Kopf und Herz – Emma Heller Schumm
Kopf und Herz.
Dass das Gefühl in Sachen des Verstandes nicht selten eine entscheidende Stimme hat, dem Denkenden und Fühlenden oft unbewusst den Ausschlag gibt in Fragen, die lange Zeit das Denkvermögen in Anspruch genommen haben, ist eine bekannte Tatsache. Wie oft mag es nicht schon den Stab über den Anarchismus gebrochen haben, selbst da, wo die kolossale Begriffsverwirrung, die der Name nun einmal hervorgerufen hat, schon einiger Klarheit gewichen ist, und sogar noch da, wo dem Prinzip der unbedingten individuellen Freiheit auf politischem und ökonomischem Gebiete bereits mit vielem Verständnis entgegengekommen wird.
Auch geht es nicht nur den Verstand an, denn mehr noch als die Religion – was man so darunter versteht, der man so grosse Konzessionen von der Gefühlsseite unserer Natur machen zu müssen wähnt, geht dieses Prinzip, in seiner praktischen Anwendung, das Gefühl an. Den Verstand brauchen wir eigentlich nur, um das Gebiet gründlich zu erforschen. Haben wir uns dann über die klimatische Beschaffenheit und ausreichenden materiellen Lebensbedingungen beruhigt, tritt das Gefühl vor mit der Frage: „Möchtest du in dem neuen Lande deine Heimat aufschlagen, wirst du dich darin auch gemütlich wohlfühlen können?“ Dass die Antwort auf diese Frage für die Annahme oder Verwerfung des Prinzips von ganz bedeutender Wichtigkeit ist, ist am Ende natürlich; wie kommt es aber nur, dass dieselbe, wie es scheint, so häufig verneinend ausfällt?
Doch nur daher, dass die Inkrafttretung dieses Prinzips – die theoretische Annahme ist das Wenigste – eine völlige Revolution unseres Fühlens, mehr noch unseres Handelns bedingt. Die süssen Gewohnheiten, die Gewohnheit der Unselbstständigkeit, die Gewohnheit des Gehorsams, die Gewohnheit des geduldigen Gehorchens, dass allen diesen muss entsagt werden, darüber kommen wir im Geiste nicht hinweg, praktisch werden sie die grössten Schwierigkeiten verursachen. Aber auch die Gewohnheit der Hingebung, der Nächstenliebe, das süsse Gefühl der Zusammengehörigkeit, das nirgends so gut als in der Abhängigkeit zu gedeihen verspricht, auch diese Gefühle der reinen Menschlichkeit fürchten wir zu verlieren, indem wir zur vollen Freiheit wie sie die Anarchisten verstehen, fortschreiten und in welcher der Wahlspruch zu gelten scheint: „Jeder für sich und der Teufel hole den Letzten.“
Aber, dass der Teufel den Letzten nicht holen wird, dafür hat schon die Natur gesorgt, die das Liebebedürfnis der Menschen zu einem ihrer Gesetze gemacht hat, so stark, dass selbst die der Herrschlust entsprungenen menschlichen Gesetze ihm nichts anhaben konnten. Die Menschen werden sich immer lieben, immer mitfühlend sein, und wer schon einmal mit diesem neuen Menschenschlag, der die individuelle Freiheit auf sein Panier geschrieben hat, in nähere Berührung gekommen ist, wird wissen, dass auch sie es können und dass alle der aufopfernden Hingebung gegen ihre Nächsten nicht unfähig sind.
Es ist gerade, weil sie die Menschen lieben, die individuellen Menschen, nicht die Menschheit als Abstraktum, dass sie Individualisten sind. Sie stellen aber höhere Ansprüche an ihre Liebe; sie wollen dieselbe rein erhalten von eigennütziger Beimischung, sie wollen ihre Selbstachtung wahren, indem sie den Gegenstand ihrer Liebe auch als freies, selbstherrliches Wesen achten zu können verlangen. Es mag sein, dass es uns diesem höheren Ideal gegenüber fröstelt, weil wir es noch nicht ganz begriffen haben und noch kein Zutrauen zu ihm fassen können. Alles Fremde lässt uns nicht nur kalt, es fröstelt uns an. Wir können nicht unsere ganze Denk- und Fühlweise aus dem Boden, in dem sie gekeimt und gewachsen, herausreissen und gleich wieder auf neuem Felde feste Wurzeln fassen. Die Heimat ist uns mit allen ihren Mängeln ans Herz gewachsen. Verpflanze den Eingeborenen einer trostlosen Einöde in ein sonniges, blühendes Tal und die Sonne wird ihm zuerst kalt, die Blumen und die Vögel inhaltslos erscheinen; er wird Heimweh nach seinen kahlen Triften haben. Kehrt er aber nach Jahren zurück, ist ihm die heimatliche Einöde eben eine Einöde, und die blumige Aue wird nicht nur seinem Verstande, sondern auch seinem Herzen teuer geworden sein.
