache nicht und sein Urteil über die Art und Weise, in welcher Libertas dieselbe vertritt, steht denn auch just auf derselben Stufe, wie das Urteil eines Stockkatholiken über die freidenkerische Propaganda des Atheismus. Überhaupt scheint der „Freidenker“ in der Bekämpfung des Anarchismus seine Waffen aus dem Arsenale der kirchlichen Gegner der natürlichen Weltanschauung zu holen. Er bekämpft die Opposition gegen den Staat mit genau denselben Argumenten, mit welchen einst die Dunkelmänner die Opposition gegen die Kirche bekämpften. Darüber braucht man sich übrigens nicht zu verwundern; denn gerade wie der gläubige Christ von der Zerstörung des Gottglaubens die Entfesselung aller bösen Triebe und die Auflösung der menschlichen Gesellschaft befürchtet, so prophezeit der „Freidenker“ von der Abschaffung des Staats das Hereinbrechen eines sozialen Chaos. Ich aber würde mich schämen, wenn ich noch im Banne dieses Aberglaubens stände.
Der Anarchismus, wie ihn der „Freidenker“ allwöchentlich seinen Lesern vorführt, ist allerdings eine Utopie. Nun hat Herr Boppe unstreitig das Recht, allerlei unmögliche Gedankendinge zu schaffen und dieselben zu eigenem Vergnügen wie zum Vergnügen seiner Leser wieder zu zerstören. Ganz unzulässig aber ist es, seine Auffassung des Anarchismus, ein von ihm willkürlich geschaffenes Gedankending, den Anarchisten unterzuschieben und letztere für den von ihm selber zu Tage geförderten Unsinn verantwortlich zu machen. Das ist nicht allein unrecht, das ist auch unehrlich. Wenn es dem „Freidenker“ Spass macht, meine Ansichten als aberwitzig zu charakterisieren, so mag er das immerhin tun; aber ich bestehe darauf, dass er seinen Lesern auch meine wirklichen Ansichten und nicht eine Fälschung derselben darbiete. Noch nicht ein einziges Mal habe ich den Anarchismus von dem Redakteur des „Freidenker“ unparteiisch und leidenschaftslos als Das dargelegt gesehen, als was er von den Anarchisten selber ausgegeben wird. Er verhält sich zu ihm in ähnlicher Weise, wie sich bis vor kurzem die christlichen Pfaffen zur Entwicklungslehre verhalten haben.
Weil er sich willkürlich ein Zerrbild des Anarchismus zurecht pinselt und sich beharrlich weigert, denselben im Sinne seiner intelligenten Bekenner aufzufassen, kann er es nicht verstehen, wie ich einer nach freiem Übereinkommen vereinbarten Organisation zum Schutze des auf der Arbeit begründeten Eigentums das Wort reden könne, während ich doch den Staat verwerfe. Darin erblickt er einen Widerspruch. Das kann er aber nur tun, indem er „Staat“ und „freiwillige Organisation“ in einen Topf wirft. Ich weiss nicht, was ich von dem Unterscheidungsvermögen eines Mannes halten soll, dem der zwischen den angeführten Kategorien obwaltende wesentliche Unterschied nicht sofort in die Augen springt. Zum tausendsten Mal, der Anarchismus schliesst die freiwillige Organisation zur Sicherung aller im Gebiet der wahren Freiheit liegenden Zwecke nicht aus. Was in aller Welt sollte Menschen, welche sich zu dem auf der Arbeit begründeten Eigentum wie zu der vollkommenen, gleichen Freiheit bekennen, verhindern, sich zu Schutz und Trutz freiwillig zu organisieren? Eine solche freiwillige Organisation ist aber nicht gleichbedeutend mit Staat. Der Staat, der historische Staat, beruht nicht auf einem Vertrag, wie einige Philosophen lehren, zumal nicht auf einem freiwilligen Vertrag. Er schliesst vielmehr jeden Gedanken der Freiwilligkeit aus und stützt sich auf die pure, nackte Gewalt. Der Staat verneint das auf der Arbeit begründete Eigentum – kennt der „Freidenker“ anderes Eigentum an? – wie die vollkommene, gleiche Freiheit der Individuen, indem er mittels Gewalt und Willkür in der Form von Bodenrente, Kapitalzins und Profit das Fremdentum schafft. Der Staat ist also das direkte Gegenteil der anarchistischen, freiwilligen Organisation. Wie unstatthaft, daher, letztere mit dem Staat zu identifizieren! Ich wenigstens fühle mich unter einem logischen Zwang, zwischen einer freiwilligen Organisation zur Sicherung und Förderung bestimmter vernünftiger und gerechter Zwecke und dem Staat zu unterscheiden, gerade wie ich auch zwischen einer freien Gemeinde und einer katholischen Kirchengesellschaft zur Zeit der Innocense unterscheide.
