Der „Eine Mann“ – Paul Berwig

Der „Eine Mann“.

Eine typische Persönlichkeit, welche in den Augen vieler Menschen die Unausführbarkeit anarchistischer Ideen über jeden Zweifel demonstriert, ist der gefürchtete „eine Mann,” welcher sich beharrlich weigert, das zu tun, was die Anderen beschliessen: Wenn ein gemeinsames Picknick veranstaltet wird, so macht der „eine Mann“ nicht mit; wenn der vierte Juli gefeiert werden soll, so feiert er den fünften; wenn eine gemeinsame Landpartie gemacht wird, so weigert er sich, seinen Anteil an den Kosten zu tragen; wenn die Anderen ihre Entwicklung zu Engeln möglichst zu beschleunigen suchen, knöpft er seine teuflische Hülle nur um so fester zu, um ein Hinausschlüpfen unmöglich zu machen; dadurch verhindert er die ganze Menschheit, den Zustand zu erreichen, in welchem Gesetze nicht mehr nötig sind.

Es ist sonderbar, was für eine zähmende Gewalt die Gesetze auf den „einen Mann“ ausüben: Ohne Gesetze juckt es ihn beständig in den Fingern, um seinem Nachbarn Steine durch die Fensterscheiben zu werfen; sein Wohnhaus will er immer quer über die Strasse bauen; Eisenbahnen sind ihm so verhasst, dass er immerfort Dynamitbomben unter die Schienen legt; selbst die unbehinderte Passage auf den Strassen ärgert ihn, darum schaufelt er niemals den Schnee vor seiner Haustür fort. Weder die Furcht vor Prügel, noch vor Lynchen hält ihn ab, diese ewigen Schikanen gegen seine Mitmenschen auszuüben. Das Alles wird aber sofort anders, wenn Gesetze gemacht werden. Vor ihnen hat der „eine Mann“ einen übernatürlichen Respekt. Während tausend Lyncher mit einer um seinen Hals gelegten, über einen Baumast gezogenen Schlinge nur ein verächtliches Hohnlachen bei ihm bewirkt hätten, wird er zahm, reuig und zerknirscht, wenn der Arm des Gesetzes in Gestalt eines Konstablers sich nach ihm ausstreckt, wenn Advokaten, Richter und Geschworene die feierlichen Zeremonien eines gesetzlichen Prozessverfahrens vor seinen Augen aufführen. Sollte er es aber bis zu dem vorschriftsmässigen Galgen bringen, so bewirken die heiligen Schauer dieses erhabenen Instrumentes eine solche Umwandlung seines inneren Menschen, dass er eine gute Aussicht auf hohe gesetzliche Ehrenstellen im Jenseits mit auf den Weg nimmt.

Die Menschheit hat daher begründete Ursache, den Gesetzen jene abgöttische Verehrung zu erweisen, welche (von freiheitsschwärmenden Republikanern ausgeübt) dem profanen Blick ungläubiger Anarchisten als der reinste Fetischdienst erscheint: Was nützten uns ohne Gesetze alle Errungenschaften der Wissenschaft und Industrie? Wenn die Bewohner einer Stadt elektrische Strassenbeleuchtung einrichten wollten, so würde der „eine Mann“ unfehlbar die Leitungsdrähte durchschneiden. Der elektrische Feueralarm wäre seinetwegen auch nicht möglich; denn er würde den Apparat fortwährend in Bewegung setzen, sodass nur Verwirrung dadurch entstehen könnte. Selbst den ungestörten Genuss älterer Einrichtungen könnten wir dieses „einen Mannes“ wegen ohne Gesetze nicht länger haben. Die Gasbeleuchtung müssten wir aufgeben; denn der „eine Mann“ würde die Leitungsröhren anbohren. Wasserleitung wäre unmöglich; denn er würde immer da, wo eine Wasserleitung liegt, seinen Keller graben wollen. Wasserklosetts müssten abgeschafft werden; denn der „eine Mann“ würde die Ableitungsröhren verstopfen.