Es scheint auch dem Christen, dem der Boden seines alten Glaubens unter den Füssen zu wanken beginnt, Alles in einem Stadium der Auflösung begriffen zu sein. Sein Zweifel vergiftet ihm alle Freuden des Lebens. Er ist mit sich und der Welt zerfallen. Er fragt sich besorgt: Was wird aus meiner Nächstenliebe, meiner Liebe zum Guten und Schönen, wenn ich keinen Glauben mehr habe? Hat das Dasein dann noch überhaupt irgendwelchen Wert? Hat er sich aber erst einmal zur völligen Klarheit durchgerungen, können keinerlei Zweifel mehr seinen Unglauben erschüttern, dann kommt ihm auch der innere Frieden, die Freude am Dasein wieder. Er findet, dass sein und seiner ungläubigen Mitmenschen Herzen noch so warm schlagen, wie sie als Christenherzen geschlagen haben, und er fasst neuen Mut.
In gleicher Weise bricht es sich nicht so leicht mit den fleisch- und blutgewordenen Ansichten über Staat und Gesellschaft; zumal wenn die neue Anschauung auch gar zu radikal an Allem rüttelt und nichts bestehen lassen will, was ehedem für heilig gegolten hatte. Auch Ketten brechen nicht, ohne Wunden zu hinterlassen, und das grosse Recht der Individualität an Alles, was ihr nötig ist, um Alles zu werden, was sie werden kann, und die Notwendigkeit mit „jeder Autorität zu brechen, um dieses Recht zu erobern,“ stellt solch strenge Anforderungen an das Herz, ja es scheint das Knüpfen neuer Herzensbanden von vornherein zur Unmöglichkeit zu machen. Aufgrund der alten allerdings; glaubt man aber, dass in der neuen Gesellschaftsordnung das Herz leer ausgehen wird, dass alle Gemütlichkeit, aller Gemeinsinn, alle Zärtlichkeit, alle Hingebung aus der Welt verschwinden und jede Regung des Herzens wenigstens nur eine flüchtige und vorübergehende sein wird, so verkennt man die menschliche Natur so sehr wie die gläubigen Christen sie verkennen, die von dem Verfall des Christentums den gänzlichen moralischen Verfall der Menschheit befürchten, und wie jene sie verkannten, die in der geistigen Entwicklung der Frau über den Horizont der Küche und Kinderstube hinaus, den Untergang alles Weiblichen erblickten.
So natürlich und erklärlich es also auch ist, dass wir uns selbst dann noch nicht für die neue Lehre erwärmen können, wenn bereits der Verstand seine Argumente gegen dieselbe erschöpft hat, so unwürdig ist es aber eines wirklich denkenden Menschen. Der ist kein echter Freund der Wahrheit und des Rechts, der ihnen nicht unbedingtes Vertrauen entgegenbringt, das Vertrauen, dass sie sich nie und nimmer an der menschlichen Natur versündigen können; tun sie es, so sind sie eben nicht Wahrheit und Recht und wir müssen anderweitig nach ihnen suchen.
Und was ist denn einfacher, als dass in einem Zustande der Freiheit, wo des Menschen Natur dessen einziger Gebieter ist, die Bedürfnisse eben dieser Natur, und zumal die Herzensbedürfnisse, sich leichter werden befriedigen lassen, als in irgendeinem anderen Zustande? Drum frisch darauf los, Menschenherz, du ungestümes, mache deine Ansprüche geltend. Plädiere deine eigene Sache.
E.H.S.
(Libertas 1, Samstag, 17. März 1888, S. 5 und 8.)