Nach dieser Ausführung dürfte es dem „Freidenker“ auch einleuchten, dass der Anarchismus nicht eine Rückkehr zur Natur im Sinne Rousseaus anstrebt, wie er in letzter Zeit wiederholt behauptete. Die Haltlosigkeit des Rousseau’schen Standpunktes ist wohl von niemand schärfer betont worden, als von Proudhon, dem eigentlichen Begründer des Anarchismus. Wie der „Freidenker“ das Märchen vom Urzustand als das Ideal des Anarchismus darstellen konnte, ist eins von den Dingen, die kein Mensch erklären kann.
Ferner, „wenn die Redakteure der Libertas zeitweilig die Diktatur ausüben könnten, so wären sie unfähig, Gesellschaftszustände zu schaffen und zu erhalten, die nicht aus der Volksinitiative hervorgegangen wären.“ Das hält der „Freidenker“ uns vor! Haben wir denn das je geleugnet und geht es auch nur aus einem unsrer Worte hervor, als ob wir uns etwas von der Ausübung einer Diktatur versprächen? Was sich Herr Boppe eigentlich unter Anarchismus vorstellen mag!? Der Anarchismus trägt sich ja nicht mit der Idee, irgendein Gesellschaftszustand dem Volke aufzuzwingen; was er verlangt, ist einfach die Wegräumung der gesetzlichen Hindernisse, welche die freie Entwicklung eines bessern Gesellschaftszustandes als der heutige unmöglich machen. Diese gesetzlichen Hindernisse, deren Beseitigung er anstrebt, sind die die Ausbeutung der Arbeit zur Folge habenden Privilegien und Monopole, der Staat. Er verlangt die Abschaffung dieser Hindernisse, damit die Entwicklung in der Richtung eines höheren Gesellschaftszustandes um so rascher vor sich gehen könne. Dieser Entwicklungsprozess wird voraussichtlich auch unter den veränderten und günstigeren Bedingungen langsam genug vor sich gehen, aber wir setzen unser Vertrauen auf allen Fortschritt ausschliesslich in die natürlichen Agentien der Freiheit und es ist uns noch nie auch nur im Traume eingefallen, der Volksinitiative vorzugreifen. Das ist vielmehr eine Sünde, die dem „Freidenker“ selber anhaftet. Er setzt kein Vertrauen in den langsamen, im Zustande der Freiheit vor sich gehenden und ausschliesslich durch die tausendfachen Agentien der Privatinitiative zu fördernden Fortschritt; er verlangt, dass der Staat sich quasi in eine Moralbehörde umwandle und dem Fortschritt durch Gewalt Vorschub leiste. Im Interesse von Freiheit, Bildung und Wohlstand für alle würde er mich zwingen, öffentliche Schulen, Museen, Bibliotheken, Theater und wer weiss was nicht alles erhalten zu helfen. Und dabei erhebt er gegen die Anarchisten den Vorwurf, der Volksinitiative vorgreifen zu wollen, – gegen die Anarchisten, welche einzig und allein die erzwungene Tributpflichtigkeit der Arbeit zu Gunsten der privilegierten Klassen bekämpfen, für die tausendgestaltige Privatinitiative freies Feld fordern und allen Zwang über die Grenze der Sicherung des auf der Arbeit begründeten Eigentums wie der gleichen Freiheit aller hinaus und im Interesse auch der sonst an und für sich gerechtfertigtsten Zwecke strengstens verurteilen!