Am unangenehmsten wäre der Zustand für die Landspekulanten; denn wo immer sie einen Bauplatz, eine Farm oder ein Stück Waldland verkaufen wollten, müssten sie befürchten, dass gerade dort der „eine Mann“ seine Hütte aufschlagen, seine Viehweide oder sein Kartoffelfeld einrichten wollte. So haben wir denn sämtlich Ursache, den Gesetzen wegen ihrer zähmenden Einwirkung auf den „einen Mann“ dankbar zu sein; wir können unser Eigentum in Ruhe geniessen und Anteil an den fortschrittlichen Errungenschaften nehmen. Diejenigen aber, welche das Schicksal nicht mit den nötigen Mitteln ausgerüstet hat, um sich Zutritt zu solchen Dingen zu verschaffen, sehen sich durch das Gesetz wenigstens der Versuchung überhoben, die Rolle dieses „einen Mannes“ zu spielen, wodurch sie hier den Anschein guter Bürger auf sich nehmen müssten und im Jenseits ihren Platz unter den ewig Verdammten angewiesen erhalten würden.

Wie die Menschen, haben auch die Engel Ursache, dem Gesetz dankbar zu sein; denn wenn es dem „einen Mann“ gelingen sollte, in den Himmel zu kommen, ohne vorher gezähmt worden zu sein, würde er das ewige Halleluja durch Absingen von Gassenhauern, rein unmöglich machen.

Doch die Sache kann auch ganz anders aufgefasst werden, sodass nur der „eine Mann“ selber Ursache hätte, dem Gesetz dankbar zu sein; seine Lust, Andere zu ärgern und zu tyrannisieren, kann er mithilfe des Gesetzes weit besser befriedigen, als wenn er nur auf seine eigenen Kräfte angewiesen wäre. Wenn es sich, wie anfangs erwähnt, um Picknicks, Vierte-Juli-Feiern, Landpartien, etc., handelt, kann er ohne Gesetze die Anderen nur dadurch ärgern, dass er nicht mitmacht; wenn er sich aber auf das Gesetz stützen darf, kann er, wie im polnischen Reichstag, durch sein Veto auch die Anderen verhindern, das zu tun, was er nicht mag. Während er privat seine Mitmenschen nur durch Einwerfen der Fenster, Versperren der Strasse, Behinderung der Eisenbahnfahrt plagen könnte, darf er sich mithilfe des Gesetzes die Häuser, Strassen und Eisenbahnen aneignen und dadurch die Mitmenschen sich tributpflichtig machen. Bei dem erstgenannten kleineren Vergnügen müsste er immerhin die Gefahr des Durchgeprügelt- oder Gelynchtwerdens mit in den Kauf nehmen; aber bei dem letztgenannten grösseren Vergnügen überhebt ihn das Gesetz jeder Gefahr, dagegen dürfen sich die Mitmenschen nicht mehr ohne Lebensgefahr den Quälereien des „einen Mannes“ auf ländlich sittliche Weise widersetzen.

Es ist daher nicht zu verwundern, dass heutzutage der „eine Mann“ als der eifrigste Verteidiger von Gesetz und Ordnung auftritt und seine Mitmenschen in dem Glauben zu bestärken sucht, dass sie ohne diese Dinge gar nicht leben könnten. Das Durchschneiden von Leitungsdrähten, Anbohren von Gasröhren, Behindern der Wasserleitung, Verstopfen von Abzugskanälen sind doch nur armselige Vergnügen, wenn man sich auf alle diese Dinge ein Besitzrecht aneignen und dann seinen Mitmenschen die Alternative stellen kann, entweder zu bezahlen oder Nichts zu bekommen. Vom Standpunkte des „einen Mannes“ lässt sich daher die zärtliche Fürsorge für die Gesetze schon erklären, vom Standpunkte der Anderen aber nicht.

PAUL BERWIG.

(Libertas 1, Samstag, 17. März 1888, S. 8.)