Zur Klarstellung – George Schumm
Zur Klarstellung.
Nach der herrschenden Ansicht ist Anarchismus gleichbedeutend entweder mit Chaos, Mord und Raub oder aber mit eitler Schwärmerei. Dass der Pöbel an dieser Auslegung des anstössigen Wortes hartnäckig festhält, kann ich verstehen; dass aber auch ehrliche und im Allgemeinen intelligente Volkslehrer und Zeitungsschreiber dieselben Begriffe mit dem Worte verbinden wie der Pöbel, kann ich nicht verstehen. Und gleich von vornherein bestreite ich diesen Volkslehrern und Zeitungsschreibern die Zulässigkeit, den Begriff einer Sache sich beim Pöbel einzuholen. Will ich etwas über das Gesetz der Schwere lernen, so wende ich mich an Newton und nicht an die Leute, die mit sicherem Instinkt in der Verbreitung der neuen Lehre eine Gefahr für den sie ernährenden Aberglauben erblicken. Will ich mich bezüglich der Deszendenztheorie informieren, so gehe ich zu Darwin und Hæckel und nicht zu den Professoren im Solde Derjenigen, die nichts als ihre Ahnen besitzen, worauf sie stolz sein können. Und um den Anarchismus als das zu erfassen, was er in Wahrheit ist, frage ich, falls mir die eigene Beobachtung und das eigene Denken keine befriedigende Antwort zu geben vermag, bei Proudhon, Josiah Warren, Herbert Spencer, Lysander Spooner, Max Stirner u. A. an und verschliesse mich gegen die Verdrehungen und Verleumdungen desselben seitens Derjenigen, die ganz richtig in ihm den unerbittlichen Feind ihrer Privilegien wie den strengen Strafrichter ihres frevlen Tuns und Treibens sehen.
Das ist gerade das Traurige, dass sich die Bekämpfer des Anarchismus der Mühe nicht unterziehen, denselben auf seinen Kern zu prüfen, oder sich auch nur mit den Werken seiner grossen und genialen Fürsprecher vertraut zu machen, sondern sich willkürlich einen anarchistischen Strohmann zurechtzuzimmern und dann wacker auf denselben losschlagen. Damit beweisen sie nur, wie wenig sie von der Sache verstehen, die sie so von oben herab abzutun sich unterfangen. Hier denke ich an einen Mann, der den Anarchismus allwöchentlich vernichtet und doch noch nie ein anarchistisches Werk gelesen, geschweige denn gewissenhaft studiert hat. Und dieser Mann ist der Typus einer ganzen Klasse. Wäre es nicht löblicher, wenn er die Sache, die er nicht versteht, auf sich beruhen liesse, bis er einmal wirklich „hinter sie gekommen“ wäre?
Wäre dieser Mann, den ich im Geist vor mir sehe, in der Bildung seines Begriffs vom Anarchismus gewissenhaft zu Werke gegangen, so müsste er wissen, dass die Gewalt nicht nur nicht ein integrales Moment desselben bildet, wie er seinen Lesern nicht müde wird zu verkünden, sondern von ihr geradezu ausgeschlossen ist. Die Gewalt ist vielmehr das eigentliche Wesen des Staates, und die Anarchie ist die Verneinung der Gewalt, mithin des Staates. Die Tatsache, dass manche Anarchisten der herrschenden Gewalt des Staats ihrerseits wieder Gewalt entgegenstellen, macht die Gewalt doch gewiss nicht zu einem wesentlichen Bestandteil des Anarchismus. Die Frage, wie man die Gewaltherrschaft des Staates am erfolgreichsten bekämpfen kann, hat mit der Frage nach dem Anarchismus selber gar nichts zu schaffen.