Ich eile zum Schluss. Aber es ist noch ein Punkt in der Besprechung, welche der „Freidenker“ Libertas zuteilwerden lässt, der meine Richtigstellung herausfordert. Hätte irgendein anderer Mensch meine Auslassungen über Stimmzettel und Dynamit in Nummer 3 dieses Blattes in der Weise des „Freidenker“ kommentiert, so würde ich zum mindesten einen gelinden Zweifel in seine intellektuelle und moralische Integrität setzen müssen. Wie konnte Herr Boppe nach Durchlesen jenes Artikels die Behauptung übers Land verbreiten, dass ich für Dynamit sei, nicht allein, um einen Willkürherrscher zu stürzen oder um Press-, Rede- und Agitationsfreiheit herzustellen, sondern auch um „schliesslich doch gewiss jenes anarchistische Freiheitsideal zu sichern, welches dem Einzelnen schrankenlose Freiheit insofern wenigstens sichert, dass sein Tun und Lassen keinem Zwang irgendwelcher Art, auch nicht solchem, wie ihn jede Organisation zur Erreichung oder Sicherung gewisser Zwecke in Form von zum voraus bindenden Verpflichtungen voraussetzt, unterworfen ist“, etc. Wie konnte sich der „Freidenker“ zu einer solchen Verdrehung und Fälschung meines Standpunkts herbeilassen? Hatte ich nicht die Grenzen genau angegeben, innerhalb welcher ich die Anwendung des Dynamits rechtfertigte, und hatte ich nicht ausdrücklich betont, dass das Wesen des Anarchismus, sofern es sich um den positiven Teil desselben handle, alles Operieren mit Gewaltmitteln ausschliesse? Hatte ich es nicht klargemacht, dass die Verwirklichung des anarchistischen Ideals ausschliesslich der friedlichen Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens im Zustande der Freiheit überlassen werden müsse? Nach dem „Freidenker“ verpönt Libertas den Stimmzettel, weil er „eine verabscheuungswerte staatliche Erfindung“ sei und die „vorerstige“ Anwendung des Dynamits aus Humanitätsgefühl. Ist das der Wahrheit gemäss? Hatte ich nicht andere, und zwar bessere Gründe für unsere Verwerfung dieser Dinge angegeben? Hatte ich nicht unsere Verwerfung von Dynamit wie Stimmzettel auf die Tatsache gegründet, dass diese Dinge an und für sich die Herausbildung des Ideals der Freiheit nicht zu fördern vermögen, aus inneren Gründen nicht, weil die gesellschaftliche Entwicklung wesentlich andere Agentien bedinge?
Doch hier muss ich abbrechen. Vorläufig spreche ich dem „Freidenker“ das Recht ab, eine Sache zu definieren und auszulegen, ehe er sie verstehen gelernt hat, und ich gebe mich der Hoffnung hin, dass, wenn er sich das nächste Mal mit Libertas befasst, er ihrem Streben ein grösseres Verständnis entgegenbringen möge.
G.S.
(Libertas 5, Samstag, 19. Mai 1888, S. 5 und 8.)
Anmerkungen
- Zu Herrn Boppe und dem „Freidenker“ vgl. die Anmerkungen hier.
- Xenien (griechisch), ursprünglich „Gastgeschenke“, nannte der römische Dichter Martial (1. Jahrhundert n. Chr.) das 13. Buch seiner Epigramme, die als Begleitverse zu Geschenken gedacht waren. Goethe übernahm diesen Titel im ironischen Sinne für Distichen, die er gemeinsam mit Schiller verfasst hatte. Die Xenien erschienen in Schillers Musenalmanach auf das Jahr 1797. Die Manuskriptabschrift mit insgesamt 676 Xenien ist noch heute erhalten.