Filmbesprechung: Anselm – Das Rauschen der Zeit

“Anselm – Das Rauschen der Zeit” heißt Wim Wenders' Hommage an den Universalkünstler und persönlichen Freund Anselm Kiefer. Wenders und Kiefer kennen einander seit gut 30 Jahren. Beide sind 1945 geboren und haben ähnliche Nachkriegserfahrungen machen können. Das Schweigen über die Vergangenheit war Kiefers Sache nie. Seine Kunst sollte der Gesellschaft durchaus auch einen Spiegel vorhalten. Wim Wenders führt sein Publikum allerdings nicht in eine Biographie ein, sondern ermöglicht ihm, zumal in 3D, so wie er es bereits bei seinem Film über die Tänzerin und Choreographin Pina Bausch gemacht hatte, das monumentale Werk des Künstlers sinnlich zu erfahren.

“Anselm” mag als Dokumentarfilm gehandelt werden, aber vielmehr ist es ein Essay, ein Experimentalfilm. Gleichzeitig ist es aber auch in Teilen ein Porträt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert. Anselm Kiefers Themen des Verfalls und des Krieges, des Todes und der Zerstörung werden hier mit der gesichtslosen Figur der idealisierten Frau, herunter gebrochen auf ein Brautkleid, eingeführt. Es sind flüsternde Stimmen, die das Publikum sowohl verwirren als auch hypnotisieren. Erst dann geht es in einer der Fabrikhallen, die Kiefer gemietet hat, um sie als Atelier zu nutzen. Riesige Räume, die nur die Kamera aus der Höhe fassen kann, sonst hätte man das Gefühl, man gehe zwischen den wuchtigen Werken, die nicht nur aus Farbe, sondern aus organischen Materialien wie Sand und Stroh und Stoff bestehen, verloren.

Der Meister selbst radelt durch diese Hallen und radelt quasi auch durch das, was man eine biographische Einordnung nennen könnte. Doch Wenders fordert sein Publikum subtil. Er erklärt den Künstler nicht, er erklärt auch die Werke nicht. Er ermöglicht jedoch eine Interpretation. Man schaut Kiefer beim Denken zu und manchmal bedeutet das auch, dass man ihn auf einer Wiese mit einer Sonnenblume sieht. Wenders führt kein Interview. Kiefer erklärt sich auch nicht selbst. Um trotzdem auch auf die Vergangenheit zu kommen, springt sein Sohn Daniel Kiefer ein und spielt ihn als jungen Mann zu einer Zeit, als dieser sich durchaus skandalträchtig gegen das Vergessen stemmte. Wenders geht sogar noch einen Schritt zurück und lässt ein Kind (seinen Großneffen Anton Wenders) den nachdenklichen und staunenden Anselm der Nachkriegszeit spielen, als die Spuren des Krieges und seiner Verwüstung noch alles beherrschten.

Es ist nicht nur allein die 3D-Technik, die Kiefers Kunst auf eine Weise erfahrbar macht, sondern auch die Perspektive, die die Kamera von Wenders treuen Weggefährten an selbiger, Franz Lustig, und dem Stereografen Sebastian Cramer, einnimmt, wenn sich Bildelemente überlagern oder den Künstler winzig neben seine Bilder werden lässt. Darüber hinaus wendet Wim Wenders eine Tonspur mit Geräuschen, Flüstern, Originalstimmen mit Zitaten von Inspiratoren wie Paul Celan und Ingeborg Bachmann und einer suggestiven Musik an, die Kiefers Sinne für Mythos und Geschichte spiegeln.

“Anselm – Das Rauschen der Zeit” ist im Wesen eine poetische Annäherung an Anselm Kiefer. Eine Museumsausstellung könnte Anselm Kiefer nur in Teilen gerecht werden. Wim Wenders hat dafür die Leinwand und er weiß sie zu nutzen.

Eneh

Dokumentarfilm Originaltitel: Anselm – Das Rauschen der Zeit Regie: Wim Wenders Kamera: Franz Lustig Schnitt: Maxine Goedicke Musik: Leonard Küßner Mit Anselm Kiefer, Daniel Kiefer, Anton Wenders Deutschland 2023 93 Minuten Verleih: DCM Kinostart: 12. Oktober 2023 Festivals: Cannes 2023 / Hamburg 2023 / Zürich 2023 TMDB

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