Und noch einmal, wäre der Mann, den ich im Geiste vor mir sehe, in der Bildung seines Begriffs vom Anarchismus gewissenhaft zu Werke gegangen, so müsste er ebenfalls wissen, dass derselbe, weit entfernt, den Boden des Tatsächlichen verlassen zu haben, wie er gleichfalls seinen Lesern beizubringen versucht, gerade auf demselben fusst und auf nichts weniger abzielt als ein unerreichbares Wolkenkukuksheim. Der Anarchismus gibt sich bezüglich der menschlichen Natur keinen Illusionen hin. Ihm sind die Gebrechen und Schwächen derselben so bekannt wie nur irgendeinem Menschen mit offenen Sinnen. Er setzt keine vollkommenen Menschen voraus, wie ihm fälschlich untergeschoben wird, er postuliert die Selbstherrlichkeit des Individuums und die Freiheit als unumgängliche Bedingung der fortschrittlichen Entwicklung des Einzelnen wie der Gesellschaft. Diese Entwicklung vollzieht sich in Gemässheit mit natürlichen Gesetzen und weist alle willkürliche Einmischung fremder Autorität, wie immer sich dieselbe auch motiviere, entschieden zurück. Das Mass von Ordnung, das wir heute haben, ist nicht irgendwelcher gesetzlichen Feststellung zu Gute zu schreiben, sie ist wesentlich das Resultat eines natürlichen, durch Jahrtausende sich erstreckenden Entwicklungsprozesses. Und wenn sich die heutige „Ordnung“ in immer höherem Grade als unsicher und hinfällig zu erweisen droht, so ist das einzig dem Umstand zuzuschreiben, dass die Menschen aus guten wie schlechten Absichten dem natürlichen Verlauf der Dinge etwas am Zeuge flicken wollten und demselben grosse Hindernisse in den Weg stellten. Daraus folgt von seiten die Forderung nach der Beseitigung dieser Hindernisse oder nach der Abschaffung des Staats, in welchem die die freie Entwicklung hemmenden Mächte ihre Verkörperung finden. Worin die Forderung des Anarchismus gipfelt, wenn auch nicht, wie ich hier betone, in rousseau'schem Sinn, ist in den Worten des Telldichters die Rückkehr des alten Urstands der Natur, wo Mensch dem Menschen gegenübersteht, – d. h. frei von allen kirchlichen und staatlichen Satzungen.
Die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung deutet auf die Auflösung des politischen Staats im ökonomischen Organismus. Der Anarchismus stellt Produktion und Konsumption, Handel und Wandel, Kunst und Wissenschaft, Literatur und Erziehung der Privatinitiative anheim und überlässt ruhig die Sorge für die immer höhere Entfaltung und Vervollkommnung dieser Dinge dem freien Übereinkommen der dabei interessierten Individuen. Er hat die unerschütterliche Überzeugung, dass das gemeinsame Interesse, welches nicht weggeleugnet werden kann, sondern mit der wachsenden Intelligenz immer offenbarer werden wird, die Menschen fester aneinander anschliessen wird als aller gesetzliche und polizeiliche Zwang. Laissez-faire ist sein leitendes Prinzip, aber das bedeutet nicht, um mich der Worte eines neueren Schriftstellers zu bedienen, wie die Gegner verächtlich hinzuwerfen pflegen, Anarchie im üblen Sinne des Wortes, oder freies Schalten aller bösen Triebe der menschlichen Gesellschaft, sondern die Freiheit ist auch hier geregelt, aber von einem anderen Gesetzgeber als dem hinter dem grünen Tisch sitzenden, nämlich von den ewigen und unabänderlichen, im freien entwickelten Verkehr sich deutlich offenbarenden Naturgesetzen, denen alle Interessenten bei Strafe der Vernichtung ihres Wohlergehens sich unterwerfen müssen.
Dieser Entwicklungsprozess in Anarchismus wird nun voraussichtlich nicht so friedlich verlaufen, wie es zu wünschen wäre. In dem Grade, in welchem er infolge des erwachenden Volksbewusstseins vorwärts schreitet, wird er unvermeidlich in immer heftigeren Konflikt geraten mit der herrschenden Gewalt, die er notwendig bedroht und auf deren gänzliche Vernichtung er abzielt. Aber so lange uns das Recht der freien Presse und der freien Rede unbenommen bleibt, wird sich Libertas mit der energischen Betreibung der geistigen Agitation begnügen, die Anwendung aller Gewaltmittel zwecks Beseitigung der herrschenden Ordnung verwerfen und sich auf die Macht des passiven Widerstands verlassen. Mit der Beseitigung der geistigen Misere und Versklavung, die wir mittels der Weckung der Intelligenz und eines erleuchteten Egoismus anstreben, zerstören wir zugleich auch die Pfeiler der herrschenden Gewalt und verursachen den Zerfall der ökonomischen Misere. Wenn das auch langsam geht, so gedulden wir uns bei dem Gedanken, dass wir in dem sich vor unseren Augen abspielenden Entwicklungsprozess einen mächtigen Bundesgenossen haben und der Erreichung des gesteckten Zieles versichert sein dürfen.
Und so begibt sich denn Libertas an ihre Aufgabe mit „dem Ernst, den keine Mühe bleichet.“
G.S.
(Libertas 1, Samstag, 17. März 1888, S. 1.)