Kein goldner Mittelweg – Louis de Gramont

Kein goldner Mittelweg.

[Gramont im L'Intransigeant.]

Ich kann die Leute verstehen, die sagen: „Die Freiheit ist eine Pest. Den Menschen Freiheit zu verleihen heisst, die Bestie loszulassen. Wir wollen die Freiheit nicht! Nieder mit dieser Torheit! Die Völker müssen regiert, geführt, geleitet, unterworfen, eingeschränkt und am Gängelband erhalten werden. Gibst du die Zügel frei, so ist Alles verloren. Es gibt nur ein System: die Autorität, – absolute, unbestrittene, unkontrollierte Autorität. Das Volk besteht aus Kindern, die unter Vormundschaft stehen müssen. Darin allein ist seine Sicherheit; nur so kann es leben und gedeihen, vor inneren wie äusseren Gefahren bewahrt und gegen seine Feinde wie gegen sich selbst geschützt werden.“

Eine derartige Sprache hat zweierlei Vorzüge. Sie ist deutlich und sie ist logisch. Die Theorie, die sie ausdrückt, ist eine fassbare Theorie. Ich halte sie nicht für eine gute; ich bekenne mich zu einer Ansicht, die ihr diametral entgegengesetzt ist. Aber ich kann es ganz gut verstehen, wie die von mir angeführten Ideen gewissen Intelligenzen als die richtigen erscheinen. Unglücklicherweise werden politische Wahrheiten nicht mit derselben Beweisführung erhärtet wie z. B. geometrische Wahrheiten; und obgleich es keinem Menschen je einfallen würde, zu behaupten, dass die Summe der Winkel eines Dreiecks nicht gleich zwei rechten Winkeln sei, so würde er doch stundenlang um die Frage herumstreiten, ob die Autorität der Freiheit vorzuziehen sei oder umgekehrt.

Diese beiden Menschenklassen, – die, welche die Freiheit wollen und die, welche auf der Autorität bestehen, – können sich nicht gleichmässig im Rechte befinden; ist die eine im Recht, so muss die andere notwendigerweise im Unrecht sein. Aber es muss zugegeben werden, dass sich beide gleichmässig mit sich selber in Übereinstimmung befinden und von ihren Voraussetzungen, von ihren Vordersätzen logische Schlüsse ziehen.

Was mir wunderlich vorkommt, ist, dass es jene Klasse gibt, welche manchmal als die „glückliche Mitte“ bezeichnet wird und welche ich, so es gefällt, als die Klasse bezeichne, die man in Bausch und Bogen betrachten muss; das sind die Leute, welche die sich ausschliessenden Gegensätze der Freiheit und Autorität zu versöhnen und ein System zu schaffen hoffen, indem sie von jedem ein bisschen nehmen und zusammenschmieden. Als ob solches Zusammenschmieden möglich wäre, als ob widerstrebende Teile zusammenhalten könnten!

Der Mann, der sagt: „Ich bin für Freiheit, aber nicht für Zügellosigkeit“, oder wieder: „Ich bin für Autorität, aber nicht für Absolutismus!“ merkt es nicht, dass er eine so phantastische Unterscheidung macht, dass es unmöglich ist, in Wirklichkeit danach zu handeln.

In der Tat, wie, durch welch feines Verfahren kann die Stelle, der Punkt, die Grenzlinie bestimmt werden, wo die Freiheit aufhört und die Zügellosigkeit beginnt? Durch Zuhilfenahme welches unfehlbaren Zeichens kann es festgestellt werden, ob eine gegebene Handlung legitim, autoritär oder fluchwürdig arbiträr ist?

Nehmen wir ein Beispiel, und um die grösstmögliche Unparteilichkeit zu bewahren, wollen wir eins ausserhalb des Gebiets der Politik nehmen. Sie anerkennen, sagen Sie, die Freiheit der Feder, aber Sie wünschen, mit den Nachteilen derselben aufzuräumen? Sie hat einige, sie muss einige haben, weil sie Menschen erteilt ist, die wesentlich schwache und unvollkommene Geschöpfe sind. Einer der Nachteile besteht darin, dass sie die Publikation von Werken erlaubt, in welchen der Wohlanständigkeit kein Respekt erzeigt wird. Was wollen Sie nun tun?

Sie würden die Bücher proskribieren, die nach Ihrer Meinung die öffentliche Moral gefährden? So sei es. Woran werden Sie sie erkennen? Wieweit wird sich Ihre Toleranz erstrecken? Wo wird sie aufhören? An welchem Punkte der Gemeinheit werden Sie Ihre Anklage erheben? Wie werden Sie ein künstlerisches oder wissenschaftliches Werk unterscheiden von einer einfachen schmutzigen Spekulation? Durch seinen Stil? Und wer soll dann darüber entscheiden? Ausserdem, Alles ist relativ. Ein Buch, das in gewissen Händen gefährlich ist, ist gar nicht so in andern. Es gibt medizinische Bücher, welche es sehr unklug wäre, in die Hände junger Mädchen zu geben. Nichtsdestoweniger ist es notwendig, dass sie geschrieben und in freien Umlauf gesetzt werden.

Wenn wir uns auf diesen Weg begeben, wohin wird das uns führen? Dahin, -zur gerichtlichen Verfolgung von „Madame Bovary“, ein Meisterwerk, völlig keusch in Form und tief streng in den Prinzipien. Tatsache ist, dass es kein Kriterium, kein Mittel gibt, um die Grenzlinie zwischen Freiheit und Zügellosigkeit zu bestimmen.

Dass die Freiheit missbraucht werden kann, ist sehr wahr. Die Autorität hat auch ihre Missbräuche. Aber ist nicht die Freiheit mit allen ihren Nachteilen von grösserem Wert für uns als die Autorität mit allen ihren Nachteilen? Darin besteht die ganze Frage. Die Erwartung zu hegen, die Autorität mit der Freiheit so zu verschmelzen, dass wir nur die Vorteile beider ohne die Nachteile beider haben sollen, ist trotz seines praktischen Anscheins das Chimärischste aller Utopien.

Eine Wahl muss getroffen, Kompromisse und Unterscheidungen müssen beiseite gelegt und Stellung muss genommen werden auf der einen oder andern Seite, auf der Seite der absoluten Autorität oder der der schrankenlosen Freiheit.

(Libertas 2, Samstag, 7. April 1888, S. 1.)

Anmerkungen

Louis de Gramont (1854–1912) war ein französischer Journalist und Dramatiker, ab 1890 war er dann sogar Redakteur der Tageszeitung L'Intransigeant.